Fluchthilfe: Zurück auf der Landkarte

Nr. 3 –

Von einem Tag auf den anderen wurde Záhony zum Knotenpunkt für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Das kleine Städtchen im Nordosten Ungarns hat die Herausforderung ohne Zögern angenommen.

Eisenbahn-Brücke über den Grenzfluss Theiss
Neun Züge aus der Ukraine treffen täglich im ungarischen Záhony ein: Brücke über den Grenzfluss Theiss.

Am Morgen melden die Nachrichten, in Odesa sei der Strom wieder flächendeckend ausgefallen. Russische Drohnen haben das ukrainische Energienetz angegriffen. In Záhony fällt Schnee. Es sind kleine, harte Flocken, die auf der Haut wehtun.

Der Bürgermeister zieht an diesem kalten Dezembertag seine schwarze Mütze tiefer ins Gesicht. «Bald werden wieder mehr Geflüchtete kommen», sagt László Helmeczi. Die Mitarbeiter:innen der Internationalen Organisation für Migration treffen sich und beraten darüber, die Schichten neu einzuteilen. Es werden demnächst mehr Leute benötigt. Als um 15.30 Uhr der nächste Zug aus der Ukraine im Bahnhof einrollt, sind 174 Passagier:innen an Bord. Die Helfenden am Bahnhof holen noch mehr Plastiktüten mit Wasserflaschen und Lebensmitteln aus dem Lager.

Záhony ist eine winzige Stadt im äussersten Nordosten Ungarns. Unweit der reformierten Kirche führt eine Brücke über die Theiss, und mitten durch den Fluss verläuft die Grenze zur Ukraine. Die gemeinsame Grenze der beiden Länder ist nicht sonderlich lang, knapp 140 Kilometer; es existieren fünf Grenzübergänge, aber nur in Záhony können Reisende die Grenze mit dem Zug überqueren.

Eine weite Reise in zwanzig Minuten

Záhony ist während des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu einem Dreh- und Angelpunkt der Flucht geworden. Ungarns Grenzen sind seit Mitte des letzten Jahrzehnts eigentlich eher für elektrisch gesicherte Stacheldrahtzäune und bewaffnete Grenzbeamte bekannt. Die Verhinderung der Migration nach Europa ist zum Kernprogramm von Premierminister Viktor Orbán geworden.

In Záhony aber hat sich fast elf Monate nach Kriegsbeginn eine freundliche Routine etabliert. Die Menschen haben Erfahrung im Helfen. Sie tun es mit Gelassenheit und Ruhe. Manchmal scheint es sogar, als habe die kleine Stadt diese neue Aufgabe gebraucht, um daran zu wachsen.

Neun Züge aus der Ukraine treffen täglich in Záhony ein. Sie kommen aus Tschop auf der anderen Flussseite. Nur zwanzig Minuten Fahrt und doch gefühlt eine weite Reise. Als der Nachmittagszug endlich zum Stehen gekommen ist, stellen sich die Helfenden mitten auf das Bahnhofsgelände, breitbeinig, unübersehbar. Die Passagier:innen tröpfeln aus der Bahn heraus. Vor dem Aussteigen prüft die ungarische Grenzpolizei alle Pässe. Mehr nicht. Die Einreise ist momentan auch ohne Visum möglich.

Die Menschen klettern die steilen Zugtreppen hinunter, hieven Gepäck und Kinder hinaus, blicken sich suchend um. Die Bahnhofsangestellten verweisen gleich auf die Helfer:innen. Wann fährt der nächste Zug nach Budapest? Und wie gehts dann weiter nach Wien? Eine Frau sagt, sie habe Fieber und Halsschmerzen. Sie wird ins Behandlungszimmer des Roten Kreuzes gebracht.

der indische Student Anmol Gupta sitzt im Zug
Er flüchtete aus Charkiw und hilft jetzt Flüchtenden in Záhony: Der indische Student Anmol Gupta.
Geflüchtete bei der Ankunft am Bahnhof in Záhony
Wann fährt der nächste Zug nach Budapest? Und wie gehts dann weiter nach Wien? Geflüchtete bei der Ankunft in Záhony.

