Geflügelhaltung: Der Ausweg aus dem Hühnerwahn

Nr. 49 –

Die Geflügelzucht ist in Konzernhand und führt zur Vernichtung von Millionen Küken. Dank einer hartnäckigen Züchterin gibt es eine Alternative. Sie funktioniert aber nur mit weniger Konsum.

Zweinutzungshühner auf dem Ekkharthof im thurgauischen Lengwil
Wie wärs mal mit ein paar Eiern weniger? Zweinutzungshühner auf dem Ekkharthof im thurgauischen Lengwil.

Im Vorraum des Hühnerstalls ist ein junger Mann in die Arbeit versunken. Andächtig säubert er aus dem Nest geholte Eier von Federn und Einstreu und legt sie in den Verkaufskarton. Der Bewohner des Ekkharthofs, einer Institution für Menschen mit Beeinträchtigung im thurgauischen Lengwil, hat heute Hühnerdienst. Auch das Federvieh ist die Ruhe selbst: Kein Flattern und kein Hüpfen, als die Reporterin den Stall betritt. Auch später auf der Weide lässt sich niemand schrecken. Nicht einmal der Haudegen unter den Hähnen, der sich mit einem Loch in der Jeans der Bäuerin verewigt hat, ist heute geneigt, seinen Ruf zu verteidigen. «Diese Tiere sind ruhig und ausgeglichen», sagt Bauer Jürg Hubacher, dessen Gutsbetrieb zum Ekkharthof gehört, «das macht sie einfach in der Handhabung.» Die Arbeit mit den Hühnern sei sehr beliebt. Auch den Nutzvögeln dürfte es wohl sein: Die Herde darf das ganze Jahr auf die Weide, deren Standort regelmässig wechselt; der Stall wird wöchentlich gemistet.

Ist das Zweinutzungshuhn die Antwort? Ja, aber.

Hubachers Hühner gehören zu einer noch selten anzutreffenden Sorte: Vor drei Jahren hat der Bauer von Hybridlegehennen auf Zweinutzungshühner umgestellt. Diese sind eine Art Allrounder: Die Hennen legen Eier, die Hähne setzen Fleisch an. Die Ausbeute ist niedriger als bei herkömmlichen Hühnern, weil es genetisch unmöglich ist, Legeleistung und Muskelwachstum gleichzeitig zu pushen. Dafür wird jedes einzelne Tier genutzt.

99 Prozent des hiesigen Geflügels sind spezialisierte Tiere: entweder auf hohe Eierleistung oder auf Fleischansatz gezüchtete Hybridhühner, die aufgrund eines speziellen Kreuzungsverfahrens viel Leistung bringen. Die Hennen der Legelinien produzieren schon fast im Akkord. Während Rassehühner, die es noch in Kleinbeständen gibt, auf 120 bis 170 Eier im Jahr kommen, sind High-End-Hybriden bei 320 angelangt. Die männlichen Küken der Legelinien sind kommerziell nicht verwertbar und werden getötet, in der Schweiz über zwei Millionen Tiere pro Jahr. Bei Bio Suisse und Demeter werden diese «Bruderhähne» zwar teilweise aufgezogen, und die Branche forscht zu Geschlechtserkennung im Brutei, um keine Küken mehr töten zu müssen. Beide Ansätze lösen aber das Grundproblem nicht.

Das Gegenstück zu den meist sehr schlanken Legehennen sind die auf Fleischansatz getrimmten Masthybriden. Hier werden beide Geschlechter aufgezogen. Die «Güggeli» und die «Henneli» werden einen guten Monat alt, dann ist ihr Brustmuskel so dick, dass sie vornüberzukippen drohen. Im Biobereich und bei Coop-Naturafarm kommen langsamer wachsende Tiere zum Einsatz.

Drei Konzerne dominieren

Längst stammen alle grösseren Hühnerbestände aus industrieller Züchtung im Ausland. Das gilt auch für die meisten Bio- und Demeter-Höfe. Das Kreuzungsschema der Zuchtfirmen, das die «Endtiere» optimiert, sorgt dafür, dass im Abnehmerland nicht weitergezüchtet werden kann: Die erwünschten Eigenschaften würden nicht an die nächste Generation vererbt. Die Elterntiere müssen darum immer wieder neu aus europäischen Brütereien importiert werden, aktuell etwa aus Spanien und Holland.

