Ersatzfreiheitsstrafen: Es geht nicht ums Geld

Nr. 19 –

Fast die Hälfte aller jährlichen Haftantritte in der Schweiz erfolgt, weil die Betroffenen ihre Bussen oder Geldstrafen nicht begleichen können.

Falsch geparkt und nicht gezahlt: Wie sinnvoll sind Haftstrafen für solche Übertretungen?

Sie seien freundlich gewesen, die Polizist:innen, die Besarta Ademi abgeholt haben. «Und ich habe ihnen auch gesagt, dass es mir leidtut», erzählt sie. Die Polizist:innen führten Ademi, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, ab und brachten sie ins Regionalgefängnis Biel. Das Vergehen, das ihr zum Verhängnis wurde, war eine nicht bezahlte Parkbusse über 120 Franken. Zwei Tage lang wurde sie dafür in der Haftanstalt eingesperrt, die in Medienberichten auch als «Schimmel-Knast» bezeichnet wird. «Ich war ganz alleine in meiner Zelle. Ich hatte Angst», erzählt sie.

Von den insgesamt 7345 Einweisungen, die 2020 im Schweizer Straf- und Massnahmenvollzug erfolgten, handelte es sich in 846 Fällen um sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen und bei 2516 Inhaftierungen um Bussenumwandlungen. Zusammengerechnet entspricht das einem Anteil von etwa 45 Prozent aller Hafteinweisungen. Die Haft dauert in der Regel freilich nur kurz, so wie im Fall von Ademi. Trotzdem: Im Schnitt wandern in der Schweiz jeden Tag fast zehn Personen hinter Gitter, weil sie ihre Bussen oder Geldstrafen nicht bezahlen konnten.

Welche Delikte den Ersatzfreiheitsstrafen vorausgehen, wird nicht erfasst. Eine vom Zürcher Amt für Justizvollzug in Auftrag gegebene Studie von 2018 kommt aber zum Schluss, dass es sich in einem Viertel der Fälle um Vergehen gegen das Strassenverkehrsgesetz handelt. Dazu zählt auch Besarta Ademis Busse wegen Falschparken. Die meisten Ersatzfreiheitsstrafen, gemäss der Studie sind es rund 40 Prozent der Fälle, betreffen allerdings das Personenbeförderungsgesetz. Das Delikt: Schwarzfahren.

Wenn ein Transportunternehmen eine Person mehrmals innerhalb kurzer Zeit beim Schwarzfahren erwischt, stellt dieses in der Regel einen Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft wegen «Erschleichens einer Leistung». Gesetzlich dazu verpflichtet ist es nicht. Die Staatsanwaltschaft kann dann einen Strafbefehl ausstellen. Wer die Rechnung nicht begleicht, wird betrieben. Und wenn auch die Betreibung nicht in einer Bezahlung mündet, dann wird die Busse schliesslich in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt. Bis zum tatsächlichen Haftantritt steht den Betroffenen die Möglichkeit offen, die Schuld zu begleichen und damit die Inhaftierung zu umgehen.

Besarta Ademi leidet unter Depressionen, zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung hatte sie kein Geld auf dem Konto. Schulden sogar, die sich immer weiter auftürmten: «Je länger ich sie nicht bezahlen konnte, desto höher wurden sie», sagt sie. «Jeden Monat kamen neue Mahngebühren hinzu.» Sie habe gewusst, dass es Konsequenzen habe, wenn sie ihre Busse nicht bezahle. «Aber es ging halt einfach nicht.» Und dass sie bis zum Schluss nicht in der Lage war, die Busse zu begleichen, ist keine Frage des individuellen Versagens – sondern so im System der Ersatzfreiheitsstrafe angelegt.

Eigentlich stellt schon das Betreibungsverfahren sicher, dass eine Busse bezahlt wird, sofern die Möglichkeit dazu besteht. Es beinhaltet die Pfändung. Das heisst, dass der Staat denjenigen, die über ein Einkommen verfügen, direkt beim Arbeitgeber so viel Geld vom Lohn abzieht, bis das betreibungsrechtliche Existenzminimum erreicht ist. Dieses sieht einen Grundbetrag von rund 1200 Franken vor. Auch allfällige Vermögenswerte können gepfändet werden. In anderen Worten: Ist die Betreibung einer Schuldnerin «unerbringlich», dann hat sie fast immer überhaupt kein Geld.

Ärger am Arbeitsplatz

Das bestätigt Lorenz Bertsch, Leiter der Caritas-Schuldenberatung St. Gallen-Appenzell. «Die Massnahme ist einschneidend und richtet sich gezielt gegen jene, die eh schon nichts haben.» Die Angst vor Ersatzfreiheitsstrafen sei immer wieder Thema in den Beratungsgesprächen. Besonders betroffen seien bereits verschuldete Personen, deren Lohn schon länger gepfändet wird. Das Geld, das ihnen bleibt, sei so tief angesetzt, dass viele von ihnen keine Chance hätten, ihre Busse zu bezahlen, so Bertsch. Und das Problem habe sich weiter verschärft, seit Schuldner:innen im Kanton St. Gallen so wie in allen Kantonen mit ihrem Grundbetrag auch ihre Steuern bezahlen müssen. Die unausweichliche Inhaftierung führe dann immer wieder zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. «Auch Entlassungen haben wir schon erlebt», sagt Bertsch. Dabei würden viele der Betroffenen das ursprüngliche Delikt des Schwarzfahrens nur begehen, weil sie sich kein Ticket leisten könnten, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. «So lässt man die Leute voll in den Hammer laufen.»