Auf dem Perron steht auch ein Helfer, der vom Zugpersonal mit Handschlag begrüsst wird. Eine alte Frau legt ihm ein Stück Konfekt in die Hand. Er bedankt sich mit einer Umarmung. Der Mann heisst Anmol Gupta, er ist ein indischer Medizinstudent aus der ostukrainischen Stadt Charkiw, gestrandet in Záhony. Aber er fühlt sich ganz wohl dabei.

Vor neun Jahren kam Anmol Gupta aus dem nordindischen Roorkee zum Studium in die Ukraine. Im letzten Februar fehlten ihm noch sechs Monate bis zum Abschluss. Als der Krieg ausbrach, half er seinen Nachbar:innen dabei, die Keller als Schutzräume herzurichten. Das Helfen fühlte sich besser an als das Ausharren in der unterirdischen Metrostation. Als schliesslich eine Rakete vor seinem Wohnhaus einschlug, floh Gupta aus Charkiw. Mit dem Zug gelangte er übers westukrainische Lwiw nach Záhony. «Ich hatte keine Ahnung, wo ich gelandet war», sagt er.

Es war der 5. März 2022, als Anmol Gupta, angehender Herzchirurg, in Záhony ankam. Er beschloss zu bleiben. Die Menschen in Záhony hätten ihm geholfen, als er müde und verängstigt gewesen sei, erklärt er. Sie gaben ihm zunächst etwas zu essen, Wärme und Freundlichkeit, dann eine Unterkunft. Nun versucht er, das Gleiche zu tun und den Geflüchteten die Ankunft im Nachbarland zu erleichtern.

Fast 700 000 Ukrainer:innen sind seit Kriegsbeginn über die Grenze bei Záhony gekommen. Die Einwohner:innen sagen, Anmol Gupta habe sie fast alle persönlich gesehen. Sie sagen, er sei der gute Geist des Bahnhofs. Sein Kühlschrank im Aufenthaltscontainer der Internationalen Organisation für Migration ist voll. Frauen aus der Stadt bringen Gupta regelmässig Essen vorbei.

Er müsste eigentlich nach Charkiw fahren, seine Zeugnisse abholen, sagt Gupta, aber wer wisse schon, ob die medizinische Fakultät überhaupt noch stehe. Wer wisse schon, ob noch jemand von den Lehrenden dort sei. «Ich habe keinen Plan», sagt Gupta. Er lernt jetzt Ungarisch. Der Putzmann im Bahnhof unterrichtet ihn nebenbei.

Eine Notunterkunft in fünf Stunden

Záhony hat schon bessere Zeiten gesehen. Im Verladebahnhof, in dem die Spurbreite der Züge vom ungarischen auf das ukrainische Schienensystem angepasst wird, arbeiteten in den achtziger Jahren 8000 Menschen. Heute hat das ganze Städtchen noch gut 4000 Einwohner:innen, 1300 sind Rentner:innen und nur noch 300 Kinder. Es gibt drei Kirchen, eine Schule, ein Hotel, ein Restaurant und eine Bar, die «Pepe» heisst, mit Billard, Darts und Jägermeister.

mehrere Personen stehen rund um den Billardtisch in der Bar Pepe in Záhony
In Záhony gibt es 4000 Einwohner:innen, drei Kirchen, eine Schule, ein Hotel, ein Restaurant – und die Bar Pepe.

Eigentlich war Záhony eine Stadt, die langsam von der Landkarte verschwand. Bis der Krieg ausbrach. Da kamen gleich am ersten Tag Tausende Ukrainer:innen am Bahnhof an, drängten sich an den Schaltern, sassen erschöpft auf dem Vorplatz. Um ein Uhr mittags postete der Bürgermeister auf Facebook einen Hilferuf an die Einwohner:innen seiner Stadt. Fünf Stunden später war das Kulturhaus zur Notunterkunft umgerüstet. Die Männer und die Frauen aus Záhony hatten Matratzen, Laken und Decken gebracht.

