Kampf um Klimagerechtigkeit: Die Kaderschmiede der Bewegung

Nr. 34 –

Baggerbesetzungen und weisse Maleranzüge: Das Bündnis Ende Gelände liefert spektakuläre Bilder von poppigem zivilem Ungehorsam. Ist der deutsche Klimaaktivismus trotzdem noch zu brav?

  • Aktivist:innen des Bündnis Ende Gelände rennen über ein Feld
    Zivilen Ungehorsam praktiziert das Bündnis Ende Gelände als strategischen Gewaltverzicht: Aktion im Rahmen des diesjährigen «System Change Camp».
  • Aktivist:innen des Bündnis Ende Gelände mit einem Banner auf der Strasse
  • Aktivist:innen des Bündnis Ende Gelände versuchen eine Sperre der Polizei zu durchbrechen
  • Polizisten besprühen Aktivist:innen des Bündnis Ende Gelände mit Pfeffefspray
  • Aktivist:innen des Bündnis Ende Gelände im Zug

«Von mir aus sollen Europa und die Deutschen diesen Winter doch frieren – vor allem die Reichen und die Konzernvorstände, sollen sie sich doch eine Jacke anziehen!» Während Christopher Basaldú das sagt, räumt keine fünfzig Meter entfernt eine Einsatzhundertschaft der Hamburger Polizei eine Sitzblockade. Die etwa achtzig, zumeist jungen Menschen in weissen Maleranzügen und pinken FFP2-Masken hatten ein Gleis besetzt, das durch ein Industriegebiet zum Hamburger Hafen führt.

Vom 9. bis 15. August fand auf den Wiesen am nördlichen Ende des Volksparks in Hamburg-Altona das «System Change Camp» statt – organisiert von einer Vielzahl linker und klimapolitischer Gruppen und begleitet von Aktionstagen. Der Name des Camps ist sowohl eine Anspielung auf die «Climate Action Camps», von denen das erste 2006 im englischen North Yorkshire stattfand, als auch auf die kapitalismuskritische Parole der Klimagerechtigkeitsbewegung «System- statt Klimawandel».

«500-jährige Plünderung»

Mit dem Hamburger Camp wollten die Organisator:innen auf die Folgen der Klimakrise aufmerksam machen und gegen den Bau von dreizehn Flüssiggasterminals protestieren, den die derzeitige Regierungskoalition aus Sozialdemokrat:innen, Grünen und Liberalen plant. Mit aus dem Ausland eingeführtem Flüssiggas, auch «liquefied natural gas» (LNG) genannt, will sie Deutschland von Importen aus Russland unabhängig machen. Aus Protest gegen den Ausbau besetzten rund 250 Aktivist:innen die Baustelle eines solchen Terminals in der Stadt Wilhelmshaven. Am Tag darauf machten sich vom Camp etwa 1500 Menschen auf und blockierten für mehrere Stunden drei Güterverkehrszufahrten zum Hamburger Hafen.

Flüssiggas gewinnt man unter anderem durch Fracking. Dabei werden unter hohem Druck grosse Mengen mit Chemikalien versetzten Wassers in den Untergrund geleitet. Diese Abbaumethode ist so umweltschädlich, dass sie in Deutschland nur zu Forschungszwecken erlaubt ist. In den USA und anderen Teilen Amerikas findet Fracking hingegen häufig in jenen Gegenden statt, in denen indigene Gemeinschaften überlebt haben.

Bereits im März, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, bot US-Präsident Joe Biden an, europäische Länder mit LNG-Exporten zu unterstützen. Durch den Abbau von Flüssiggas wandelten sich die USA in den vergangenenen Jahrzehnten von einem der grössten Importeure fossiler Energieträger zu einem führenden Exporteur.

