Sachbuch: Vater der Intellektuellen

Nr. 19 –

In Frankreich gilt das 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung, schlicht als das «Jahrhundert Voltaires». Nach dem islamistischen Anschlag auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» 2015 trugen viele Demonstrant:innen ein Schild durch die Strassen von Paris, auf dem nur ein Name zu lesen war: Voltaire. Er steht für Meinungs-, Gewissens-, Wissenschafts- und Pressefreiheit, für Toleranz, für das Recht, Ideologien und Glaubenssysteme öffentlich zu hinterfragen.

Der in Fribourg lehrende Historiker Volker Reinhardt stellt Voltaire in einer neuen Biografie vor: den Intellektuellen und Vorkämpfer der Aufklärung, der in Fehden und Skandale verwickelt war, der mit den Mächtigen mal paktierte, mal öffentlich stritt. Überstanden hat Voltaire diesen lebenslangen Kampf nur dank ausserordentlicher Talente und einer atemberaubenden Produktivität. Fast fünfzig Theaterstücke hat er verfasst, fünf monumentale Geschichtswerke, darunter eine Gesamtdarstellung der menschlichen Zivilisation, zahlreiche philosophische Novellen, Hunderte von Pamphleten und Polemiken gegen die Macht von Thron und Altar, gegen Justizirrtümer und Missstände im Ancien Régime.

Reinhardt schildert die Stationen des bewegten Lebens Voltaires, der als einer der Ersten überhaupt vom Schreiben leben konnte und sogar reich und berühmt damit wurde. Er erinnert an seine Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, etwa mit Émilie du Châtelet, einer heute vergessenen brillanten Physikerin und Mathematikerin. Sie war es, die Newtons «Philosophiae Naturalis Principia Mathematica» in eine klare algebraische Form brachte. Auch Voltaire hatte ihr viel zu verdanken.

Von diesem kennen heute viele nicht mehr als ein paar Titel oder Figuren, etwa Pangloss, den Alles-Schönredner aus dem Roman «Candide». Wer mehr wissen will, etwa was dieses Europa ist, das heute gern beschworen wird, kann den Stammvater aller modernen Intellektuellen mit Reinhardts zugänglicher, fundierter Biografie besser kennenlernen.  

Volker Reinhardt: Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. C. H. Beck Verlag. München 2022. 607 Seiten. 48 Franken