Tessiner Braindrain: Bleiben oder gehen?

Nr. 34 –

Vor allem junge Menschen kehren dem Kanton Tessin den Rücken. Zu Besuch bei denen, die noch dort sind.

Florian A. und Laura Riget
Viele ziehen für immer weg, sie kamen nach der Ausbildung zurück ins Tessin: Florian A. und Laura Riget auf dem Campus der Universität der italienischen Schweiz in Lugano.

Der Unfall im Gotthardbasistunnel vor zwei Wochen rückt das Tessin wieder in alte Ferne zur Restschweiz. Wer seither aus dem Norden in die «Sonnenstube» reist, sitzt eine Stunde länger im Zug. Und kann dafür auf der alten Strecke die wilde Berglandschaft bewundern. Noch rund ein halbes Jahr soll es dauern, bis der Schaden behoben ist – und Zürich wieder in zwei Stunden von Lugano aus erreichbar ist.

Eigentlich ist der Kanton verkehrsmässig gut erschlossen, es gibt Tessiner:innen, die täglich in die Deutschschweiz pendeln. Laura Riget ist im Tessin aufgewachsen und hat in Zürich Politologie studiert. Sie kehrte nach dem Studium nach Bellinzona zurück. Die 28-Jährige geniesst das entspannte Flair der italienisch geprägten Lebenskultur, hier ist ihr Lebensmittelpunkt, obschon sie in Bern und Zürich arbeitet. Eigentlich. Denn dank der digitalen Möglichkeiten kann die persönliche Mitarbeiterin der SP-Kopräsident:innen Mattea Meyer und Cédric Wermuth einen Teil ihrer Arbeit im Homeoffice erledigen.

Was sagt sie zum Thema Abwanderung? «Dem Tessin laufen die jungen Leute weg», «800 Jugendliche verlassen pro Jahr das Tessin», «Die Tessiner Bevölkerung wird immer älter – und weniger», lauten die dramatisierenden Schlagzeilen.

Gründe dafür gebe es mehrere, sagt Riget, die seit 2019 für die SP im Tessiner Grossen Rat politisiert. Sie verweist zunächst auf das tiefe Lohnniveau. Der Medianlohn ist mit rund 5500 Franken etwa 1000 Franken tiefer als in der übrigen Schweiz. Wobei in die Berechnung des Medianlohns auch die Löhne der 74 000 Grenzgänger:innen einfliessen. Deren Löhne sind gemäss dem Tessiner Amt für Statistik im Schnitt fast 1500 Franken tiefer als jene der Schweizer:innen, die durchschnittlich 6050 Franken verdienen. Ausserdem kennt das Tessin wie die Kantone Jura, Neuenburg und Basel-Stadt einen Mindestlohn, aktuell sind es neunzehn Franken pro Stunde.

Ein weiterer Grund für den Wegzug junger Leute seien die beschränkten Ausbildungsmöglichkeiten, sagt Riget. Zwar gibt es seit gut zwei Jahrzehnten in Lugano eine Universität und eine Fachhochschule, aber das Studienangebot ist (noch) nicht besonders breit. Viele, die deswegen fürs Studium nach Fribourg, Zürich oder Bern gehen, bleiben in der West- oder Deutschschweiz. Mittlerweile, sagt Laura Riget, «ziehen wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten auch vermehrt junge Berufsleute weg». Ausserdem haben junge Familien im Tessin einen schweren Stand. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein ungelöstes Problem. «In Kanton Tessin fehlen Kitaplätze», sagt Riget im Gespräch im Garten der Casa del Popolo gleich neben Bellinzonas geschäftigem Bahnhof.

An dieser Situation wird sich wohl so schnell nichts ändern lassen. Der Kanton ist konservativ und rechts. Der Wahlanteil der Linken (SP, Grüne und vier kommunistische Splitterparteien) liegt bei rund 25 Prozent. Den grossen Rest teilen sich FDP, Mitte, SVP und die rechtspopulistische Lega, die mit ihrer Anti-Grenzgänger:innen-Rhetorik gross geworden ist und die beiden bürgerlichen Parteien nach rechts gezogen hat. «Dieses Thema ist in der bürgerlichen Politik sehr präsent», sagt Riget. «Unsere politischen Gegner verkennen allerdings, dass ohne die Grenzgänger:innen etwa das Gesundheitswesen nicht mehr funktionieren würde.»

