Jazz: Der Puls, der das Leiden überwindet

Nr. 21 –

Retro, frei, futuristisch: Der südafrikanische Schlagzeuger Asher Gamedze hat mit «Turbulence and Pulse» ein politisches Album gemacht, das Free Jazz und Hip-Hop gleichermassen mitnimmt. Damit ist er nicht allein.

Eigenständige Musikvideos für aktuellen Jazz, die auch noch etwas anderes als die Band im Studio zeigen, sind etwa so verbreitet wie improvisierte Musik in Telefonwarteschleifen. Man muss nur die richtige Firma finden: «Wynter Time» ist nun so ein seltenes Exemplar, es dauert neuneinhalb Minuten, wie das Stück des Quartetts mit zwei Bläsern des jungen südafrikanischen Drummers Asher Gamedze. Und die Firma ist International Anthem aus Chicago, das Label, das aufregenden Jazz etwa von Jaimie Branch oder Makaya McCraven veröffentlicht hat, den es stets auch in Richtung Punk, Hip-Hop und, bei aller Liebe zum Groove, ins Freie zog. Für Gamedzes nur streckenweise freies, zugängliches Album «Turbulence and Pulse» kooperiert das südafrikanische Label Mushroom Half Hour mit der medial stärker beachteten Marke aus Chicago.

Interessant ist das Video zu «Wynter Time» auch deshalb, weil es eine Frage aufzeigt, die man an das ganze Album stellen kann: Wie politisch kann Instrumentalmusik überhaupt sein? Die Schauspielerin Qondiswa James schlottert fieberhaft unter freiem Himmel, vor den Toren jener Baustelle in Kapstadt, wo Amazon ein afrikanisches Hauptquartier baut. Vermutlich stellt sie eine Ahnin der indigenen Bevölkerung dar, die Teile des bebauten Gebiets als heilig erachtet.

Man könnte nun sagen, das Bild laufe autonom zur instrumentalen Musik, die vom Aktivismus ja nichts wissen kann, weil es eben nur Töne sind, keine Texte. Gamedze sieht das vermutlich anders. Mit ihm und auch mit anderen Künstler:innen auf International Anthem, etwa Angel Bat Dawid, kehrt der historische Materialismus in den Jazz zurück. Einfacher gesagt: Es geht um die Überzeugung, dass die Musik selbst (das Material) die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Kritik daran darstellen kann.

Körper und Geist

Die Klarinettistin Angel Bat Dawid (siehe WOZ Nr. 3/21) hat Ende März ihr Album «Requiem for Jazz» um den aktivistischen Film «The Cry of Jazz» von Edward Bland gruppiert. Dieser fand 1959 den Marxismus im Jazz: In seiner strengen harmonischen Form führe der Jazz die Unfreiheit der Schwarzen auf, und Swing, diese Mischung aus Achteln und Triolen, sei die Entsprechung des Schwarzen Lebens, das sich immer in zwei Welten abspiele, einer weissen und einer Schwarzen.

Asher Gamedze greift nun auf eine postkoloniale Theoretikerin aus derselben Zeit zurück, denn sein Album «Turbulence and Pulse» ist Sylvia Wynter gewidmet, einer jamaikanischen Kulturwissenschaftlerin aus Kuba, die in England studiert hat und eine Pionierin postkolonialer Theorie nach Frantz Fanon war. Sie ist heute 94 Jahre alt, ihre wichtigen Schriften stammen aus den frühen sechziger Jahren, in denen sie die europäische, biologistische Trennung von Körper und Geist kritisiert, die sie zum einen mit der Aufklärung und zum anderen mit der Idee weisser Vorherrschaft verbindet.

In der locker-schleppenden Nummer am Anfang des Albums rezitiert Gamedze eine Art Manifest nach Sylvia Wynter. Es ist aber gar nicht so kompliziert, zumindest nicht in Gamedzes spirituell gefärbten Worten, die zuweilen vage sind, aber dafür verständlich. Etwa so: Es geht um verschiedene Formen von «time», was im Englischen mehr bedeutet als Zeit, nämlich auch Zeitmass, Taktgefühl, ein Gefühl für Beats. Gamedze verbindet Time als musikalisches Phänomen und als historische Zeit. Time im Jazz heisst: die Zeit dehnen, sie individuell gestalten und, ganz wichtig, es in der Gruppe tun. Hier geht es nicht um den strengen Schlag auf die Eins wie im Funk oder im Schlager. Zentral ist ein atmendes, gemeinsames Zeitgefühl. Und so, wie diese Musiker das verstehen, betrifft das auch die kollektive Gestaltung des Lebens, der Politik der Gegenwart und der Erinnerung.

Wer nach vorne zieht

So formelhaft diese demokratische Utopie klingen mag – in dieser Logik wäre Funk der Sound der Diktatur, was Adorno-gestählte Jazzfreund:innen sogar unterschreiben würden –, sie kann das Hörerlebnis leiten und viel Spass machen. Wer befindet sich gerade in welchem Taktmass, wer zieht nach vorne, wer nach hinten, wohin will die Band? Es hilft, dass Gamedze und Band eine tolle, transparente, freie und spielerische Musik machen, der man gerne auf ihren Wegen folgt und deren Witze man dabei auch zu verstehen beginnt.

Diese Ästhetik ist nicht neu im Jazz, sie steht in der Tradition des unerlösten Kampfs um Gleichberechtigung. Wiederholung ist diesem Kampf wesenseigen, Fortschritt und lineares Zeitdenken eher fremd. Es ist deshalb kein Widerspruch, dass vieles an die frühen Quartette von Ornette Coleman erinnert. Und doch klingt es auch anders, ruhiger und dennoch gespannter, gerade in den Drums. Vieles ruft den Blues und Folkmelodien auf. In den USA und erst recht in Europa würde sich die Musik wohl schneller ganz ins Freie bewegen, hier bleibt die Tradition hörbarer. «Turbulence and Pulse»: Die Turbulenz ist das Leiden an der Geschichte, der Puls die Veränderung, der Wunsch ihrer Überwindung.

Album-Cover «Turbulence and Pulse» von Asher Gamedze

Asher Gamedze: «Turbulence and Pulse». International Anthem / Mushroom Half Hour. 2023.