Barbara Lehnhoff: «Schreien heisst: Diese Botschaft ist wichtig»

Nr. 18 –

In ihrer Band Peter Kernel und solo als Camilla Sparksss geht die Tessinerin Barbara Lehnhoff extremen Gefühlen nach. Sie erzählt von ihrer Jugend in den kanadischen Wäldern und wieso die Tessiner Popmusik darbt.

«Peter Kernel ist unser imaginärer Freund»: Nach ihm haben Barbara Lehnhoff und Aris Bassetti ihre Band benannt. Foto: Daniela Baiardi

Auf Fotos sehen die beiden oft aus, als hätten sie gerade ein Auto geknackt oder sonst etwas Verruchtes angestellt – ein Paar wie aus einem Gangsterfilm. Aris Bassetti und Barbara Lehnhoff, er dunkelhaarig mit Schnauzbart, sie blond, gleichzeitig zerbrechlich und entschlossen wirkend, bilden den Kern von Peter Kernel, einer der wenigen Tessiner Bands, die es auf internationale Bühnen geschafft haben. Präzis, mit ungeheurer Energie, live ergänzt durch zwei Drummer, spielen Peter Kernel eine Form von Postpunk, die eingängige Melodien genauso liebt wie Abwege ins Experimentelle. Lehnhoff flüstert, spottet und schreit, oft kippt ihre Stimme auch ins Kindlich-Unheimliche.

Noch extremeren Gefühlen geht sie in ihrem Soloprojekt Camilla Sparksss nach (siehe WOZ Nr. 18/2019 ). An den Turntables kombiniert sie dunkle Industrialklänge zu einer Tanzmusik, die zwischen Ekstase und Erschöpfung schwankt. Seit Herbst 2021 spielt sie im Zürcher Schauspielhaus Livemusik in Friedrich Dürrenmatts «Besuch der alten Dame».

Lehnhoff schreibt die englischen Texte von Peter Kernel, inzwischen experimentiert die Band aber auch mit Tessiner Dialekt. Seit fünf Jahren seien Bassetti und sie kein Paar mehr, erzählt die Musikerin im Gespräch, aber so viel habe das gar nicht geändert: «Wir sind beste Freunde, und er ist immer noch die erste Person, die ich zum Brainstormen anrufe.»

WOZ: Barbara Lehnhoff, man liest, Sie seien in der kanadischen Wildnis bei minus 27 Grad geboren und in einem Wald voller Bären aufgewachsen. Ist das eine Legende?
Barbara Lehnhoff: Nein, das stimmt! In der Nähe von Kenora, im Nordwesten von Ontario, wo der Highway aufhört. Von Toronto muss man drei Tage fahren, von Winnipeg noch vier Stunden. Meine Eltern hatten ein Touristencamp zum Fischen und Jagen.

Ihre Eltern kamen aber aus Europa?
Ja, mein Vater ist Deutscher und hatte diesen verrückten deutschen Traum, nach Kanada zu gehen, zu fischen und zu jagen. Also tat er das. Meine Mutter ist Tessinerin. Sie arbeitete als Swissair-Hostess, hatte ein paar Tage frei und reiste per Autostopp von Winnipeg nach Toronto. Mein Vater nahm sie mit.

Gab es dort eine Schule?
Ja, im Ort, eine Fahrstunde entfernt. Kenora ist entstanden, weil rundherum Reservate der Native Americans liegen. Aber es gibt viel Separatismus. Als weisse Person darfst du nicht einfach in die Reservate, und das hat Gründe. Ich war ein paarmal dort, weil meine beste Freundin native war. Aber solche Besuche gibt es nicht oft. Die brutalen Kindswegnahmen sind noch nicht lange her, darum gibt es immer noch viel Hass.

Wie sind Sie ins Tessin gekommen?
Zum Studieren, ein Jahr Wirtschaft in Lugano, dann wechselte ich zu visuellem Design. Später arbeitete ich fürs Tessiner Fernsehen. Es scheint ziemlich absurd, dass die Schweiz die billigere Option sein kann, aber es war so. Die kanadischen Unis sind sehr teuer.

Und warum sind Sie im Tessin geblieben?
Ich wohne im Malcantone, und für mich ist das perfekt: eine gute Dosis Natur, aber nicht komplett ab der Welt. Direkt vor meinem Haus beginnt der Sentiero delle meraviglie, der ist wirklich magisch. Winzige Seitentäler voller Vögel, es sieht aus wie in Amazonien. Und Wasserfälle, wo du dahinter stehen kannst. Vor Covid spielte ich hundert Konzerte im Jahr, da ist es für mich super, heimzukommen an einen solchen Ort. Das Tessin liegt in der Mitte von Europa, und du bist schnell in Frankreich, wo wir viele Fans haben.