Als sie an diesem ersten Kriegstag von den vielen Geflüchteten gehört habe, sei auch sie sofort zum Bahnhof gegangen, sagt Agnesa Zeplaki. «Nichts auf der Welt hätte mich davon abhalten können.» Zeplaki, heute sechzig Jahre alt, war Anfang des letzten Jahres gerade erst in Pension gegangen. Bis dahin hatte sie die Bankfiliale in Záhony geleitet, zudem sitzt sie im siebenköpfigen Stadtrat. Das Helfen sei für sie auch eine Pflicht: «Ich möchte mit gutem Beispiel vorangehen.»

Agnesa Zeplaki teilt die freiwilligen Helfer:innen der Stadt ein. Am Anfang hatte sie über 200 Personen auf ihrer Liste, die sich gemeldet hatten. Sie kamen von überallher, aus der Schule, aus der Bank, aus dem Supermarkt. Bis heute schliesst Zeplaki jeden Morgen den Container vor dem Bahnhof auf. Sie zieht die Rollläden hoch, stellt die Kessel mit Heisswasser an, kocht Tee, desinfiziert die Tische. Mittlerweile teilt sie pro Tag noch etwa zwanzig Helfende ein, hauptsächlich Frauen aus der Stadt. Das sei momentan genug. Die Hilfe ist zur Routine geworden. Das Gefühl aus den Anfangstagen ist aber immer noch da. «Viele Menschen aus der Stadt haben gemeinsam angepackt, das hat uns einander nähergebracht», sagt Zeplaki.

Helferin Agnesa Zeplaki in ihrer Wohnung
«Viele Menschen haben gemeinsam angepackt, das hat uns einander näher­gebracht»: Helferin Agnesa Zeplaki.

Wenn sie in diesen Tagen durch die Fenster des Containers hinaus in Richtung Bahnhof schaut, sieht sie die Flocken, die auf die geschlossene Schneedecke fallen. Auch sie bekommt mit, was die Ankommenden am Bahnhof erzählen. Dass es etwa selbst in Tschop, gleich auf der anderen Seite der Theiss, so weit im Westen der Ukraine, nur wenige Stunden am Tag Strom gibt. Zeplaki seufzt. «Und in dieser Situation werden Kinder geboren», sagt die Stadträtin. «Unvorstellbar.» Bald wird sie vielleicht wieder mehr Helfende von ihrer Liste benötigen.

«Helfen ist einfach menschlich»

Der Winter ist auch in Záhony eine dunkle Jahreszeit. Vor dem Rathaus blinken weiss-blaue Lichterketten, ein luftgefüllter Schneemann wälzt sich im Schnee. Gut 200 Menschen stehen im Dunkel des späten Nachmittags auf dem Platz und hören zu, wie die Kinder der Kita Lieder singen. Danach gibt es Glühwein für die Erwachsenen und ein paar kurze Gespräche, bei denen der Atem in Wolken davonfliegt.

Der Bürgermeister von Záhony ist auch da. Aber er spricht an diesem Nachmittag nicht ins Mikrofon. Er wippt auf den Füssen, um sich warm zu halten, und lächelt still in sich hinein.

Seit acht Jahren ist László Helmeczi Bürgermeister von Záhony. Als er sich für das Amt bewarb, nahm er sich vor, wieder mehr Leben in die ruhige Stadt zu bringen. Die Treffen im frostkalten Dezember, wie auch heute eines stattfindet, hat er etabliert. Für grosse Baumassnahmen fehle das Geld in der Stadtkasse, sagt Helmeczi, aber eine Gemeinschaft lasse sich auch ohne viel Geld aufbauen.

