40 Jahre Auawirleben: Alles bleibt anders

Nr. 20 –

Was macht zeitgenössisches politisches Theater aus? Seit vier Jahrzehnten sucht und findet das Berner Theaterfestival Auawirleben immer wieder aufs Neue Antworten.

«Brüder, zur Sonne, zur Freiheit»: Im Stück von Dries Verhoeven singen Performer:innen mit Erfahrung in der Arbeits­migration das titelgebende Lied, die Arbeit erledigen Roboter im Hintergrund. Foto: Willem Popelier

«So haben Sie diesen Raum wahrscheinlich noch nie gesehen», sagt einer der Schauspieler ganz zu Beginn des Stücks «It Stays as It Is» von Mart Kangro, Juhan Ulfsak und Eero Epner aus Tallinn: Nur ein Teil der Sitzplätze im Berner Schlachthaus ist freigegeben, der Publikumsraum neonhell erleuchtet. Eine Bühne gibt es im herkömmlichen Sinne nicht, die «vierte Wand» ist hier tatsächlich eine graue Holzwand, die Schauspieler hocken in den Zuschauer:innenreihen und machen es dem Publikum unbequem. «Sie da hinten ganz am Rand, Sie können zwar Ihren Arm auf dem Geländer ablegen, aber wenn ein Feuer ausbricht, sind Sie der Letzte, der den Raum verlässt.» Dann deklinieren sie in kurzen Episoden die beschränkten Möglichkeiten des Wohnens in modernen Gesellschaften zwischen Traum vom Eigenheim und Nachbarkrach durch.

Auch eine Erkenntnis: Selbst diejenigen ganz oben mit komfortabler Sicht aufs Geschehen oder gar der Möglichkeit, ein Bein auf die anliegende Treppe auszustrecken, haben nicht unbedingt gewonnen im Leben. Und den «besten Platz» ganz vorne in der Ecke, den einzigen, auf dem man keinen anderen Menschen anschauen muss, hat das Trio sowieso nicht freigegeben. Ein Hinweis darauf, dass man Teil der Gemeinschaft bleibt, selbst wenn man noch so sehr die Abgrenzung sucht?

Ein gut erzogenes Publikum

«It Stays as It Is» war eine von neunzehn Produktionen, die am diesjährigen Theaterfestival Auawirleben unter dem Motto «The Private Matters» in Bern gezeigt wurden. Es war die 40. Ausgabe des Festivals – und nach der Pandemie die erste, die wieder normal stattfinden konnte. Leiterin Nicolette Kretz ist zufrieden. Zwar seien nicht ganz so viele Zuschauer:innen gekommen wie noch vor Corona, aber: «Es gab keine Dramen, keine Absagen, und viele Gruppen freuten sich darüber, wie toll das Publikum hier sei.» Das habe auch mit der langen Tradition des Festivals zu tun: «Ich glaube, in diesen vierzig Jahren ist das Publikum dazu erzogen worden, auf die Inhalte zu schauen. Es erwartet von uns explizit politische Stücke – rein ästhetische kommen oft nicht so gut an.»

Das heutige Auawirleben wurde 1982 als «Zeitgenössisches Theatertreffen» von Peter Borchardt, dem damaligen Schauspieldirektor des Stadttheaters Bern, gegründet. Im Zentrum standen zeitgenössische, deutschsprachige Stücke, die in den etablierten Theaterhäusern damals kaum Platz fanden – was heute anders ist. Der Fokus von Auawirleben hat sich deshalb innerhalb des zeitgenössischen Theaters neu ausgerichtet: «Die Essenz des Festivals ist aber dieselbe geblieben», sagt Kretz. «Wir versuchen zu programmieren, was es in den etablierten Häusern nicht gibt. Aktuell sind das internationale, spezielle Formate, die in einem Festivalrahmen besser zur Geltung kommen.» In der Grossen Halle etwa war eine Produktion von Dries Verhoeven zu sehen: Zehn bulgarische Performer:innen, alle mit Erfahrung in der Arbeitsmigration, singen jeweils während acht Stunden das Arbeiter:innenlied «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit» – dabei sitzen sie in einem Glaskasten, während hinter ihnen Maschinen Kisten hin- und herstapeln.

