Pop: Die Welt nochmals im Camcorder

Nr. 12 –

Die Sängerin Gayle regiert die Charts, die Folkrockband Big Thief bezirzt die Kritik. Sie verbindet nichts, ausser: die Renaissance der nuller Jahre. Ist das Retro oder mehr?

Rockschrammelige Musik wie anno dazumal: Gayle. Foto: Acacia Evans

Gayle, siebzehn und Popstar der Stunde, hat schlechte Laune und beginnt die erste Liedzeile mit «Fuck you». Dafür stehen die letzten beiden Buchstaben im Songtitel «abcdefu». Die Sache ist nämlich die: Gayles Ex ist doof, ausserdem fährt er ein kaputtes Scheissauto, ein «broke-ass car». Also bricht sie mit ein paar Freund:innen in sein Haus ein, sie backen eklige Torten zum gegenseitigen Verschmieren und setzen im Rudel das Badezimmer unter Wasser. Das muss natürlich gefilmt werden, entsprechend oft halten alle den Mittelfinger in die Kamera, weil: FU.

Das letzte Bild dieses auf Youtube über hundert Millionen Mal angesehenen Videos zeigt einen Camcorder. Die Kamera ist ein Modell aus den frühen nuller Jahren, kurz vor Gayles Geburt 2004 also. Anfang 2022 dominierte ihr Hit die Charts in den USA und in Europa, auch in der Schweiz. Und nun ist ihr erstes Minialbum mit dem selbstbewussten Titel «A Study of the Human Experience Volume One» erschienen, eine gute Viertelstunde Pop-Rock mit zwei Singles, einer Ballade und noch etwas Beilage. Tiktok wackelt vor Freude. Doch warum benutzen diese Teenager eine für ihre Begriffe antike Technologie, die zu Striemen im Bild führt? Warum zücken sie zum schadenfrohen Filmen nicht einfach ihre Telefone?

Kajal und Riffs

Erstens: Mit Smartphones würde der Einbruch wohl krimineller aussehen. Jugendliche mit Werten wie Schlussmachen wegen Scheissauto begehen eine Straftat und brüsten sich damit auf Social Media? Fänden die Eltern nicht so toll, die immerhin die Konzertkarten finanzieren, wenn Gayle auf Tour kommt. Zweitens: Der Camcorder ist reiner Retro. Auch die rockschrammelige Musik erinnert etwas an Green Day, die in Gayles Geburtsjahr mit dem Album «American Idiot» zu Superstars wurden. Kajal um die Augen, gefärbte Haare, Fingerringe, Gitarrenriffs, die aus Punk plötzlich Pop behaupten: Das gibt es bei Green Day wie bei Gayle. Bei ihr kommt die Teenagerchallenge dazu, den Mund möglichst nicht zu öffnen beim Sprechen oder Singen. In einer Szene probieren die Jugendlichen die Kleider der Eltern an. Oder es sind jene des Exfreunds, der Retromode trägt. So oder so: Hier möchte jemand nicht nur in ein anderes Haus, sondern auch in eine andere Zeit einsteigen.

Schaut man mit diesem Retroblick auf die Popgegenwart, erscheinen viele Geister von früher. Am Zürich Openair im August sind mit den Arctic Monkeys und den Kings of Leon Bands Headliner, die vor zwanzig Jahren loslegten. Und ein neues Festival im alten Stadtflughafen Berlin-Tempelhof nennt im Juni als Erste Muse und The Strokes, beide Stars der frühen nuller Jahre. Muse stehen auch beim Open Air St. Gallen an erster Stelle; etwas weiter unten, aber ebenso fett firmiert mit Mando Diao schon wieder eine Gitarrenband dieser Zeit.

Schmerz und Druck

Bei den Festivals könnte man vermuten, dass die Millennials, zwischen den frühen achtziger und den späten neunziger Jahren geboren, nun alt genug sind, um an ihre Jugend erinnert werden zu wollen. Mit dreissig hört die Mehrheit auf, neue Musik zu hören, das haben mit Pop sozialisierte Milieus schon immer so gehalten. Die vielen Nuller-Jahre-Bezüge beschränken sich aber nicht auf die Popjugend der Millennials. Die Fans von Gayle sind jünger als die Millennials, die es im dritten Pandemiesommer an den Festivals mit der Musik ihrer Jugend krachen lassen wollen.

Der aktuelle Retroschub mit Destination nuller Jahre erfasst also Teenager, Millennials oder auch ältere Generationen, die sich an ihre ersten Fernsehserien erinnern, wie die Fortführung von «Sex and the City» unter dem Titel «And Just Like That …» zeigt. Man könnte sagen: Das ist nun mal so im kapitalistischen Mainstream, der Zyklen wie die Mode braucht, um Abwechslung zu bieten. Allerdings würden dann nicht so viele Player gleichzeitig gerade diese Zeit feiern. Und den Trend gibt es auch jenseits des dicken Mainstreams. Ein Beispiel ist eine seltsame Gruppe, die der Popkritik den Kopf verdreht und von einer ähnlichen Zeit träumt.