Die Zürcher Studie von 2018 kommt zum Schluss, dass Schwarzfahren wohl besonders oft zu Ersatzfreiheitsstrafen führe, weil es dafür keinerlei finanzieller Voraussetzungen bedarf. Anders als etwa Parkbussen: «Klienten, welche im Bereich des Strassenverkehrs delinquieren, haben in den meisten Fällen Zugang zu einem Auto oder besitzen selber eines», schreiben die Autoren. «Dies setzt zumindest gewisse eigene finanzielle Mittel voraus.» Gemäss derselben Studie betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen von Personen, die aufgrund von Verkehrsbussen inhaftiert wurden, 30 000 Franken.

Unsichtbare Hürden

So unsichtbar die Praxis der Ersatzfreiheitsstrafe in der breiten Öffentlichkeit ist, so gewöhnlich scheint sie in vielen Kontexten abseits der Mehrheitsgesellschaft. Nicht nur im Umfeld von Schuldenberatungsstellen. Besarta Ademi sagt, sie kenne viele Leute, die schon wegen geringfügiger Bussen im Gefängnis gewesen seien. Viele abgewiesene Asylsuchende, die in Rückkehrzentren von der Nothilfe leben, sind von dieser Massnahme betroffen. Und Adriana Ruzek vom Basler Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter sagt sogar: «Für unsere Klientel sind solche Verfahren ein Normalzustand.» Der Schwarze Peter werde von vielen Leuten besucht, die schlicht kein Geld hätten – auch nicht für ein Trambillett. Strafbefehle sind an der Tagesordnung. «Oft besteht aber auch ein pragmatischer Umgang damit», sagt Ruzek. «Ich kenne auch Leute, die froh darum sind, ein paar Tage lang im Gefängnis unterzutauchen.» Üblicherweise versuchten die Gassenarbeiter:innen aber, eine Umwandlung der Busse oder Geldstrafe in gemeinnützige Arbeit zu erwirken.

Die Voraussetzungen dafür variieren von Kanton zu Kanton. Üblicherweise gehört dazu das Aufenthaltsrecht in der Schweiz, was alle abgewiesenen Asylsuchenden ausschliesst. Die grösste Hürde aber ist, dass die Betroffenen dafür einen Antrag stellen müssen. Was voraussetzt, dass sie überhaupt von dieser Möglichkeit wissen. In manchen Kantonen und Verfahren wird sie auf dem Strafbefehl vermerkt. In anderen nicht. Etwa bei geringfügigen Delikten in Zürich, für die das Statthalteramt zuständig ist. Die St. Galler Staatsanwaltschaft schreibt auf Anfrage, sie weise in ihren Strafbefehlen grundsätzlich nie darauf hin.

«Ich wusste damals nicht, dass ich auch gemeinnützige Arbeit leisten könnte», sagt auch Besarta Ademi. «Und dass du die Schuld mit gemeinnütziger Arbeit begleichen kannst, steht auch nirgends.» Inzwischen habe sie ein Bekannter darauf aufmerksam gemacht. Als sie noch einmal kurz vor einer Ersatzfreiheitsstrafe gestanden sei, habe sie stattdessen einige Tage in einem Altersheim arbeiten können. Die Hürden im Umgang mit Strafvollzugsbehörden sind zwar unsichtbar, aber hoch: Nur ein Drittel der im Rahmen der Zürcher Studie befragten Inhaftierten haben angegeben, ihr Verfahren voll und ganz verstanden zu haben.

Hohe Kosten

Weder Ademi noch die anderen über 3000 Personen, die in der Schweiz jedes Jahr wegen geringfügiger Delikte inhaftiert werden, haben letztlich ihre Busse bezahlt. Stattdessen kosten Ersatzfreiheitsstrafen Geld. Die Zürcher Studie berechnet pro Hafttag und Person Kosten von 216 Franken. 2018 schlugen Bearbeitung und Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen demnach mit 5,9 Millionen Franken zu Buche. Der effektive Aufwand sei allerdings kleiner, schreiben die Studienautoren: weil unter Androhung der Haft viele Bussen schliesslich im letzten Moment doch noch bezahlt würden.

Das sei zynisch und gefährlich, sagt Lorenz Bertsch von der St. Galler Schuldenberatung. «Die Angst vor dem Gefängnis bewegt die Schuldner höchstens dazu, bei Verwandten noch mehr Kredite aufzunehmen oder auf illegalem Weg mehr Geld zu besorgen», sagt Bertsch. «Denn wenn sie die Möglichkeit hätten, die Busse von sich aus zu bezahlen, dann wäre die Busse ja schon im Rahmen des Betreibungsverfahrens beglichen worden.»

Es geht bei der Ersatzfreiheitsstrafe eben nicht ums Geld. Aber worum dann? Besarta Ademi sei nun schon länger nicht mehr wegen einer Busse in Bedrängnis geraten, sagt sie. «Das Gefängnis in Biel will ich nie mehr von innen sehen müssen.» Ihr Auto hat sie verkauft – aus Angst vor weiteren Bussen und weil sie es sich nicht mehr leisten kann. Sie spart damit eine ihrer letzten nicht zum Überleben nötigen Ausgaben ein. Ihr Fall macht klar, um was es bei diesem Strafmechanismus geht: um Disziplin – und um Bestrafung von Armut.