Die Jungpolitikerin sieht auch Chancen. Sie verweist auf das lebendige Start-up-Milieu. Demnächst soll dieses auf dem Areal der SBB einziehen. Noch wird dort das SBB-Industriewerk Officine betrieben. Und Riget erwähnt die Zusammenarbeit in der Forschung mit den Zürcher Hochschulen und der Universität Mailand. Diese müsse man noch forcieren.

Pulsierende Nachbarschaft

Im nahen Mailand gibt es eine pulsierende Start-up-Szene. Allein im vergangenen Jahr flossen in der Millionenmetropole 1,3 Milliarden Euro in solche Jungunternehmen. In der ans Tessin grenzenden Lombardei mit ihren zehn Millionen Einwohner:innen leben mehr Menschen als in der ganzen Schweiz, und die Region gilt als eine der innovativsten Europas. Im vergangenen Jahr betrug das Wirtschaftswachstum in der Lombardei über vier Prozent. Vom Pool gut ausgebildeter Italiener:innen profitiert auch das Tessin.

Grenzgänger:innen sind längst nicht mehr bloss einfache Arbeiter:innen. Der Journalist Alexander Grass, der eben ein kenntnisreiches Buch über seine Wahlheimat geschrieben hat («Grenzland Tessin», siehe WOZ Nr. 33/23), sagt: «Keine andere Grenzregion der Schweiz hat eine Millionenmetropole gleich ennet der Grenze, hier kann man unglaublich viele kluge Köpfe treffen, die Wirtschaftsleistung und das Kulturleben sind beeindruckend.» Davon profitiere der Kanton. Die Kehrseite sind Lohndruck und Verkehrsüberlastung im Grenzgebiet.

Die Tessiner Wirtschaft erfuhr schon im letzten Jahrhundert einen Wandel. Der Aufschwung nach dem Krieg katapultierte die arme, bäuerlich geprägte Region in die Moderne, und die Bergtäler leerten sich. Tourismus, Bauwirtschaft, arbeitsintensive Industrie, Finanzplatz und Treuhandwesen dominierten das Tessin. Aber trotz des Aufschwungs blieb die Produktivität im schweizweiten Vergleich gering. Und bis heute sind Tessiner:innen von Armut bedroht: Im Jahr 2020 galten 24 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet, doppelt so viel wie im Kanton Zürich.

Jetzt transformiert sich die Wirtschaft abermals. Die einst dominierenden Branchen schrumpfen. Tausende von Industriearbeitsplätzen sind verschwunden. Auch der Tourismussektor verliert an Bedeutung. 1970 zählte man im Tessin 3,8 Millionen Übernachtungen, 2022 erfasste das Bundesamt für Statistik noch 2,5 Millionen Logiernächte. Der Finanzplatz ist nach zahlreichen Mafia-, Finanz- und Geldwäschereiskandalen geschwächt. Arbeiteten vor dreissig Jahren noch 9000 Bankangestellte in der Branche, waren es 2018 nur noch knapp 5600.

Aber im Schatten dieser Entwicklung wandelte sich das Tessin im Lauf von zwanzig Jahren zum Biotechstandort. Im Jahr 2000 wurde in Bellinzona ein biomedizinisches Institut gegründet. Ab 2003 etablierte sich auf Betreiben des Onkologen und ehemaligen SP-Nationalrats Franco Cavalli das Krebsforschungsinstitut IOR (Istituto Oncologico di Ricerca). Seit 2020 sind beide Institute Teil der neu geschaffenen Fakultät für biomedizinische Wissenschaften an der Tessiner Universität.