Big Thief heisst die Band um die Sängerin, Songwriterin und Gitarristin Adrianne Lenker. Und sie macht alles anders als die jugendliche Gayle, die alternden Jungsgitarrenbands auf den Festivals und erst recht die teuer eingekleideten «Sex and the City»-Figuren. Als Adrianne Lenker vor drei Jahren den Big-Thief-Song «Not» live mit der Band in einem Studio sang, zeigte die heute Dreissigjährige im Video einen schwarzen Zahn und sägte gegen Ende der intensiven Rocknummer hoch auf ihrer Gitarre herum. Schon damals erstaunte, dass Rock noch so etwas wie Schmerz und Druck darzustellen vermag. Vor einem Monat veröffentlichten Big Thief ihr fünftes Album, «Dragon New Warm Mountain I Believe in You». Das klingt schon im Titel nach dem Weird oder Freak Folk der frühen nuller Jahre, als eine junge Szene in New York US-amerikanische Traditionen für sich neu beanspruchte, als Erinnerung an widerständigen oder auch nur abseitigen Folk.

Wer die Vinylschallplatte bezahlen kann, hält ein Doppelalbum in den Händen: zwanzig Lieder zwischen Country, Bluegrass, ein paar Indiekrachern und etwas Trip-Hop. Und auch wenn die drei Männer mit den Bärten, den langen Haaren und dem städtischen Hippiestyle neben Lenker sehr zeitgenössisch wirken, fällt diese fabelhafte, eigensinnige und hervorragend gespielte Platte aus der Zeit.

Das Gute im Gestern

Darum geht es aber bei gelungenen Retrospielen: das Diktat der Zeit nicht anzunehmen und damit auf einen Mangel in der Gegenwart hinzuweisen. Nach zwei Jahren Doomscrolling auf dem Smartphone, nach dem endlosen Feed schlechter Nachrichten, den es schon lange vor dem aktuellen Angriffskrieg Russlands gab, liegt der Grund für die Zeitreisen schon fast auf der Hand: Die historische Haltestelle der frühen nuller Jahre verspricht im Vergleich zu heute eine analoge Idylle. Das Internet wuchs zwar wacker, aber es konnte noch nicht laufen, die Smartphones veränderten erst am Ende des Jahrzehnts den Alltag. Und unter «Social Media» hätte man damals vielleicht eine Obdachlosenzeitschrift verstanden, aber nicht ein alles durchdringendes Netzwerk, das auch Unmengen von persönlichem Hass und politischer Falschinformation verbreitet.

So wie jede Nostalgie reaktionäre Anteile hat, die vom reinen Leben träumen und dabei andere ausschliessen, steckt in den Retroinszenierungen auch kritisches Potenzial. Denn diese Fantasien führen ein wichtiges Unbehagen auf: Sie weisen darauf hin, dass eine andere Welt gerade erst möglich war. Weil die Zukunft so schwer zu denken ist, findet man die Bilder und Sounds dazu in der jüngsten Vergangenheit. Der Poptheoretiker Mark Fisher, der 2017 verstarb, betonte gern, wie Nostalgie auch progressiv verstanden werden kann, im Sinne von: Die Gegenwart ist nicht alternativlos.

Der Teeniestar Gayle und die sehr erwachsenen Indielieblinge Big Thief stehen beide gleichermassen in der nostalgischen Tradition, das Gute im Gestern zu suchen und der technologisch überhitzten Gegenwart ein Stück weit davonzurennen. Gayles Videos wollen zudem den Eindruck erwecken, als seien sie selbst gemacht und nicht ein Produkt der weltweit drittgrössten Plattenfirma Warner. Big Thief zeigen sich ähnlich handgestrickt, wenn sie im Video zu «Red Moon» in einem schlecht beleuchteten Kreis sitzen und live spielen (auch weil sie es so gut können: Alle haben am Berklee College in Boston studiert, dem Oxford der Musikschulen).

Künstlerisch trennen sie dabei Welten. Und das liegt nicht nur an der unterschiedlichen Zielgruppe. Es lässt sich an einem Kriterium erkennen, das Retro grob in zwei Gruppen teilt. Die erste Gruppe, Gayle, sucht einen bestimmten Punkt in der Vergangenheit und landet genau dort. Die zweite Gruppe, Big Thief, lässt sich weniger auf der Timeline festzurren. Vor zwanzig Jahren wären sie zwar nicht als Aliens aus der Zukunft aufgefallen, aber ihr Retrospiel bleibt unbestimmt und weicht so am Ende der Zeitzuschreibung wieder aus.

Ihr fabelhaftes neues Album fällt aus der Zeit: Big Thief mit Adrianne Lenker (vorne). Foto: Alexa Viscius

Die Vergangenheit, die Big Thief beschwören, hat es so tatsächlich nie gegeben. Das öffnet den Raum fürs offene Zuhören, für die Zukunft. Es ist mit ein Grund, warum ihr Album mit dem bescheuerten Namen, ich meine: «Dragon New Warm Mountain I Believe in You», als eins der besten dieses Jahres, wenn nicht dieses Jahrzehnts erinnert werden wird – spätestens in zwanzig Jahren.