Kantonale Wahlen: Die grüne Welle setzt sich fort

Nr. 15 –

Die Kommentare zu den jüngsten Wahlen heben die Verluste der SP hervor. Das verzerrt aber das grosse Bild: Denn Rot-Grün konnte den gemeinsamen Wähler:innenanteil in den Kantonen steigern.

Am vergangenen Wochenende holten die Bürgerlichen bei den Staatsratswahlen in der Waadt nach zehn Jahren die Mehrheit zurück. Der «bürgerliche Schulterschluss» funktionierte so gut, dass selbst die bedeutungslose Mitte, die nicht einmal im Kantonsparlament vertreten ist, in die Regierung einzieht.

Geschlossenheit erprobten die Bürgerlichen zuletzt auch erfolgreich in Freiburg. Dort schaffte es die SVP in die Regierung. Und in Bern wehrten die Bürgerlichen einen Angriff der SP auf die bürgerliche Mehrheit klar ab. Die politische Figur des «bürgerlichen Schulterschlusses» schrieben FDP, CVP und SVP vor den Wahlen 2015 sogar in einen Massnahmenkatalog, den sie gemeinsam unterzeichneten. Das blieb allerdings ein Papiertiger.

Nun erlebt der Schulterschluss eine wirksamere Neuauflage – selbst im Bundesparlament, etwa bei den bedeutenden Reformvorlagen zur AHV und den Pensionskassen. In diesem Punkt hat sich die Mitte aus der Mitte verabschiedet und ist auf den knallharten sozialpolitischen Kurs der Rechtsbürgerlichen eingeschwenkt.

Irreführende Interpretationen

Anders als bei den jüngsten Regierungswahlen war Rot-Grün in den vergangenen sechzehn kantonalen Parlamentswahlen fast durchwegs erfolgreich gewesen. In Uri, Schwyz, Basel-Stadt, Schaffhausen, St. Gallen, Aargau, Thurgau, Jura, Solothurn, Wallis, Neuenburg und Freiburg wuchs der Wähleranteil um 0,1 bis 2,3 Prozentpunkte. Das ist mehr oder weniger ein Abbild der nationalen Wahlen von 2019.

Die grüne Welle setzte sich bei den Kantonswahlen fort, während die SP in fast allen Kantonen leicht bis happig verlor, wie etwa in Freiburg und Neuchâtel (-5,4 respektive -3,9 Prozentpunkte). Allerdings machten die Grünen diese Verluste mehr als wett – zumindest bis Anfang Jahr. Bei den Wahlen in Obwalden, Nidwalden, der Waadt und Bern konnten sie sie nicht mehr ganz ausgleichen. Doch hielten sich die Verluste in den beiden grossen Kantonen in Grenzen.

Die SP geht mit den sich verändernden Machtverhältnissen im linken Lager recht entspannt um. Als die WOZ die neuen Machtverhältnisse vor knapp zwei Jahren (siehe WOZ Nr. 26/2020 ) thematisierte, sagte der Bündner SP-Nationalrat Jon Pult: «Am Ende müssen wir in der Sache gemeinsam gute und erfolgreiche Politik machen.» Und die Zürcher SP-Nationalrätin und heutige Koparteipräsidentin Mattea Meyer meinte: «Wir treten nicht zu Wahlen an, um zu verlieren. Und da stehen wir natürlich auch in Konkurrenz zu den Grünen.» Die inhaltliche Zusammenarbeit mit den Grünen beeinträchtige das jedoch nicht. Dass das nicht bloss Lippenbekenntnisse sind, manifestiert sich an einer Initiative (Klimafonds), die die beiden Parteien gemeinsam auf den Weg bringen.

Die meisten Kommentator:innen fokussieren in ihren Kommentaren auf einzelne Parteien. Die NZZ kommentiert die jüngsten Wahlen rein parteipolitisch: «Die Stimmbevölkerung hat genug von der politischen Polarisierung – SP und SVP ernten, was sie gesät haben.» Auch die Tamedia-Zeitungen konzentrieren sich auf die Verluste der SP. Hilfreicher ist der Blick auf die Parteiblöcke: Die Linke legt insgesamt zu. Zählt man die Erfolge der GLP hinzu – manche Linke bezeichnen sie als progressive Mitte –, verändert sich die Schweiz zumindest gesellschaftspolitisch weiter Richtung links.

