Grossstreik in Deutschland: Ungewohnt kämpferische Töne

Nr. 13 –

Mehr als 100 000 Beschäftigte legten am Montag deutschlandweit die Arbeit nieder und den Verkehr still – ein Novum.

Wer am vergangenen Wochenende deutsche Zeitungen aufschlug, konnte sich in Frankreich glauben. Ein «Monster-Streik» stehe bevor, schrieb die «Bild», der schlimmste seit Jahrzehnten. Das Land werde von den Gewerkschaften «in Geiselhaft» genommen, warnte die «Tagesschau» der ARD; und Poli­tiker:innen appellierten, dass Beschäftigte von ihrem Streikrecht nicht «inflationär» Gebrauch machen sollten.

Anlass für die Aufregung war ein Ereignis, das in Deutschland in der Tat selten ist: ein 24-stündiger bundesweiter Warnstreik im gesamten Verkehrssektor – bei der Bahn, an neun Flughäfen und einigen Häfen, bei der Autobahngesellschaft und im öffentlichen Nahverkehr in sieben Bundesländern. Dazu hatten die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) für den 27. März aufgerufen. Im öffentlichen Dienst und bei der Deutschen Bahn werden derzeit die Tarifverträge neu verhandelt.

Dass verschiedene Tarifrunden parallel stattfinden, kommt immer wieder vor. Dass sich aber zwei Gewerkschaften dabei zusammentun und gezielt neuralgische Punkte wie den Verkehr bestreiken, ist in Deutschland aussergewöhnlich. Die mehr als 100 000 Streikenden brachten den Schienen- und den Flugverkehr vielerorts zum Erliegen – auch weil die Deutsche Bahn vorsorglich alle Fernverbindungen abgesagt hatte. Das sind zwar noch keine französischen Verhältnisse, doch so nah wie am vergangenen Montag war Deutschland einem Generalstreik seit Jahrzehnten nicht mehr.

Neue Strategien

Es geht dabei um viel: Verdi verhandelt für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen – insgesamt 2,5 Millionen Personen – und fordert 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat. Die EVG möchte von der Deutschen Bahn und fünfzig weiteren privaten Bahnunternehmen zwölf Prozent mehr für die rund 230 000 Beschäftigten, mindestens 650 Euro im Monat. Beide Gewerkschaften streben eine kurze Laufzeit der Tarifverträge von zwölf Monaten an, um bei anhaltender Inflation handlungsfähig zu bleiben.

Angesichts der Preissteigerungen und nach mehreren Jahren relativ niedriger Lohnabschlüsse während der Coronapandemie haben viele Beschäftigte keine Reserven mehr. 2022 sanken die Reallöhne im Schnitt um drei Prozent. Würde die Forderung von Verdi durchgesetzt, wäre damit gerade einmal ein weiterer Reallohnverlust abgewendet. Insofern war der «Monster-Streik» der Versuch, eine Drohkulisse aufzubauen. Seit Wochen bemüht sich insbesondere Verdi um ein offensiveres Vorgehen. Arbeitsniederlegungen an den kommunalen Kliniken oder bei der Berliner Müllabfuhr machten den gesamten März hindurch Schlagzeilen. Auch politisch ist die Gewerkschaft neue Wege gegangen: Anfang März mobilisierte sie zusammen mit dem Klimabündnis Fridays for Future. Ein Warnstreik von mehrheitlich weiblichen Beschäftigten der kommunalen Kitas fand am 8. März statt. Im oft eher gemächlichen deutschen Klassenkampf sind das ungewohnt politische Töne.

Angriffe auf Streikrecht

Diese Töne hat auch die Gegenseite vernommen: Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände verlangte schon Anfang März eine Neuregelung des Streikrechts. Es müsse klar sein, «dass Arbeitskämpfe Ausnahmen bleiben sollen», gab Geschäftsführer Steffen Kampeter zu Protokoll. Dass solche Vorstösse gegen das ohnehin schwache deutsche Streikrecht – politische Streiks etwa sind verboten – schnell umgesetzt werden, ist unwahrscheinlich. Aber die Bereitschaft, die Gewerkschaften mit zweifelhaften Massnahmen zu behindern, ist auch in der Politik vorhanden.

Um die Wirkung des Streiks zu dämpfen, rief Verkehrsminister Volker Wissing die Bundesländer offiziell zum Rechtsbruch auf: Er empfahl ihnen, das Fahrverbot für Lastwagen am Sonntag vor dem Streik nicht zu kontrollieren. Trotz der öffentlichen Streikschelte findet eine knappe Mehrheit der Bevölkerung diesen berechtigt. Die Gewerkschaften erleben sogar einen Mitglieder-Boom. 50 000 Neueintritte verzeichnet allein Verdi seit Beginn der aktuellen Tarifrunde.