Drei Zuchtkonzerne dominieren den Weltmarkt und decken auch die Schweiz fast komplett ab: Aviagen (Masthybriden), Lohmann und deren Tochter H&N (Legehennen). Sie hüten den genetischen Schatz ihrer Zuchttiere in abgeriegelten Anlagen. Die letzte greifbare Information zu den Bedingungen ist eine NDR-Doku von 2010, die Lohmann porträtiert. Sie zeigt Käfighaltung in riesigen Hallen, im Stress verendete Tiere, das Schreddern nicht verwertbarer Küken. 2011 wurde Lohmann in Deutschland wegen Verstoss gegen das Tierschutzgesetz verurteilt, weil in seinen Betrieben Hähnen über längere Zeit Kämme und Zehen abgeschnitten worden waren – ohne Betäubung und nur zu Markierungszwecken.

Wie es heute zugeht, ist nicht klar: Lohmann und H&N reagierten nicht auf Anfragen, und keiner der Schweizer Branchenvertreter, mit denen die WOZ gesprochen hat, hat je einen Fuss in eine Zuchtfarm gesetzt. Einzig Masthuhnproduzent Aviagen teilt mit, seine Hühner lebten nicht in Käfigen, müssten aber zum Schutz vor Erregern, die durch Kontakt zu Wildvögeln eingeschleust werden könnten, in geschlossenen Räumen gehalten werden. Das bekräftigen auch die hiesigen Branchenvertreter. Und sie betonen, dass die Zuchtfirmen aufwendige Arbeit leisteten, um eine verlässliche Produktion und letztlich die Versorgungssicherheit zu garantieren. Essen wir weiter wie bisher, wird die Herausforderung nicht kleiner: Geflügelprodukte boomen weltweit, in der Schweiz lag der Pro-Kopf-Konsum 2021 bei knapp 15 Kilogramm Pouletfleisch und 195 Eiern, Tendenz steigend.

Diesen Markt beliefern die Konzerne mit passgenauen Angeboten: Vom Turbohähnchen über die Batteriehenne bis zum Tier fürs Freilaufgehege. Als Coop den Wunsch nach einer Alternative zum Kükentöten äusserte, entwickelte Lohmann mit dem «Dual»-Huhn binnen eines Jahres das erste kommerzielle Zweinutzungstier. Auch die Migros-«Hahn im Glück»-Eier basieren auf Lohmann-Züchtungen. Das könnte sich ändern: Die Alternative zum Globalbusiness stakst schon über die Lengwiler Weide. Jürg Hubacher ist einer der Ersten, die in der Schweiz Hühner aus dem weltweit einzigen professionellen biologischen Zuchtbetrieb halten.

Die Frau dahinter brauchte einen langen Atem. Die Deutsche Inga Günther beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit Hühnern. Einst hatte sie als Stadtkind vom Landwirtschaftspraktikum eine Ladung Küken mitgebracht und sich gewundert, dass die Hälfte davon zu Hähnen heranwuchsen. Dass auch auf Biobetrieben die männlichen Tiere der Legelinien vergast wurden, erschütterte sie so nachhaltig, dass sie Landwirtschaft studierte, tief ins Thema Geflügel eintauchte und sich der Zucht von Zweinutzungstieren verschrieb. 2015 gründete sie mit Unterstützung von Demeter Deutschland und Bioland die Ökologische Tierzucht (ÖTZ) in Mainz.

In der ÖTZ leben die Hühner im Herdenverband und haben Auslauf in den Wald. «Ein möglichst normales Hühnerleben», sagt Günther. Krankheitserregern im Aussenbereich begegnet sie mit Bodenhygiene und Schädlingsmonitoring. «Dazu halten wir die Hühner in Gruppen von maximal 400 Tieren», erklärt die 35-Jährige, «das reduziert den sozialen Stress und erhöht die Widerstandsfähigkeit.» Und schliesslich wolle sie ja genau die Anpassung an das Leben draussen erreichen – so würden die Hühner ja später auch gehalten.

Ist das Zweinutzungshuhn der ÖTZ die ultimative Antwort auf die Industrie? Ja, aber. Zunächst müssten die Leute von den tiefen Preisen entwöhnt werden, die nur mit spezialisierten Tieren möglich sind. Und es gilt, schwankende Eigrössen und weniger feisse Poulets zu akzeptieren. Jürg Hubacher verkauft seine Eier zurzeit für 75 Rappen an Restaurants, Küchen und im Hofladen. «Meine Kunden tolerieren die verschieden grossen Eier bei gleichbleibendem Preis», sagt er, «im Grosshandel würde das nicht funktionieren.»

