Film: Mitgefühl mit dem Manager

Nr. 35 –

Die verrückteste Szene in diesem bestechend geradlinigen Film kommt ziemlich genau in der Mitte. Da besucht der Manager Philippe (Vincent Lindon) seinen Sohn, der nach einem Ausraster gegen einen Lehrer in der Psychia­trie gelandet ist. Der Teenager (Anthony Bajon) möchte, dass man ihm seine Schulbücher in die Klinik bringt, weil er in seiner «Auszeit» auf keinen Fall die Abschlussprüfungen verpassen will. Der Vater wirkt geknickt, irgendwie schuldbewusst, weil er in diesem Moment begreift: Sein Kind ist hier, weil es den pathologischen Leistungszwang, den er als Manager selber mustergültig verkörpert, total verinnerlicht hat. Der Bub redet dann weiter, und ganz beiläufig nimmt die Szene eine weitere Wendung, die den Vater erst recht verstört.

Für Regisseur Stéphane Brizé spielte Vincent Lindon zuletzt einen arbeitslosen Fabrikarbeiter («La Loi du marché») und ­einen Streikführer («En guerre»). Jetzt, zum Abschluss von Brizés Trilogie über die heutigen Arbeitskämpfe, ist er in der Chefetage angekommen – und bleibt in «Un Autre Monde» doch den Hierarchien ausgeliefert. Profit­maximierung lautet die Devise, nach der er operieren soll, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Manager soll sparen, also Personal abbauen – aber ohne sein Gesicht zu verlieren und ohne die Sicherheit seiner Leute zu gefährden? Unmöglich, merkt Philippe. Ein Wort, das bei seiner Konzernchefin nichts zählt: Für sie ist das höchstens ein Zeichen von Renitenz oder, schlimmer noch, von Schwäche.

Mit Ausnahme von Philippe und dessen Familie hat Brizé alle Rollen mit Laien­dar­stel­ler:innen besetzt, quer durch die Betriebs­ebenen. Die Konzernchefin etwa wird von der französischen TV-Moderatorin Marie Drucker gespielt, und zwar so abgrundtief ungerührt, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätte. Etwas eindimensional geraten ist nur die Figur der scheidungswilligen Ehefrau (Sandrine Kiberlain), die gar oft ins Schluchzen kommt.

«Un Autre Monde» ist ein Film, bei dem man jeder Konfrontation die fundierte Recherche ansieht: wenn das Personal den Manager zur Rede stellt genauso, wie wenn dieser sich vor der Konzernleitung zu behaupten versucht. Von der allerersten Szene an, als Phi­lippe die Abfindungsforderungen seiner Frau entgegennimmt, führt Brizé mit trockener Konsequenz vor, wie das Kapital sämtliche menschlichen Beziehungen aushöhlt. Alles wird hier wie eine geschäftliche Transaktion ausgehandelt, und die Grenzen zur Erpressung sind fliessend.

Filmstill aus dem Film «Un Autre Monde»: 2 Personen an einer Sitzung

«Un Autre Monde». Regie: Stéphane Brizé. Frankreich 2021. Jetzt im Kino.