Altersvorsorge: «Das Stelldichein der Lobbyisten führt zum Chaos»

Nr. 23 –

Das Parlament debattiert nächste Woche über die Berufsvorsorge, im Herbst steht die Abstimmung über die Erhöhung des Frauenrentenalters an. In der Altersvorsorge tobe ein eigentlicher Richtungskampf, sagt Gabriela Medici, die Sozialversicherungsexpertin des Gewerkschaftsbundes (SGB).

«Leistet sich die reiche Schweiz anständige Renten für alle – oder setzen sich die Banken und Versicherungen durch?» Gabriela Medici vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund.

WOZ: Frau Medici, der Schweiz steht eine hitzige Debatte über die Altersvorsorge bevor. Im September stimmen wir über die AHV-Reform ab, gegen die unter anderem die Gewerkschaften das Referendum ergriffen haben. Was sagen Sie Leuten, die für die Erhöhung des Frauenrentenalters stimmen wollen?
Gabriela Medici: Die Reform ist ausgerechnet ein Abbau auf Kosten jener, die heute schon am wenigsten haben. Statt Gleichstellung droht den Frauen mit der Reform eine weitere Verschlechterung ihrer Rentensituation. Sie sollen bezahlen, obwohl die Finanzprognosen des Bundes zeigen, dass die Reform für die finanzielle Situation der AHV letztlich kaum relevant ist? Drei Jahre nach dem historischen Frauenstreik? Das ist inakzeptabel.

Wo sind die Frauen bei der Altersvorsorge konkret benachteiligt?
Ihre Renten sind ein Drittel tiefer als jene der Männer – das Resultat der Benachteiligungen im Erwerbsleben. Frauen erhalten für die gleiche Arbeit immer noch durchschnittlich neunzehn Prozent weniger Lohn. Oft arbeiten sie in Tieflohnbranchen und aus familiären Gründen Teilzeit; insgesamt verdienen sie ein Drittel weniger als Männer. Den Frauen zu sagen, dass sie selber schuld seien, wenn sie dann zu wenig Rente erhielten, ist zynisch. Es ist dringend nötig, ihre Renten zu erhöhen.

Der SGB würde also unter gewissen Bedingungen zur Erhöhung des Frauenrentenalters Ja sagen?
Bei der Altersreform 2020 hat eine Mehrheit des SGB zugestimmt – weil die AHV ausgebaut und die Verluste der Frauen fast vollständig kompensiert worden wären. Mit der aktuellen Reform sollen die Verluste für die Übergangsgeneration zu grob einem Drittel kompensiert werden. So wenig hat man das letzte Mal 2004 geboten – die Stimmbevölkerung lehnte diese Reform mit 68 Prozent ab.

Der SGB hat eine Initiative für eine 13. AHV-Rente eingereicht, die der Bundesrat nun eben zur Ablehnung empfohlen hat. Er schreibt, die Existenzsicherung sei durch das Sozialsystem bereits garantiert.
Eine brutale Formulierung, mit der sich der Bundesrat auch von der Verfassung verabschiedet. Diese hält seit fünfzig Jahren fest, dass die AHV für sich allein existenzsichernd sein müsse, und zwar ohne Ergänzungsleistungen und zweite Säule. Die Hälfte der Leute, die heute in Pension gehen, erhalten alles in allem eine Rente unter 3500 Franken. Das reicht nicht. Grundsätzlich sind zwar alle einverstanden, dass auch eine Verkäuferin, eine Pflegerin oder ein Bauarbeiter im Alter anständig weiterleben soll. Die Frage ist also, wie wir das finanzieren.

Sie wollen es über die AHV tun.
Ja, für neunzig Prozent der Bevölkerung ist die AHV laut Zahlen des Bundes günstiger als die zweite Säule. Fast ein Drittel der Frauen ist ohnehin von der zweiten Säule ausgeschlossen, weil sie dort gar nicht versichert sind. Der Bundesrat folgt einem fragwürdigen Diskurs, wenn er sich gegen die Stärkung der AHV ausspricht. Die Banken führen seit Jahren Kampagnen, in denen sie die AHV schlechtreden. Dabei sprechen die Fakten für sich: Eine junge Person mit mittlerem Einkommen, die jetzt zu sparen beginnt, muss gemäss unseren Berechnungen bis zu 250 000 Franken mehr in die dritte Säule einzahlen als in die AHV, um später die gleich hohe Rente zu erhalten.