Das grundsätzlichere Problem ist der Ressourcenverbrauch: Zweinutzungshühner verwerten Futter schlechter als Hybriden. Beim ÖTZ-Huhn ist das noch ausgeprägter als beim «Lohmann Dual». Das fällt beim Geflügel besonders ins Gewicht, weil sein Futter die menschliche Ernährung konkurrenziert. Hühner sind eigentlich Allesfresser; die heutigen Hochleistungstiere brauchen aber optimierte Mischkost, vorwiegend aus Mais, Weizen und Sojaschrot. Die effizienteste Henne verbraucht für ein durchschnittlich 62 Gramm schweres Ei 125 Gramm Nahrung. In der Schweiz stammen siebzig Prozent des Futters aus dem Ausland, inzwischen immerhin zu über achtzig Prozent aus Europa. Hybridtiere, die aus wenig viel machen, schonen also die Ressourcen.

Inga Günther sieht das aus anderer Perspektive. «Hybriden können durch die jahrelange Ernährung mit Getreide und Soja und die darauf aufbauende Züchtung alternatives Futter gar nicht mehr richtig verwerten», sagt sie. Ihre Mägen seien vom potenten Futter quasi faul – und klein – geworden. Untersuchungen haben gezeigt, dass ÖTZ-Tiere grössere Mägen als Hybriden haben und mit Grünfutter auf bessere Nährstoffaufnahme «trainiert» werden können. Das Ziel müsse sein, wieder mehr Nebenprodukte vom Hof verfüttern zu können, sagt Günther: Keimgetreide, Pilzmyzelien, altes Brot, Molke, Gemüse. «Wenn das Huhn wieder zum Resteverwerter wird, ist die grössere Futtermenge kein Problem.»

Dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist und sich das in der Massenproduktion nicht umsetzen lässt, weiss auch die Züchterin. Günther plädiert deshalb für einen sparsameren Verzehr: «Wir müssen wieder lernen, uns zu begrenzen: weniger Tierprodukte essen, dafür nachhaltige. Ein Ei pro Woche reicht völlig.»

Jürg Hubacher hat das verinnerlicht. Die schlechte Ressourcenbilanz des Huhns im heutigen System sei ihm bewusst, sagt er. Würde die Betreuung der Hühner den Ekkharthof-Bewohner:innen nicht so viel Freude machen, müsste er sich die Geflügelhaltung noch einmal überlegen. Er selber konsumiert nur zurückhaltend: «Wir sind sieben Erwachsene und zwei Kinder», sagt der Vierzigjährige. «In der Woche brauchen wir etwa zehn Eier. Ein Rührei gibts höchstens einmal im Monat.»

Gemeinsam auf den Fuchs los

Die Ekkharthof-Hühner tummeln sich zwischen Brennnesselbüschen, ein paar haben sich zwischen Wegwartenstauden gehockt. Andere scharren lieber dort, wo die Erde fast nackt ist. Dass sie ihre Impulse auf der Weide ausleben können, verhindert gegenseitiges Bepicken – ein Problem in der Massenhaltung. Trotzdem sind zehn Prozent der Hybridhennen, die Hubacher früher hielt, frühzeitig gestorben, «jetzt sind es nur noch zwei Prozent». Er führt das darauf zurück, dass die weniger intensiv legenden ÖTZ-Hennen keine Probleme mehr mit der Kloakenöffnung haben, aus der das Ei ausgeschieden wird. Was ihm auch gefällt: «Die Tiere funktionieren mehr im Herdenverband als die Hybriden. Wenn Gefahr droht, stieben nicht alle auseinander.» Er habe schon beobachtet, wie Hähne und Hennen gemeinsam auf den Fuchs losgegangen seien. «Man hat das Gefühl, dass sie ihr Zuhause verteidigen.»

Zweinutzungsproduzent:innen mit ÖTZ- oder Rassehühnern in der Schweiz: demeter.ch.

Gegen das Kükentöten

Damit männliche Küken von Legehühnern nicht mehr nach der Geburt getötet werden, hat der Branchenverband Bio Suisse das «Bruderhahn»-Projekt lanciert: Pro Legehenne wird ein «Bruder» aufgezogen und vermarktet. Da die Hähne zuchtbedingt wenig Fleisch ansetzen, rentiert das nicht; ihre Aufzucht wird über einen Zuschlag auf den Eierpreis subventioniert. Die Logik der Entweder-oder-Hochleistungszucht bleibt dabei unangetastet: Während ein paar Hähne aufwachsen dürfen, werden die männlichen Tiere derselben Zuchtlinie anderswo weiterhin getötet. Bio Suisse und Demeter wollen daher das Zweinutzungshuhn fördern.

Die konventionelle Eierbranche möchte das Kükentöten mit Geschlechtserkennung im Brutei (In-Ovo-Selektion) umgehen. In den meisten praxisreifen Verfahren werden dafür die Eier nach dem Anbrüten punktiert. Gegner:innen monieren, dass dabei ein Schmerzempfinden des Embryos nicht ausgeschlossen sei. In Deutschland, wo die Methode bereits angewandt wird, werden die Embryos geschreddert.