Kultur im Ausnahmezustand: Zwischen Erschöpfung und Inspiration

Nr. 4 –

Wie geht es den Kulturschaffenden nach bald zwei Jahren im Ausnahmezustand? Die WOZ hat drei Künstler:innen nochmals getroffen, mit denen sie bereits im August 2020 gesprochen hatte.

  • Dennis Schwabenland
  • Anne-Marie Haller
  • Meret Lüthi

Seit knapp zwei Jahren findet Kultur in der Schweiz nicht oder nur im Ausnahmezustand statt: Als der Bundesrat am 16. März 2020 schweizweit die «ausserordentliche Lage» ausrief und strenge Coronamassnahmen anordnete, schlossen auch alle Kulturhäuser ihre Tore. Ab Juni konnte wieder Kultur stattfinden, allerdings unter starken Einschränkungen. Während einige Kulturinstitutionen ein reduziertes Programm präsentierten – mit entsprechend weniger Einnahmen –, blieben zahlreiche Lokale bis auf Weiteres geschlossen, weil sich eine Öffnung unter den gegebenen Bedingungen nicht gelohnt hätte. Das hatte auch starke Auswirkungen auf das Leben der einzelnen Kulturschaffenden.

Die WOZ traf damals im Sommer 2020 drei freischaffende Künstler:innen, die alle im Kulturhaus Progr in Bern ein Atelier haben: Die Dokumentarfilmerin Anne-Marie Haller, die Geigerin und Orchesterleiterin Meret Lüthi sowie der Schauspieler und Regisseur Dennis Schwabenland gaben Einblick in ihren Alltag im Ausnahmezustand und erzählten, wie sie mit der planerischen und finanziellen Unsicherheit umgehen und was die Situation mit ihrer Kreativität macht (siehe WOZ Nr. 35/2020 ).

Alle drei waren stark von den Einschränkungen betroffen. Sie waren müde von den ständigen Änderungen der Massnahmen, dem Verschieben und Umorganisieren der Anlässe, den Sorgen um die finanzielle Existenz und dem Kampf um die eigene Sichtbarkeit. Gleichzeitig drang bei allen auch Hoffnung durch: Sie versuchten, sich von den aktuellen Umständen zu neuen Ideen inspirieren zu lassen, und waren überzeugt, dass gerade dieser Ausfall zeige, wie systemrelevant Kultur sei.

Nun hat die WOZ die drei nochmals getroffen. Wie ist es ihnen die letzten eineinhalb Jahre ergangen, und wie sehen sie die Situation heute? Viel ist passiert: Ende 2020 kam es zu einem zweiten Kulturlockdown. Es folgten schrittweise Lockerungen, ab April 2021 konnten Bühnen sowie Kino- und Konzertsäle wieder mit begrenzter Zuschauer:innenzahl bespielt werden. Zwar wurden verschiedene Rettungspakete für die Kultur geschnürt, aber das nicht absehbare Ende des Ausnahmezustands machte den Künstler:innen auch im vergangenen Jahr zu schaffen. Mittlerweile dürfen die Säle mit 2G und Maskenpflicht wieder regulär gefüllt werden, doch noch ist das Publikum zurückhaltend.

Dennis Schwabenland : «Das Ganze hatte etwas Surreales»

Was er im Herbst machen wird, weiss der freischaffende Regisseur und Schauspieler noch nicht. Er kommt sich vor wie Terry Gilliam, spricht von stiller Triage für Kulturprojekte und denkt über neue Theaterformen nach.

«Die letzten zwei Jahre waren recht beschissen – auf unterschiedliche Art und Weise: 2020 sind mir fast alle Projekte ausgefallen, entweder ganz abgesagt oder verschoben. Ich habe ungefähr 17 000 Franken verdient durch meinen Beruf, der Rest waren RAV-Gelder. Das war schwierig – auch wenn die Schweiz zum Glück ein gutes Sozialsystem hat.