Der SGB hat eben eine neue Initiative lanciert, die einen Teil der Nationalbankgewinne für die AHV nutzen will. Soll so die 13. AHV-Rente finanziert werden?
Nein, die 13. AHV-Rente ist über Lohnbeiträge auch ohne SNB-Gewinne finanzierbar. Doch die Nationalbank hat mit der Ausweitung ihrer Bilanz in den letzten Jahren riesige Gewinne generiert. Diese gehören laut Verfassung der Bevölkerung. Die SNB hat bereits 2007, als sie ihr Gold verkaufte, den Gewinn an die AHV überwiesen – es wäre also kein Novum.

Wie erklären Sie sich den Widerstand der Bürgerlichen gegen die AHV?
Mit der AHV kann man kein Geld verdienen. Die zweite und die dritte Säule sind für die Finanzindustrie, die die Gelder anlegt, ein riesiges Geschäft. Die Leute haben berechtigte Sorgen, dass sie im Alter mit ihrer Vorsorge kaum leben können. Die Banken nutzen das, um ihre Produkte für die dritte Säule zu verkaufen. Hier ist ein grundsätzlicher Richtungskampf im Gang: Leistet sich die reiche Schweiz anständige Renten für alle – oder setzen sich die Banken und Versicherungen mit ihren gewünschten Teilprivatisierungen durch.

Was meinen Sie damit?
Die Bürgerlichen wollen verhindern, dass die AHV ausgebaut wird, die solidarisch finanziert wird – und mit der die Finanzindustrie nichts verdient. Und sie wollen eine zweite Säule, die möglichst nicht wie eine solidarische Sozialversicherung funktioniert, wie es die Verfassung eigentlich vorsieht. Sie möchten, dass alle für sich allein sparen und die Risiken möglichst alleine tragen. In einer solchen Welt haben nur Topverdiener:innen eine gute Rente. Der Mehrheit drohen tiefe Renten und Bedarfsleistungen.

Der Ständerat berät nächste Woche die Reform der zweiten Säule. Sie haben diese als Gewerkschaftsvertreterin mit dem Arbeitgeberverband mit ausgehandelt. Wo stehen Ihre ärgsten Gegner?
Die Mitte-Partei und die SVP sind geschlossen gegen den Kompromiss. Sie haben stattdessen bereits im Nationalrat ein Modell unterstützt, das der Pensionskassenverband Asip, der Versicherungsverband und andere eingebracht haben. Bei einem Teil der FDP und der GLP herrscht Chaos: Es ist unklar, ob sie mit der Mitte-Partei und der SVP mitziehen oder ob sie sich ein wenig auf den Kompromiss der Sozialpartner zubewegen.

FDP-Ständerat Josef Dittli hat einen entsprechenden Vorschlag im Ständerat gemacht.
Ja. Der Vorschlag ist zwar schlecht, aber er ist besser als das, was der Nationalrat entschieden hat. Entsprechend hat die Linke dafür gestimmt – um das grössere Übel zu verhindern.

Interessant, dass die Mitte-Partei rechts von der FDP politisiert. Dabei hat ihr Präsident Gerhard Pfister eben erst eine sozialpolitische Wende nach links in Aussicht gestellt.
In der Altersvorsorge ist das definitiv nicht der Fall. Das ist auch ein Erbe der letzten Reformversuche, bei denen die Mitte-Partei mit der Linken mitgezogen hatte. Das hat nicht geklappt – jetzt versuchen sie es mit der Rechten. Auch sonst fährt die Mitte-Partei einen Zickzackkurs, der schwer verständlich ist: An einem Tag sprechen sie sich etwa für den Ausbau der dritten Säule aus, am nächsten Tag dagegen.