«Joe Biden argumentiert, es müsse in den USA mehr LNG abgebaut werden, damit die Menschen in Europa im Winter nicht frieren», sagt Basaldú. Er gehört den indigenen Esto’k Gna an, die seit präkolumbianischer Zeit auf dem Territorium des heutigen US-Bundesstaats Texas leben. Zusammen mit weiteren indigenen Aktivist:innen nimmt er am Klimaprotestcamp in Hamburg teil.

Ein Ort, von dem Flüssiggas aus den USA exportiert werden soll, ist die Stadt Brownsville in Südtexas, wo der Rio Grande in den Golf von Mexiko fliesst. Dort sollen gigantische Flüssiggasterminals errichtet werden. Von diesen könnte US-amerikanisches LNG auch nach Hamburg verschifft werden. Die geplanten Terminals befinden sich nicht nur in unmittelbarer Nähe einer Reihe von Natur- und Vogelschutzgebieten, sondern bedrohen auch ein Gelände, auf dem sich historische Gräber und Artefakte der Esto’k Gna befinden. «Dort wird die 500-jährige Plünderung indigener Länder und Ressourcen durch Europa fortgesetzt», sagt Basaldú. Für ihn ist die US-Regierung «keine amerikanische, sondern eine europäische Regierung».

Zuversicht statt Weltschmerz

«Der Fokus des Camps war, möglichst vielen von Klimawandel und neokolonialer Ausbeutung betroffenen Menschen einen Raum zu geben, um ihre Positionen darzulegen, zu diskutieren, ins Gespräch zu kommen und neue Verbindungen zu schaffen», sagt Charly Dietz, eine der Sprecher:innen von Ende Gelände. Das Bündnis ist neben dem kommunistischen Zusammenschluss Ums Ganze die grösste das Camp organisierende Gruppe.

Zum Zusammenhang zwischen Klimagerechtigkeit und Dekolonisierung fanden auf dem Camp dann auch eine Vielzahl unterschiedlicher Podien und Workshops in grossen gestreiften Zirkuszelten statt. Dazwischen gab es aber auch auf den Wiesen und unter den grossen Bäumen zahlreiche Gelegenheiten zum informellen Austausch. «Es war immer das Ziel von Ende Gelände», so Dietz, «gerade auch in der internationalen Debatte nicht nur zu sagen: ‹Wir kämpfen hier, die kämpfen dort›, sondern die Kämpfe gemeinsam zu führen.» Zum Camp kamen denn ausser den indigenen Aktivist:innen auch viele aus dem europäischen Ausland und dem Globalen Süden. Spanisch, Englisch und Italienisch schnappte man regelmässig bei den Gesprächen auf.

Das nach eigenen Angaben europaweite Bündnis Ende Gelände ist in Deutschland vor allem für seine Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen den Braunkohleabbau bekannt, die seit 2015 stattfinden. Die Bilder von den Besetzungen gewaltiger Schaufelbagger in den apokalyptisch wirkenden Braunkohlegruben in der Lausitz und im Rheinland haben viele bewegt. Die Aktionen von Ende Gelände markierten eine Abkehr von den Black-Block-Taktiken der Autonomen, aber auch vom biederen Wollpulli- und Birkenstocksandalenmief vorangegangener deutscher Umweltbewegungen.

An die Stelle von schwarzen Sturmhauben, Motorrad- oder Outdoorjacken traten die von den italienischen linksradikalen Tute Bianche der neunziger und frühen nuller Jahre abgeguckten weissen Maleranzüge. Statt auf Wut-und-Hassparolen setzte man auf peppige, oft englischsprachige Slogans, die Zuversicht statt No-Future-Weltschmerz ausstrahlten: «We are unstoppable, another world is possible!» (Wir sind nicht aufzuhalten, eine andere Welt ist möglich!) oder einfach nur «Auf geht’s, ab geht’s, Ende Gelände!»