Wir Deutschschweizer:innen lieben das Tessin für die Ferien, aber eigentlich wissen wir nicht viel darüber. Auch nicht über die Kulturszene …
Sie ist hektisch, weil die Leute nach Italien orientiert sind – und leider gibt es in Italien kaum staatliche Unterstützung für Kultur. Ähnlich wie in Nordamerika: Kultur ist Business, und fast alle Musiker:innen brauchen Brotjobs. Die Tessiner Mentalität ist ähnlich: Die Menschen hier verhalten sich nicht wie Schweizer:innen, wenn es um Kultur geht. Es gibt ein Konzertlokal der Stadt Lugano, aber die meisten anderen waren privat und hörten wieder auf. Ich sage den Leuten immer wieder: Gründet doch einen Verein, ihr könnt dafür Unterstützung vom Staat bekommen! Aber ich komme nicht durch.

Wo spielt man als junge Band? In Milano?
Ja, du gehst nach Italien. Aber dort spielst du gratis. Darum gibt es kaum Tessiner Alternativrockbands, die von der Musik leben. Der Untergrund ist schon lebendig: Es gibt Konzerte in Wohnungen und eine grosse Hip-Hop-Szene. Aber der Gap zwischen dieser Szene und den Kulturanlässen, die die Stadt Lugano organisiert, ist riesig. Was im Tessin wirklich fehlt, sind Leute, die in der Kultur arbeiten und politisch Position beziehen.

Sie treten solo als Camilla Sparksss auf. Ist das eine eigenständige Person?
Ja. Eine Figur. Peter Kernel auch. Sie sind imaginäre Freunde von Aris und mir.

Camilla wirkt etwas «gfürchig» …
Sie ist mein gescheiterter Versuch, ein besserer Mensch zu werden. Ich wählte den Namen, weil wir mit einer Band auf Tour waren, die eine Frau namens Camilla dabeihatte. Sie war sehr schön, sehr zerbrechlich, trug ein hübsches Kleid – und sie haute jeden Tag ihr Tamburin so hart gegen den Oberschenkel, dass ihr Bein ganz blau war. Das passt, denn für mich ist Camilla Sparksss etwas Extremes.

Suchen Sie generell extreme Gefühle in der Musik?
Ich denke, das ist einfach, wie ich die Dinge erlebe. Und Aris auch – wir finden die Dinge entweder amazing oder total shit. Da ist nicht viel dazwischen.

Sind Sie eine wütende Person?
Nein! Meine Mutter fragte mich das auch, nach einem Konzert: «Was ist denn mit dir passiert? Warum bist du so wütend, warum schreist du so?» Aber ich schreie nicht, weil ich wütend bin. Als Menschen schreien wir viel, auch wenn wir glücklich sind. Es geht darum, die Botschaft rüberzubringen, und wenn du schreist, heisst das: Diese Botschaft ist wirklich wichtig. Speziell bei Peter Kernel brauche ich die Stimme auch als Instrument. Es geht oft vor allem um den Sound.

Wie entscheiden Sie, welche Songs für Peter Kernel und welche für Camilla Sparksss sind?
Wir probieren es einfach aus. Aris und ich spielen fast alle Songs in verschiedensten Versionen, bevor wir entscheiden. Wir haben eine Melodie, dann versuchen wir eine Metalversion, eine Popversion, eine elektronische Version … Aber das verändert sich gerade, denn jetzt schreibe ich für Camilla Sparksss mehr allein. Ich arbeite an einem Album mit Schlafliedern, das ist ganz anders: Mellotron, sehr ruhige Musik und Spoken Word.

Hat Corona Ihre Arbeit verändert?
Ja. Wir waren immer so gestresst, ich glaube, bei mir ging es wirklich Richtung Burn-out. Dann verlangsamte sich alles – das ist wohl auch der Grund, warum ich anfing, Schlaflieder zu schreiben. Seither leben wir viel mehr nach der Philosophie: Wenn du es heute nicht machen kannst, machst du es morgen. Auch was das Touren angeht, entwickelt es sich positiv.

Warum?
Vor Covid brauchtest du immer ein neues Album, um touren zu können. Also musstest du alle zwei Jahre ein neues aufnehmen. Das ist Bullshit, so kann man nicht sorgfältig arbeiten! Seit Covid rufen uns einfach Leute an, weil sie eine gute Liveshow wollen. Niemand sagt mehr: Ihr braucht ein neues Album, um wieder in Paris spielen zu können.

Gibt es Musiker:innen, mit denen Sie gern spielen würden?
Julian Sartorius – er ist fantastisch! Zumindest ein Stück haben wir mit ihm gemacht, denn als Nächstes veröffentlichen Peter Kernel ein Album mit zwölf Drummer:innen, jeder Song mit einer anderen Person. Da ist auch Domi Chansorn drauf oder Bernard Trontin von den Young Gods.

Und was macht Camilla Sparksss als Nächstes, nach den Schlafliedern?
Am liebsten eine Show mit Lagerfeuergeschichten. Die Leute stehen ums Feuer, und ich erzähle unheimliche Geschichten. Ich möchte gern den Bereich zwischen Konzert und Theater weiter erforschen. Aber ich muss zuerst mal mit meinem Booker sprechen – ich weiss nicht, wie gut man mit einem Feuer touren kann.

Peter Kernel spielen am Samstag, 7. Mai 2022, am WOZ-Fest in der Zürcher Roten Fabrik. www.woz.ch/fest