László Helmeczi möchte gern, dass wieder mehr junge Leute in Záhony wohnen. Er sagt, er würde gern Konzerte planen und Bildungsprogramme auflegen, anstatt sich um den Zustand des Friedhofs zu kümmern.

László Helmeczi, Bürgermeister von Záhony
Wenn er auftauche, werde alles gut, heisst es in Záhony: Bürgermeister László Helmeczi.
Vorplatz des Bahnhof Záhony
Der Bahnhof: Fast 700 000 Ukrainer:innen sind seit Kriegsbeginn über die Grenze bei Záhony gekommen.

In Záhony ist viel Gutes über ihn zu hören. Der indische Medizinstudent Anmol Gupta sagt: «Er ist unvoreingenommen und in vielerlei Hinsicht ein weiser Mann.» Die Stadträtin Agnesa Zeplaki: «Die Stadt ist seine Familie. Er tut alles für sie.» Und ein Mitarbeiter der Internationalen Organisation für Migration: «Er schafft es, in einer Krise die Balance zu halten. Wenn er auftaucht, wird alles gut.»

László Helmeczi ist sehr oft am Bahnhof. Und wenn er dort ist, trägt er Ankommenden die Koffer und sammelt Abfall auf, der vor dem Mülleimer liegt. Er sagt: «Helfen ist einfach menschlich.» Seine Haltung widerspiegelt sich in Ungarns Reaktion auf die Fluchtbewegungen im vergangenen Jahrzehnt kaum. Als im Jahr 2015 Menschen aus Syrien, dem Iran und Afghanistan kamen, schwadronierte Regierungschef Viktor Orbán von einer «gelenkten illegalen Migration», die die Eliten des Westens angezettelt hätten. Im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine gibt sich die Regierung hingegen offener. Die Schutzsuchenden aus dem Nachbarland reisen ab Záhony mit einem sogenannten Solidaritätsticket kostenlos per Zug weiter.

Er interessiere sich nicht für die Politik in Budapest, sagt Helmeczi. Er und die sechs anderen Mitglieder des Stadtrats gehören keiner Partei an. Bei der letzten Parlamentswahl im April 2022 erreichte der Fidesz, die Partei von Premierminister Orbán, in der Region etwa siebzig Prozent der Stimmen. In Záhony selbst waren es vierzig Prozent. Der Bürgermeister erzählt davon mit Stolz. «Wir gehen unseren eigenen Weg», sagt er.

László Helmeczi besucht an diesem Dezemberabend im Städtchen auch noch die Notunterkunft für Geflüchtete, die in einer ehemaligen Grundschule eingerichtet wurde. Zwanzig Jahre lang hatte das Gebäude zuvor leer gestanden. Nun werden dort diejenigen untergebracht, die so spät abends aus der Ukraine in Záhony ankommen, dass kein Zug mehr fährt. Manche bleiben länger hier, weil sie ganz einfach nicht weiterwissen.

Bürgermeister Helmeczi leert die Schale unter einem tropfenden Heizungsrohr, prüft die Essensvorräte im Kühlschrank. Einiges hat sich in Záhony verändert, seitdem das Helfen zum Alltag geworden ist. «Wir passen besser aufeinander auf», sagt er. Ausserdem gebe es zwölf neue Kinder im Kindergarten und siebzehn in der Schule.

Spät am Abend verlässt Agnesa Zeplaki den Container vor dem Bahnhof. Alles ist schon für den nächsten Tag vorbereitet. Im Container bleibt Anmol Gupta zurück; er schläft nur selten in der Wohnung, die ihm die Stadt zur Verfügung gestellt hat. Stattdessen rückt er zwei Campingstühle zusammen, legt sich auf die Sitzflächen und breitet eine Decke über sich aus.

Um 2.46 Uhr kommt der nächste Zug aus Tschop in Záhony an. Dann wird Anmol Gupta am Gleis stehen und helfen.