Ständeratswahl: St. Gallen stellt die Weichen

Nr. 16 –

Nach Paul Rechsteiners Rücktritt kommt es im Kanton St. Gallen zu einer folgenschweren Wahl. Kann Barbara Gysi (SP) den Ständeratssitz gegen den Angriff von ganz rechts verteidigen?

SVP-Programmchefin Esther Friedli und Gewerkschafterin Barbara Gysi
Stellen sich am 30. April der Stichwahl: SVP-Programmchefin Esther Friedli und Gewerkschafterin Barbara Gysi. Foto: Gian Ehrenzeller, Keystone

Am vergangenen Samstag, zwei Wochen vor dem zweiten Wahlgang für den neu zu besetzenden Sitz im Ständerat, erschien im «St. Galler Tagblatt» ein bemerkenswertes Inserat. Unter dem Titel «Esther Friedlis Wahl nützt Putin» warnte der bürgerliche Unternehmer Christoph Züllig vor einer Wahl der SVP-Kandidatin als Nachfolgerin des zurückgetretenen Paul Rechsteiner (SP): «Als Mitglied der SVP-Fraktion wäre sie bei wichtigen Fragen an die Parteidisziplin der SVP gebunden, die mit ihrem grossen Block im Parlament verhindert, dass sich die Schweiz aus ihrer gefährlichen Rolle als Unterstützer der russischen Armee herauslösen kann. […] Dem Kriegsverbrecher Putin zu helfen, ist mit Neutralität nicht vereinbar. Darum darf es kein zusätzliches SVP-Mandat im Ständerat geben.»

Die Intervention könnte ein Weckruf für etliche St. Galler Bürgerliche sein, am 30. April doch lieber die SP-Kandidatin Barbara Gysi zu wählen – trotz offizieller Unterstützung der FDP für Friedli (und Stimmfreigabe der Mitte). Im ersten Gang noch hatte Friedli mit über 55 000 Stimmen (44 Prozent) die Nase weit vorn. Links-Grün vereinte 34 Prozent der Stimmen auf sich und schickt gemäss einer Abmachung zwischen SP und Grünen die mit gut 22 000 Stimmen knapp besser platzierte Gysi in den zweiten Wahlgang. Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP, knapp 27 000 Stimmen) zog sich daraufhin wie Franziska Ryser (Grüne, knapp 22 000 Stimmen) zurück.

Eine Art Kulturkampf

In der 175-jährigen St. Galler Kantonsgeschichte wäre Gysi als 45. Ständerät:in erst die vierte linke. Wie schwer es die Linke hier immer noch hat, zeigt das aktuelle Kantonsparlament: Gut 67 Prozent der Sitze sind von SVP, CVP und FDP besetzt – knapp 23 Prozent von SP und Grünen.

Paul Rechsteiners Sieg über Friedlis Lebenspartner und Parteikollege Toni Brunner bei der Ständeratswahl vor zwölf Jahren war eine Sensation. Nun kommt es zwischen Gysi und Friedli erneut zum Showdown zwischen zwei Positionen, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Eine Parallele zwischen den beiden lässt sich einzig darin ziehen, dass beide in teils bäuerlich geprägten Agglomerationen aufwuchsen (Friedli in Worb BE, Gysi bei Regensdorf ZH) und erst als Erwachsene in die Ostschweiz zogen: Gysi 1991 nach Wil, wo sie von 2001 bis 2012 in der städtischen Exekutive wirkte, Friedli in den späten nuller Jahren nach Ebnat-Kappel, wo sie mit ihrem Partner als Gastronomin das sogenannte «Haus der Freiheit» führt.

Sonst aber liegen Welten zwischen den beiden. Hier die Polit-PR-Fachfrau Friedli (45), die als Nationalrätin den Schutzstatus S für Geflüchtete aus der Ukraine ebenso ablehnte wie die Wiederausfuhr von Waffen für die Ukraine, die Schaffung einer Taskforce für die Sperrung von Oligarchengeldern oder die Schliessung von Schlupflöchern im Embargogesetz – dort die Sozialpädagogin Gysi (58), die all dies entschieden unterstützt. Da die Gastrounternehmerin Friedli, die sich gegen faire Löhne und Prämienverbilligung wehrt – dort die Gewerkschafterin Gysi, die für faire Arbeitsbedingungen, Löhne, Renten und Gleichstellung kämpft. Dort wiederum Friedli, die ein fortschrittlicheres Sexualstrafrecht, Präventionskampagnen gegen sexuelle Gewalt und auch einen besseren Aktionsplan gegen Menschenhandel ablehnt – da Gysi, die sich für all dies engagiert und sich darüber hinaus beherzt für die in Belarus inhaftierte und inzwischen wieder freigelassene St. Gallerin Natallia Hersche einsetzte.

Schaut man, wofür sich Friedli in ihren bisher drei Jahren als Nationalrätin engagierte, zeigt sich: Ein Ja gibt es von ihr (neben ihrer beherzten Unterstützung für die Landwirtschaft) immer dort, wo Reiche und Konzerne profitieren – sei es bei der Tonnagesteuer oder dem Ausbau der dritten Säule. Angesichts der wachsenden Armut ist das umso bemerkenswerter, auch mit Blick auf den Kanton St. Gallen, wo über zwanzig Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet sind.

Heikler Moment

Die Wahl ist umso brisanter, als er in eine überaus heikle Phase fällt. Unter der rigiden Führung von Finanzministerin Karin Keller-Sutter (FDP) sind heftige Sparmassnahmen zu befürchten. In einem derart entscheidenden Moment bekommt die St. Galler Wahl eine besondere Bedeutung.

Entsprechend wird nochmals mobilisiert. Derweil Friedli diesen April fast täglich mit dem Auto unterwegs ist, um sich als «Esther bi de Lüt» an Schwingfesten und anderen volkstümlichen Veranstaltungen in vorwiegend ländlichen Gemeinden so gmögig, «bodenständig & bürgernah» wie möglich zu geben, bewegt sich Gysi, die Präsidentin des kantonalen Gewerkschaftsbunds, im ÖV und auf sachlicheren Ebenen. Frühmorgens um sechs Uhr verteilt sie Flyer auf den Bahnhöfen in Wil, Flawil oder Uzwil, abends diskutiert sie auf Podien wie etwa in St. Gallen mit Natallia Hersche über Demokratie in Belarus, in Rorschach mit Paul Rechsteiner über die Rentenreform oder in Wil mit Tamara Funiciello über das Sexualstrafrecht.

Am 30. April wird sich zeigen, ob sich Politgeograf Michael Herrmann mit seiner Prognose, Gysi sei chancenlos, am Ende nicht doch irrte – und die SP-Kandidatin den zweiten Sitz, neben dem bürgerlichen Vertreter Benedikt Würth (Mitte), für das sozialökologische St. Gallen verteidigen kann. Im Nationalrat für sie nachrücken würde der Wiler Arber Bullakaj – als erster Secondovertreter des Kantons überhaupt.