Und während das estnische Schauspieltrio mit seinem Stück den Theaterraum hinterfragt, findet einiges gar nicht erst dort statt. Für das «Physical Evidence Museum» von Laura Stasane und Jana Jacuka aus Riga wurde dem Publikum die Adresse einer hübsch eingerichteten Privatwohnung ausgehändigt. Die Gegenstände, die hier ausgestellt sind, verweisen alle auf Geschichten von häuslicher Gewalt – beigetragen dazu haben in Zusammenarbeit mit Frauenhäusern auch Frauen aus Bern. Ein Programmheft leitet das Publikum von Station zu Station: Alltagsobjekte wie eine Schere, eine Kreditkarte, Unterwäsche, ein Legozug oder ein Schokoladenkuchen sind nummeriert und jeweils einer Geschichte zugeordnet. Die kurzen Schilderungen im Heft zeugen von Gewalt auf verschiedensten Ebenen und lassen ihr Ausmass oft nur erahnen. Schon wähnt man sich als Publikum allein, als auf einmal eine Performerin durch die Räume geht und dann still und mit ausdruckslosem Gesicht am Lavabo Geschirrtücher faltet.

Heute gibts auch mal Feierabend

Sowohl in den Inhalten wie auch in den Strukturen des Festivals spiegelt sich der Zeitgeist wieder: Das erste Festival startete 1982 mit neun zeitgenössischen Stücken, allesamt von Männern geschrieben und inszeniert. Ende der neunziger Jahre stand das Junge Theater im Zentrum, Anfang der nuller Jahre kam das Thema «Kunst und Behinderung» auf. Ende 2021 hat das Festival das Manifest «Kunst ist keine Ausrede» verfasst. Es stellt Werte wie Umweltschutz, Respekt, Selbstfürsorge, Inklusion und Diversität ins Zentrum. Um verschiedene Einschränkungen abzubauen, gab es dieses Jahr öffentliche Gratisvorführungen und Gratiseintritte für Geflüchtete, es wurden Übersetzungen in Gebärdensprache angeboten und Produktionen für Seh- und Gehbehinderte zugänglich gemacht.

Teil dieses Umdenkens ist auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden des Festivals. Selbstausbeutung war jahrelang gang und gäbe. Beatrix Bühler, die bereits bei der ersten Ausgabe dabei war, 1999 die künstlerische Leitung übernahm und bis zu ihrem Krebstod 2014 das Herz und die Seele von Auawirleben war, kannte keinen Feierabend. Sie arbeitete locker 24 Stunden durch und verzichtete auch mal auf ihren Lohn, damit die Künstler:innen eine angemessene Gage erhielten. «Das waren Punks», sagt Nicolette Kretz über die damaligen Festivalmacher:innen, «aber halt auch Kinder ihrer Zeit.» Seit 2006 dabei, hat sie als neue Festivalleiterin 2015 die Arbeitszeiterfassung eingeführt. Dadurch konnte das Festival glaubhaft aufzeigen, dass es chronisch unterfinanziert war, und die Stadt erhöhte die jährlichen Subventionen 2020 um achtzig Prozent auf 600 000 Franken pro Jahr. Dieses Geld wiederum wird nicht nur in die Programmation, sondern auch in die internen Strukturen gesteckt. Faire Löhne gibt es nun für alle, nicht nur für die auf der Bühne. «Weil Kunst so ein hehres Ziel ist, glaubt man oft, unter diesem Deckmantel alles machen zu können», sagt Kretz. «Wir relativieren das – auch wenn unser Herz ganz fest für die Kunst schlägt.»

Wehtun und Spass machen

Dieses umfassende Verständnis von Theater als etwas, an dem viele Hände und Köpfe gemeinsam teilhaben und entsprechend anerkannt werden sollen, ist auch Thema des Stücks «Renacimiento» der spanischen Gruppe «La Tristura». Zu Beginn steht da ein einzelner Schauspieler, der in der Rolle von König Richard III. einen grossen Monolog hält. Dazu dröhnt laute Musik, das Licht ist gedimmt, die Nebelmaschine läuft, und als er fertig ist, übernehmen Techniker:innen – auch solche aus Bern – den Platz auf der Bühne: Schritt für Schritt bauen sie die Illusionsmaschinen des Theaters ab. Wir hören den Gesprächen und politischen Diskussionen über ihre Arbeitsbedingungen zu und erhalten gleichzeitig Einblick in ein Land nach dem Ende einer Diktatur. Wie man danach wieder zu leben beginnen kann, lautet denn auch die Frage, die gleich zu Beginn gestellt wird. Und wenn am Ende eine Gruppe Tänzerinnen mit den Techniker:innen wütend zu Kae Tempests «People’s Faces» tanzt, wird klar: Diese Wiedergeburt geht nur gemeinsam, und mit Soundtrack.

Beatrix Bühler sagte 1998 in einem Interview der «Berner Agenda» über Auawirleben: «Es darf wehtun und Spass machen. Was es nicht sein darf, auf keinen Fall: gleichgültig oder dogmatisch. […] Gott sei Dank rutscht das Theater näher an die Realität heran.» Und zu dieser Realität gehören eben auch prekäre Wohn- und Arbeitsbedingungen. Diese explizit in das Nachdenken über ein besseres Leben aufzunehmen, ist ein Teil dessen, was Auawirleben ausmacht.