Heute forschen im Kanton mehrere Hundert Wissenschaftler:innen in diesem Bereich. Hundert Biotechfirmen beschäftigen 1600 Mitarbeiter:innen. Der Journalist Alexander Grass sagt, im Tessin liege die Anzahl der neu angemeldeten Patente, gemessen an der Bevölkerungszahl, weit über dem Landesdurchschnitt. Angesichts dieser Entwicklungen ist er verhalten optimistisch. Der dramatisierenden Abwanderungserzählung begegnet Grass mit Skepsis.

Ungelöste Verkehrsprobleme

Auch der Mitte-Politiker Marco Romano sieht die Chancen. Aber er sagt, es gebe ungelöste Probleme, die die Bevölkerung zu Recht beschäftigten. Etwa die Pendlerströme, die die Strassen im Grenzgebiet verstopfen. Dabei wäre das ein lösbares Problem, aber der italienische Staat investiere zu wenig in dessen Bewältigung. «Auf Schweizer Seite ist die Verkehrsinfrastruktur sowohl beim ÖV wie auch bei den Strassen top», sagt der Nationalrat aus Mendrisio. «Aber was hilft das, wenn auf italienischer Seite eine anschlussfähige, moderne Infrastruktur fehlt?» Der Bund müsse mehr Druck auf Italien ausüben, findet er. Allerdings fehle es diesem weitgehend am Verständnis für die italienische Mentalität: «In Italien verhandelt man anders als in Bern.»

Romano hat angesichts der vielen Grenzgänger:innen Verständnis für Konkurrenzängste in der Bevölkerung. Der Druck auf die Löhne sei Tatsache. «Vor allem im Dienstleistungssektor ist das spürbar», sagt er. Die Zahl der Grenzgänger:innen nehme stetig zu. Romano kritisiert ausserdem Schweizer Grossbetriebe, die im Tessin Produktionsstätten unterhalten, allerdings tiefere Löhne als in der übrigen Schweiz bezahlen. Um dem Abwanderungstrend entgegenzuwirken, brauche es sozialpolitische Massnahmen, bessere Arbeitsbedingungen und den weiteren Ausbau des Ausbildungsangebots, fordert Romano. Er sagt aber auch: «Ich sehe den Trend zur Abwanderung nicht per se negativ. Wer weggeht, lernt neue Sprachen und sammelt Erfahrungen.» Kehrten die einen oder anderen wieder in die Heimat zurück, helfe das dem Tessin.

Auch der 31-jährige Florian A. ist nach dem Studium ins Tessin zurückgekehrt. Der Geograf arbeitet in einem international ausgerichteten Umweltbüro in Lugano, das unter anderem Niederlassungen in Mailand und Berlin betreibt. Er ist gewissermassen ein Mann der zwei Welten. Geboren ist A. im Tessin, seine Eltern stammen aber aus dem Thurgau, wo er drei Jahre seiner Primarschulzeit verbrachte.

Er fühlt sich wohl im Süden. Obwohl er auf der anderen Seite des Gotthards mehr verdienen könnte und dort das kulturelle Angebot grösser ist, will er nicht weg. «Ich fühle mich bei der Arbeit in einem tollen Team aufgehoben.» A. ist in seiner Abteilung der einzige Mitarbeiter mit Schweizer Pass. Was ihm ausserdem gefällt: Er ist schnell in den Bergen und fast so rasch am Meer.

Weniger gut gefallen ihm die hohen Mieten trotz grossem Leerwohnungsbestand, der Klientelismus in Lugano und der konservative Geist der Stadt. Er erinnert sich an die Schliessung des autonomen Kulturzentrums Molino (siehe WOZ Nr. 23/21). Die Lega habe die Schliessung zum Wahlkampfthema gemacht und die Betreiber:innen als  Grüsel verunglimpft, erzählt er. Es sei mitunter etwas eng hier, man kenne sich.

Es gibt also einen Zwiespalt. Dennoch geniesst er sein Leben im Tessin – eben haben Florian A. und seine Freundin eine schöne Wohnung mit Garten gefunden.