«Bändlistrasse»: Weder verklärend noch verurteilend

Nr. 20 –

Andreas Tobler arbeitet in einem Buch die Geschichte der militanten «Gruppe Bändlistrasse» auf. Erhellender als der RAF-Krimi ist die Sozialgeschichte dahinter.

Bakunin und die «Freak Brothers» an der Wand: Die Polizei fand bei der Durchsuchung der WG an der Bändlistrasse auch eine Destillationsanlage für Chemikalien. Foto: Stadtarchiv Zürich

Als Werner Meier aus dem Fenster sprang, lief in der Wohngemeinschaft an der Zürcher Bändlistrasse ein Tonband. Darauf sind die Gespräche vor dem Sprung zu hören, das Klirren der Fensterscheiben, die Stille und die Verzweiflung danach. Mit der Aufnahme wollten die Mitbewohner Meier demonstrieren, wie er jeweils reagierte, wenn er LSD konsumierte. Nun standen sie vor einem viel grösseren Problem. Sie rafften Pistolen, Munition und Geld zusammen und machten sich aus dem Staub.

Meier hatte den Sturz aus dem dritten Stock zum Glück überlebt und wurde von der Sanität ins Spital gebracht. Bei einer Hausdurchsuchung an der Bändlistrasse stiess die Polizei auf ein «Anarchist Cookbook» zur Sprengstoffherstellung und einen «RAF»-Schriftzug an der Wand, auf eine Destillationsanlage für Chemikalien sowie Waffen. Die Frage, die fortan die mediale Öffentlichkeit beschäftigte: War hier gerade eine Schweizer Zelle der linksterroristischen Roten Armee Fraktion (RAF) ausgehoben worden, als diese im Frühjahr 1972 zu einer Attentatsserie ansetzte?

Gespenster der Vergangenheit

In seinem neuen Buch hat Tamedia-Journalist Andreas Tobler die Geschichte der «Gruppe Bändlistrasse» aufgearbeitet. Von der RAF und ihren Beziehungen in die Schweiz geht offenkundig bis heute eine kriminalistische Faszination aus. Praktisch jede Waffe und Patrone, die sich auf Polizeifotos findet, ist im Buch abgedruckt. Und die NZZ packte für einen Folgeartikel wieder einmal die rot gefärbten Konterfeis der RAF-Fahndungsplakate aus. Dabei ist es gerade die Stärke von Toblers Recherche, dass er keine Gespenster in der Vergangenheit jagt, sondern mit den heute noch lebenden Beteiligten aus dem Umfeld der «Gruppe Bändlistrasse» über ihre Biografie und ihre Motive spricht. Meier ist 1990 verstorben.

Tobler schreibt weder verklärend noch verurteilend, sondern folgt der Neugier des Journalisten, der die Zeit selbst nicht erlebt hat. Das Ergebnis seiner Spurensuche, zu der auch die Entdeckung des Tonbands in einer Archivschachtel gehört, lässt sich so zusammenfassen: Die Schweiz war im antikapitalistischen Kampf der siebziger Jahre das, was sie auch im realen Neoliberalismus der Gegenwart ist – weniger Tatort denn Handels- und Umschlagplatz, besonders für Waffen.

Nachweisen kann Tobler, dass die «Gruppe Bändlistrasse» im Auftrag von RAF-Mitgründer Andreas Baader Zeitzünder für Sprengsätze lieferte, die allerdings nie zum Einsatz kamen. Wie Marcel Gyr und Thomas Skelton-Robinson in der NZZ nachzeichnen, war ein Mitglied aus dem Umfeld der Gruppe bei Waffenlieferungen noch aktiver. Tobler hat die Person aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes weggelassen, eine Anonymisierung wäre der Vollständigkeit halber besser gewesen. Mit der Frage nach den einzelnen Rollen sind wir definitiv bei der RAF-Geschichte als Krimi angelangt. Dabei sind die Achtundsechziger und ihre Nachwirkungen als Sozialgeschichte weit interessanter.

Das Heimsystem aufgebrochen

Werner Meier und sein Freund Kurt Koller, die den Kern der «Gruppe Bändlistrasse» bildeten, stammten von ganz unten. Als Meier noch ein kleines Kind war, kam sein Vater wegen einer Einbruchsserie ins Gefängnis und wurde später in Italien wegen eines falschen Mordverdachts zwanzig Jahre inhaftiert. Meier selbst kam in die Jugendanstalt Platanenhof im Kanton St. Gallen, wo er Koller kennenlernte: Dieser hatte wegen seines oft alkoholisierten Vaters eine gewalttätige Kindheit erlebt. Nach einer Reihe von Delikten, darunter Autodiebstahl, kam er ebenfalls ins Heim.

Wer im Platanenhof nicht spurte, wurde in den «Chacot» gesperrt, eine ungeheizte Zelle. Zur Strafe wurden die langen Haare der Jugendlichen rasiert, ein harter Einschnitt in ihre Selbstbestimmung, wie Tobler schreibt. Diese Missstände wurden von der «Heimkampagne» skandalisiert, einem Ausläufer der 68er-Bewegung. Jugendliche, die aus den repressiven Institutionen flüchteten, fanden in linken Kommunen und in der «Autonomen Republik Bunker» in Zürich Unterschlupf.

So auch Meier und Koller: Nachdem sie sich als «Jaguarbande» zuerst erneut mit Autodiebstählen beschäftigt hatten, formulierten sie ihre Absichten zunehmend politisch und zogen den bewaffneten Kampf in Betracht. Den Kontakt zur RAF stellte der Journalist Rolf Thut her, ein Kopf der «Heimkampagne». Besonders aufschlussreich ist die Episode, als Meier mit einem Kollegen in die Sommerferien nach Sizilien fuhr, wo sie auf die «High-Society der Bunkerbewegung» trafen, wie sich der Kollege in Toblers Buch erinnert. Über die Wortführer wie Goldküstensohn Guy Barrier hätten sie oft nur gelacht: so viel zu den Klassengegensätzen im Klassenkampf.

Dass die «Heimkampagne» dennoch sehr wirkungsvoll war, hält die Historikerin Renate Schär im Band «Zürich 68» fest. «Trotz ihrer kurzen Existenz trug sie entscheidend zur Debatte bei, die schrittweise zu Reformen in der Heimerziehung und im Jugendstrafvollzug führte.» Das klingt weniger spektakulär als die RAF-Verbindungen. Aber historisch bleibt die Abkehr von autoritären Erziehungskonzepten, die Leute wie Meier, Koller oder Thut in der Schweiz erkämpft haben, bedeutender.

Andreas Tobler: Bändlistrasse. RAF, LSD, PKO und TNT. Sachbuch. Echtzeit Verlag. Zürich 2022. 160 Seiten. 33 Franken