Zum Kompromiss: Sie haben als Gewerkschaften darin unter anderem Ja zur Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent gesagt, der die Höhe der Renten bestimmt. Warum?
Wir haben eineinhalb Jahre intensiv mit dem Arbeitgeberverband verhandelt – und dabei zwei Ziele verfolgt: Erstens wollten wir die Höhe der Renten stabilisieren. Sie befinden sich seit zehn Jahren im Sturzflug – die Kassen senken die nicht gesetzlich festgelegten Umwandlungssätze für überobligatorische Ersparnisse immer weiter. Dieser Trend muss gestoppt werden. Zweitens wollten wir dort Verbesserungen, wo sie am dringendsten sind, insbesondere bei den Frauen. Sie sind oft teilzeitangestellt und haben tiefere Einkommen, entsprechend haben sie massiv tiefere Renten als Männer. Wir haben im Kompromiss beides erreicht – dafür mussten wir auf anderes verzichten.

Worauf?
Seit Jahren ist ein rasanter Konzentrationsprozess hin zu immer grösseren Pensionskassen im Gang, die wahnsinnig komplex sind und viel Geld für sich nehmen. Über acht Milliarden Franken sind laut der Finanzmarktaufsichtsbehörde Finma in den letzten fünfzehn Jahren an die Versicherungen abgeflossen. Die zweite Säule ist mit ihren Kosten für die Vermögensverwaltung von jährlich über fünf Milliarden Franken höchst ineffizient. Wir haben darauf verzichtet, diese Probleme anzugehen, um die Renten zu stabilisieren und teilweise zu verbessern.

Das wollen Sie mit einer neuen Abgabe von 0,5 Prozent auf den Löhnen erreichen. Sie soll für alle eine Zusatzrente von anfänglich 200 Franken finanzieren. Die Bürgerlichen haben diese Zusatzrente im Nationalrat jedoch auf ein Minimum gekürzt. Sie wurden über den Tisch gezogen …
Wir haben uns in den Verhandlungen mit den Arbeitgebern wenig geschenkt, beide mussten Federn lassen. Das Parlament lehnt diesen Vorschlag ab, hat aber auch keine bessere Idee für einen mehrheitsfähigen Plan: Josef Dittli hat ja seinen Vorschlag eingebracht, weil er weiss, dass der Plan des Nationalrats an der Urne keine Mehrheit finden wird.

Was hören Sie vom Arbeitgeberverband, mit dem Sie den Kompromiss ausgehandelt haben?
Nachdem sich die Bürgerlichen von ihm abgewandt haben, hat sich der Verband faktisch aus der Diskussion verabschiedet.

Die Bürgerlichen argumentieren, dass jene, die überobligatorische Ersparnisse haben, die Reform nicht spüren würden: Sinkt der gesetzliche Umwandlungssatz für obligatorisch Erspartes, können die Kassen den Umwandlungssatz auf überobligatorische Ersparnisse entsprechend erhöhen. Die 200 Franken Zusatzrente sollen darum lediglich jene erhalten, die nur obligatorisch versichert sind.
Die Leute spüren, dass ihre Rente auf überobligatorische Ersparnisse seit zehn Jahren immer weiter sinkt. Wer 2020 pensioniert wurde, hat laut Bundesamt für Statistik eine 200 Franken tiefere Rente pro Monat als jemand, der fünf Jahre vorher in Pension gegangen ist. Und das wird so weitergehen. Fragen Sie einmal in Ihrem Umfeld: Alle spüren, dass da etwas im Argen liegt. Wir wollen nicht nur den Abwärtstrend stoppen. Wir wollen, dass die erlittenen Verluste der letzten zehn Jahre kompensiert werden.

Anders als die Parlamentsrechte wollen Gewerkschaften und Arbeitgeberverband, dass die Zusatzrente nicht nur für eine gewisse Übergangsgeneration gilt, sondern für immer. Warum ist das wichtig?
Wegen des Preis-Leistungs-Verhältnisses in der zweiten Säule: Die Bürgerlichen wollen, dass Leute mit tiefem Einkommen und Teilzeitanstellungen viel mehr einzahlen, um im Alter mehr Rente zu erhalten. Für kleine Einkommen funktioniert die zweite Säule aber nicht: Sie müssen vierzig Jahre einzahlen, um eine Minirente zu erhalten, die nirgends hinreicht. Die zweite Säule funktioniert nur, wenn eine gewisse Solidarität spielt, die mit der Lohnabgabe von 0,5 Prozent gegeben wäre: Leute mit Toplöhnen würden etwas mehr zahlen, um damit die Renten der Kleinverdiener:innen mitzutragen. Der Banker würde für die Verkäuferin zahlen, und zwar dauerhaft. Das ist für uns entscheidend, damit wir einem Kompromiss mit all seinen schlechten Seiten zustimmen können.