Zivilen Ungehorsam behandelte Ende Gelände wiederum nicht als ideologisch überhöhte Gewaltfreiheit um ihrer selbst willen, sondern praktizierte ihn als eher strategischen Gewaltverzicht. Als «Finger» einer «Hand» organisierte Demonstrationszüge trainierten vor den Aktionen gemeinsam Sitzblockaden und die «fliessende» Umgehung von Polizeiketten. Erkennungsdienstliche Behandlung durch die Polizei verweigerten die Aktivist:innen durch das Verkleben der Fingerkuppen und das Abkleben von Tätowierungen, etwa mit einem im Baumarkt erhältlichen Silikondichtstoff.

Die dadurch ausgedrückte Haltung war rebellisch genug, um authentisch zu wirken, ohne die etablierte Politik komplett zu verprellen. Mit dieser Strategie gelang es Ende Gelände, eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz zu etablieren.

Ende Gelände prägte nicht nur eine neue Protestkultur, sondern auch das Denken und Handeln einer ganzen neuen Kohorte von Umweltaktivist:innen in Deutschland. In kaum einem anderen Land Europas war die Fridays-for-Future-Bewegung so populär. Dies lag sicherlich an der langen Tradition umweltpolitischer sozialer Bewegungen – nur war deren prägende Organisation in der entscheidenden Zeit eben Ende Gelände. Die verschiedenen, nicht nur von Ende Gelände, sondern vielen anderen Gruppen organisierten Klimacamps sind die Kaderschmieden der Bewegung. Es dürfte daher kein Zufall gewesen sein, dass die Polizei bei den Blockaden der Hafenzufahrten durch das «System Change Camp» auch Luisa Neubauer, die deutsche Sprecherin von Fridays for Future, abführte.

Das Hamburger Camp war auch ein Testlauf dafür, wie schlagkräftig die Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland nach zwei Jahren pandemiebedingter Kontaktbeschränkungen noch ist. Das Ergebnis war ernüchternd: Statt der erwarteten 6000 nahmen nur etwa 2000 Menschen teil. Waren zwei Jahre eine zu lange Zeit, um die geschätzt zumeist zwischen 18 und 22 Jahre alte Anhänger:innenschaft bei der Stange zu halten?

Kommt jetzt mehr Gegenwind?

«Die Bewegung hat viele harte Rückschläge eingesteckt», sagt Klimaaktivist Tadzio Müller. Er ist nicht nur einer der Gründer von Ende Gelände, sondern auch einer ihrer Vordenker. «Die Linke muss geil sein», formulierte er 2017 gegenüber der Wochenzeitung «Jungle World» das Konzept, mit dem Ende Gelände so erfolgreich war.

Der «Kohlekompromiss» der deutschen Regierung von 2019, der den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken bis 2035 festlegte? Aus Sicht von Ende Gelände eine harte Niederlage. Die Bundestagswahl 2021? Realpolitisch eine Bauchlandung. Brav warten auf das Ende der Kontaktbeschränkungen, während ostdeutsche Nazis und schwäbische Yogahippies gemeinsam gegen die Coronamassnahmen protestierten? «Das Problem ist, dass die Kids zu lieb sind», findet Müller, «sie sind es gewohnt, die Guten zu sein und von allen gemocht zu werden.» Diese Zeit sei allerdings vorbei.

Da ist wohl etwas dran. Über Bewegungen wie Fridays for Future berichtete die Presse meist freundlich, die Aktivist:innen wurden in Talkshows eingeladen. Nun aber droht die Stimmung zu kippen: Schon auf die Proteste der Gruppe Letzte Generation, deren Aktivist:innen seit Februar immer wieder Autobahnen blockieren, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen, reagierten die von den Störungen Betroffenen oft äusserst aggressiv. Die Auffassung von Leuten wie Christopher Basaldú, die Deutschen sollten lieber frieren als Flüssiggas aus den USA zu importieren, wird nicht unbedingt besser ankommen. Am Ende werden es wohl die Klimaaktivist:innen sein, die sich besser warm anziehen sollten.