Erfolgreiche Abstimmungen

Auch wenn Rot-Grün zulegt: Die SP hat an den Wahlurnen tatsächlich ein Problem. Ihr Mediensprecher Nicolas Haesler sagt: «Die Verluste schmerzen. Weshalb wir verlieren, analysieren wir gegenwärtig genau.» Er relativiert jedoch: Seine Partei habe bei den kantonalen Wahlen vor 2019 zum Teil stark zugelegt. «Jetzt verlieren wir wieder, was wir damals gewonnen haben.» Ein Faktor seien sicher die erstarkten Grünliberalen. Sie holten im rechten wie im linken Lager Stimmen. Das Problem sieht Haesler nicht in der grundsätzlichen Ausrichtung der SP. Das zeigten diverse Abstimmungen. «Da waren wir erstaunlich erfolgreich, konnten das aber nicht in Wahlerfolge ummünzen. Das muss uns beschäftigen».

Als Erfolge erwähnt er etwa die No-Billag-Initiative, die Unternehmenssteuerreform III, das Nein zur Abschaffung der Stempelsteuer oder die Annahme der Pflegeinitiative. Auch die Coronapolitik von SP-Politiker:innen zugunsten von schwer getroffenen Branchen sei ein Beispiel für erfolgreiche Politik. Übrigens stellt auch GLP-Präsident Jürg Grossen den Linken bezüglich der Coronawirtschaftspolitik ein gutes Zeugnis aus: «Die Zusammenarbeit mit der Linken war gut, sie waren deutlich besser als die Bürgerlichen, die ja das Gewerbe zu ihrer Klientel zählen.»

Der nächste Wahltest steht Mitte Mai in Graubünden an. Jon Pult ist zuversichtlich. Der Bündner SP-Nationalrat interpretiert die jüngsten Wahlergebnisse als Konsolidierung des «historischen» Wahlergebnisses der nationalen Wahlen 2019. «Das linke Lager ist stärker geworden – und das bildet sich hier mehr oder weniger ab.» Die SP-Führung habe die Wahlergebnisse intensiv analysiert. Einen Strategiewechsel werde es deswegen nicht geben. Die Partei sei gut unterwegs.

Pult erwähnt die erfolgreichen Referenden gegen die AHV-Vorlage und die Verrechnungssteuer oder die Kita-Initiative – Themen, die im Wahljahr die Debatten bestimmen werden. «Und am Parteitag im Herbst thematisieren und klären wir die Europafrage.» Pult glaubt, dass sozialpolitische Themen angesichts der steigenden Inflation und der Auswirkungen des Kriegs gegen die Ukraine bei den Menschen wieder an Gewicht zulegen. Da könne die SP ihre Kernkompetenzen ausspielen.

Kein Schulterschluss im Bundeshaus

GLP-Präsident Jürg Grossen betrachtet nach den jüngsten Kantonswahlen die parteipolitischen Machtverhältnisse nüchtern: «Die Schweiz war immer ein bürgerliches Land. Und sie bleibt es vorläufig auch. Für die kommenden Wahlen erhoffe ich mir für meine Partei natürlich noch bessere Resultate und mehr Sitze, um diesen Zustand aufzubrechen. Denn entscheidend ist gerade im Bundesparlament bis jetzt immer noch Die Mitte. Ohne sie lässt sich politisch wenig durchsetzen.» Dass die bürgerlichen Parteien in Bern einen echten Schulterschluss zuwege bringen, glaubt er nicht. «Dafür sind die Sonderinteressen zu ausgeprägt. Die SVP macht ausserdem einen desolaten Eindruck, gerade im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg.» Ob sich das an der Wahlurne auswirke, sei schwer abzuschätzen.

Grünen-Präsident Balthasar Glättli ist erstaunt über manche Interpretation der Wahlresultate, auch von Politologen. «In Bern wurde das Abebben der sogenannt grünen Welle behauptet. Wir haben dort immerhin 2,7 Prozent zugelegt.» Glättli glaubt nicht, dass die «höchst realen» Themen Klimagerechtigkeit und Klimawandel an Bedeutung verlieren. Er verweist auf das Sorgenbarometer der Credit Suisse: «2006 machten sich 7 Prozent der Befragten Sorgen wegen des Klimawandels, inzwischen sind es 39!» Die Grünen haben, von Nidwalden abgesehen, in allen fünfzehn Kantonswahlen Wähleranteile hinzugewonnen.

Glättli sieht Rot-Grün nicht in der Defensive. SP und Grüne müssten sich allerdings fragen, weshalb sie bei Abstimmungen oft sehr gut mobilisierten und erstaunliche Erfolge erzielten, eine breite Mobilisierung bei Wahlen aber nicht hinbekämen. «Wahrscheinlich müssen wir uns als Parteien nicht zu sehr voneinander abgrenzen, sondern gemeinsam Projekte vorantreiben wie etwa bei der Klimafonds-Initiative.»