SVP-Nationalrat Thomas de Courten, der das Modell der Versicherer ins Parlament gebracht hat, sagt, dass diese Art von Solidarität in die AHV gehöre.
Ich bin glücklich, wenn Herr de Courten mithilft, die AHV zu stärken. Das versuchen wir Gewerkschaften mit unserer Initiative für eine 13. AHV-Rente.

Von welchen Versicherern spüren Sie am meisten Opposition?
Von jenen der Hochlohnbranchen, der Banken etwa. Sie müssten sich überproportional am Lohnzuschlag von 0,5 Prozent beteiligen.

FDP-Ständerat Ruedi Noser meint, dass die Reform angesichts der steigenden Zinsen nicht mehr so dringend sei. Sind Sie damit einverstanden?
Den Kassen geht es tatsächlich besser denn je, nur kommt bei den Versicherten immer weniger an. Selbst die Oberaufsicht der zweiten Säule sagt mittlerweile, dass die Kassen die Renten der überobligatorisch gesparten Gelder womöglich zu stark gesenkt hätten. Wir werden als Gewerkschaften in nächster Zeit dafür schauen müssen, dass das Geld bei den Versicherten ankommt.

Sieht die Linke das nicht zu rosig? Den Kassen geht es darum so gut, weil die Zentralbanken mit billigem Geld die Aktienkurse in die Höhe treiben. Und die jetzigen Zinserhöhungen kommen ja nicht in einer Hochkonjunktur, es droht vielmehr eine globale Rezession.
Entscheidend ist, dass das Geld in den Kassen vorhanden ist. Dieses muss in höhere Renten fliessen. Bleiben die Zinsen dauerhaft tief, wird es umso wichtiger, endlich die AHV auszubauen, statt so stark auf die zweite Säule zu setzen, die vom Finanzmarkt abhängig ist.

Falls sich die FDP nächste Woche im Ständerat mit Dittlis Vorschlag etwas kompromissbereit zeigt, steigern die Bürgerlichen ihre Chance, die AHV-Reform im September an der Urne durchzubringen. Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Das ist ihre offensichtliche Strategie, ja. Wir sind jedoch ohnehin gegen den AHV-Ausbau zulasten der Frauen – egal was der Ständerat kommende Woche für die zweite Säule beschliesst. Zudem ist Dittlis Vorschlag ja immer noch meilenweit vom Sozialpartnerkompromiss entfernt.

Haben Sie noch Hoffnung, oder bereiten Sie sich bereits darauf vor, das Referendum zu ergreifen?
Die Lage ist undurchsichtig, das Stelldichein der Lobbyisten führt zum Chaos. Am Ende sind die Versicherten die Verlierer:innen: Viele Bürgerliche scheinen selber nicht zu wissen, was sie wollen. Die Mehrheit für Dittli in der Ständeratskommission war hauchdünn. Und seither hat er selber Zweifel an seiner Idee geäussert.

Dies, nachdem er von Bürgerlichen gerüffelt wurde …
Ja. Der Ständerat wird sich wohl für eine Vorlage entscheiden, die irgendwo zwischen der Version des Nationalrats und jener von Dittli liegt. Interessant wird sein, was die GLP dann macht: Die Partei hat immer gesagt, dass sie die Erhöhung des Frauenrentenalters bei der AHV an der Urne nur unterstütze, wenn es dafür in der zweiten Säule für die Frauen Verbesserungen gebe – wonach es nun aber nicht aussieht.

Gabriela Medici (36) ist seit 2018 Zentralsekretärin für Sozialversicherungen beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). Zuvor war sie Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums für Menschenrechte der Universität Zürich.