Auf allen Kanälen: Unaufgeregt und nett

Nr. 19 –

Viel Kultur, wenig Wertung: Seit zwei Monaten bietet die Onlineplattform «Hauptstadt» ihren Abonnent:innen «neuen Berner Journalismus».

Rückblickend liess der allererste Artikel vielleicht schon erahnen, was kommen würde. Das Berner Onlineportal «Hauptstadt» startete seine Berichterstattung vor rund zwei Monaten mit liebevoll selbstgestickten Smartspiders der Kandidat:innen für den Berner Regierungsrat (siehe auch WOZ Nr. 42/2021 ). Diese hatten darauf verzichtet, die offiziellen Smartvote-Fragebogen auszufüllen, weshalb die «Hauptstadt» übernahm. Ausgerechnet Smartspiders also standen am Anfang: die vom Politologen Michael Herrmann erfundene Vermessungsgrafik, die suggeriert, wertungsfrei abzubilden, wo Politiker:innen politisch stehen. Die spinnennetzförmigen Grafiken verzichten auf Kritik und inhaltliche Einordnung – und sie tun niemandem weh.

Viel Platz für Kultur

Etwa so lesen sich auch manche der über fünfzig «Hauptstadt»-Artikel, die bisher erschienen sind; aufgeteilt in die Sparten «Politik», «Gesellschaft» und «Kultur». Zwar sind sie alle gut und in unaufgeregtem Ton geschrieben, doch beschleicht einen beim Lesen manchmal das Gefühl, die Journalist:innen scheuten davor zurück, Position zu beziehen, und seien insgesamt sehr nett mit den Leuten, über die sie schreiben.

Unter dem Titel «Notfall Parkplatz» wird etwa ein Lift-Servicetechniker bei einer Autofahrt durch die Stadt begleitet. Der sympathische Mann darf einleuchtend erläutern, warum in der Stadt Bern auf keinen Fall noch mehr Parkplätze abgebaut werden sollten: weil nämlich jeder und jede möglichst rasch aus dem Lift gerettet werden will, wenn er oder sie mal stecken bleibt. Kaum ein Wort zur aktuellen politischen Debatte und auch nicht dazu, dass am Abend, als der Artikel online ging, im Stadtrat das neue Klimareglement Berns verabschiedet werden sollte. Nach den Wahlen im Kanton Bern erschien eine «Zusammenfassung in sechs Bildern» sowie eine Datenanalyse, die sich mit Fragen beschäftigt wie: «Wo leben die Topmotivierten?» oder «Wo verbrachten die Gemeindeverantwortlichen einen ruhigen Wahlsonntag?». Bereits zwei Texte widmeten sich dem Erfolg des kultigen Fussballklubs FC Breitenrain.

Doch es gibt auch Positives zu vermelden: So wird erfreulicherweise der Kultur ein grosser Stellenwert eingeräumt. Regelmässig erscheinen Theaterrezensionen, Film- und Ausstellungsbesprechungen sowie Texte zu verschiedenen Berner Kulturfestivals. Auch auf lokale kulturpolitische Themen hat die Redaktion, in der sich zurzeit zehn Menschen vier Vollzeitstellen und eine Praktikumsstelle teilen, ein Auge. Hier entwickelt sich die «Hauptstadt» durchaus zu einer Alternative zu den Berner Tamedia-Zeitungen, in denen immer weniger Kultur stattfindet.

Zum Krieg in der Ukraine und zu den Herausforderungen, die sich damit der Stadt und den Menschen in Bern stellen, publiziert die «Hauptstadt» vielseitige und auch überraschende Texte wie ein Porträt über Geflüchtete und deren Haustiere, ein angriffiges Interview mit dem FDP-Sicherheitsdirektor Philipp Müller, Artikel über die Problematik des russischen Erdgases in Berner Öfen sowie über die Situation der aus der Ukraine geflüchteten Menschen, die keinen ukrainischen Pass besitzen.

Auf‌fallend ist, dass die Kommentarfunktion kaum genutzt wird und es keine Leser:innendiskussionen zu den «Hauptstadt»-Texten gibt.

Chrige, Alec, Lorenz

Und dann war da noch dieses hymnische Porträt von Hansmartin Amrein, Mitgründer der Gelateria di Berna, ein Mann «auf dem schmalen Grat zwischen Genuss und Geschäft, Genie und Gusto». Der Text hinterliess auch deshalb einen schalen Nachgeschmack, weil Amrein einer von zahlreichen Berner:innen ist, die mit einem Werbefilm bei der «Hauptstadt»-Kampagne mitgemacht hatten. Ob das leser:innenfinanzierte Portal den anderen Werbeträger:innen – von der Chrige aus der Neuner-WG in der Länggasse über den Stapi Alec von Graffenried bis zum Politlobbyisten Lorenz Furrer – auch so eine unkritische Plattform bieten wird? Hier zeigt sich die grösste Herausforderung für die «Hauptstadt»: Die Erwartungen all jener, die für sie Werbung gemacht haben, sowie der zurzeit rund 3700 Abonnent:innen sind riesig – und völlig unterschiedlich. Die «Hauptstadt» scheint niemandem von ihnen auf die Füsse treten zu wollen. Das dürfte sie gerne etwas öfter machen.

www.hauptstadt.be