Wichtig zu wissen: Gefährliche Inspiration

Nr. 20 –

Ruedi Widmer über «lustige» Politiker und die Wehrhaftigkeit der Satire

Wenn man sich das russische Regime mit seiner brutalen Unterdrückung ansieht, denkt man auch an einen Roman wie «1984», in dem auch weit entfernt ein ewiger Krieg tobt, von dem man in London gar nichts mitbekommt.

Ich frage mich oft, woher Putin seine Ideen hat. Oder sein philosophisches Vorbild Iwan Alexandrowitsch Iljin und sein Einflüsterer Alexander Geljewitsch Dugin? Das «Z», die sprachliche «Sonderoperation» («Krieg ist Frieden»)?

Schriftsteller wie Aldous Huxley, Stanislaw Lem, George Orwell liessen sich von Diktaturen inspirieren. Lassen sich Diktatoren und fanatische politische Philosophen umgekehrt auch von kritischen Schriftsteller:innen inspirieren? Mich beschleicht das Gefühl, man sollte gewisse künstlerische Wahnsinnigkeiten für sich behalten, damit sie ein Fantasieloser wie Putin nicht in die Realität umsetzt.

Die Prügeltruppen der russischen Polizei erinnern an die Stormtroopers aus «Star Wars». Die fanatischen Abtreibungsgegner:innen in den USA an «Handmaid’s Tale», die Wirklichkeit erinnert immer mehr an die Serie, die viel mehr Menschen auf Netflix gesehen als in Buchform gelesen haben.

Welchen Einfluss hatte die Mediensatire «The Truman Show» (1998) auf die Schöpfer:innen der Endemol-Produktion «Big Brother» (ab 1999)?

Die US-Politsatire «House of Cards» wurde mit dem Beginn des Wahlkampfs von Donald Trump irrelevant. Der Gedanke, die Serie hätte keinerlei Einfluss auf den TV-Zapper Trump gehabt, ist abwegig. Und bei Trump wie bei Putin stellt sich die Frage, welchen Einfluss die Disney-Verfilmung von «Pinocchio» auf sie hatte.

Seit Ende der Neunziger wird die Politik immer absurder. Zehnjährige Cartoons von mir zeigen Zustände, die damals völlig übertrieben waren, heute aber in breiten Kreisen als normal gelten. Gerade von der Satire holen Rechtspopulist:innen ihre Ausreden für ihre Grenzverschiebungen: Es sei ja gar nicht so oder so ernst gemeint gewesen. Der Unterschied zur Satirikerin ist, dass diese ihr Bewusstsein, jetzt etwas Doofes oder Grenzüberschreitendes zu sagen, von Anfang an durchscheinen lässt, denn nur dann ist es lustig.

Boris Johnson oder der Cinque-Stelle-Gründer Beppe Grillo sind Witzbolde, die Politiker geworden sind. Oder Elon Musk mit seinen infantilen Tweets und seiner unfassbaren monetären Power. Diesen Personen ist bewusst, welch destruktive Macht sie damit ausüben.

Kommt bei einem Satiriker der Moment, wo der Witz in Macht umschlägt, muss dieser von ihm selber zwingend gebrochen werden. Das sagt das Gesetz der Satire, so wie es in unserer Bundesverfassung steht. Da ist tatsächlich die Grenze der Satire. Satire darf alles, muss aber Satire bleiben. Leider funktioniert das nur mit Selbstironie, einem eher seltenen Pflänzchen.

In der Politik hingegen hat das Fabulieren nichts verloren, da wird es zur Lüge. Immer mehr Politiker:innen, ganze Parteien, ganze Staaten adaptieren die satirischen Stilmittel der Imitation, der Übertreibung und Umkehrung. Da wird die Grenze der Politik bei weitem überschritten.

Böse gewordenen Politiker:innen ist anzuraten, den «Dargebotenen Lachmuskel» anzurufen oder einen Behandlungstermin bei einer Satirikerin zu buchen. Oft ist die Politikerin bereits nach drei bis vier Behandlungsstunden so fix und fertig, dass sie die Finger für immer von der Politik lässt.

Von den Milliarden, die in die militärische Verteidigung gesteckt werden, gehören zwei Drittel für den Aufbau einer effektiven Satire abgezweigt.

Nicht um Europa herum, sondern um böswillige politische Akteure herum müssen starke, dicke Abwehrmauern aus purer, reiner, unverdorbener Satire gebaut werden.

Ruedi Widmer lebt und arbeitet in Winterthur.