2021 war anders schwierig: All die verschobenen und angestauten Projekte wurden nachgeholt, Projekte haben sich zeitlich überschnitten, und ich musste Stücke zum Teil so umsetzen, wie ich es nicht wollte. Zum Beispiel ‹Time to Move›, ein Projekt mit Laien, das 2020 im öffentlichen Verkehr hätte stattfinden sollen. Wir führten es dann 2021 in der Grossen Halle der Reitschule auf, das Konzept mussten wir dreimal ändern, weil sich die Bedingungen dauernd änderten. Das Jahr endete schliesslich mit einer abgesagten Silvestervorstellung von ‹Brave New Life› wegen Corona in der Theatergruppe. Das war extrem frustrierend.

Im Juni ist die Premiere von ‹Gilgamensch› geplant. Das Stück haben wir 2020 gleich um zwei Jahre verschoben. Weitere Projekte habe ich nicht in Aussicht, was unüblich ist: Bei Normalbetrieb wäre ich bereits an einem Projekt für Herbst dran. Doch ich hatte bisher gar nicht die Kapazitäten im Kopf, um etwas Neues auszudenken, ausserdem sind auch keine Aufträge gekommen. Es fühlt sich ein bisschen an, als ob es eine stille Triage für Kulturprojekte gäbe. Bei unserem letzten Treffen im August 2020 war ich optimistischer, oder?

Raus auf die Strasse
Mit ‹Gilgamensch› komme ich mir vor wie Terry Gilliam im Film ‹Lost in La Mancha›: Ich weiss nicht, ob die Koproduktion mit dem Al-Kasaba-Theater aus Ramallah je zustande kommt. Im April wollen wir für Proben nach Ramallah. Aber ob das klappt? Wir haben für das Stück vor zwei Jahren digitale Proben gemacht – was ein sehr spannender Zugang ist, um ein Projekt zu starten. Mit einer guten Moderation kann man auf Zoom sehr gut diskutieren. Wir haben uns auch über Zoom vorgespielt, das war ziemlich cool. Doch ab einem bestimmten Punkt muss man sich treffen, wenn es nicht ein Onlineprojekt bleiben soll. Und solche habe ich genug gemacht.

Zum Beispiel letzten Frühling: Als wir die Proben für ‹Was bisher geschah› starteten, war die Situation für Kulturschaffende ungewiss. Wir mussten uns entscheiden, ob wir auf Livepublikum setzen oder online gehen. Wir entschieden uns für ein Onlineprojekt, was rückblickend richtig war. Wir haben jeden Abend live gespielt und mit einer 360-Grad-Kamera sowie einer Handkamera gefilmt – spannend war, dass wir durch dieses Setting neue Formate ausprobieren konnten.

Wichtiger Applaus
Das Ganze hatte auch etwas Surreales, weil wir ohne Publikum spielten. Normalerweise entwickelt sich ein Stück mit dem Publikum weiter, du merkst, welcher Witz nicht funktioniert, und änderst das beim nächsten Mal. Dieses Stück war irgendwie konserviert. Und dann der Applaus: Ich finde den schon wichtig. Als wir fertig waren und es völlig still blieb, war meine Reaktion aus meiner Erfahrung: Okay, das war schlecht.

Die Frage des Theaters als ‹Ort der Versammlung› treibt mich um. Wird Theater in Zukunft noch so stattfinden wie bisher? Wird das Publikum noch kommen? Ich höre von vielen Leuten, sie hätten aufgehört, in den Ausgang zu gehen. Die Frage ist, weshalb: Ist es die Angst, sich anzustecken? Ist es, weil sie sich daran gewöhnt haben, zu Hause zu bleiben? Oder weil sie verlernt haben, Kultur vor Ort zu konsumieren? Das wäre für uns der Super-GAU. Da frage ich mich, was müssen wir Theaterschaffende leisten, um das Publikum zurückzugewinnen? Haben wir es versäumt, die aktuellen Diskussionen, die auf der Strasse oder in den Chats stattfinden, ins Theater zu holen?

Vielleicht müssen wir an neuen Formaten forschen: Vielleicht können wir nicht einfach in diesen präpandemischen Zustand zurück, wo wir zwei Stunden mit anderen in einem Raum eingeschlossen sind und dieselbe Luft atmen. Vielleicht ist jetzt der Moment, um diese bürgerlichen Räume infrage zu stellen und das Theater raus auf die Strasse oder in hybride Räume zu holen. Daran weiterzudenken, habe ich grosse Lust.»

Aufgezeichnet von Silvia Süess

Meret Lüthi : «Plötzlich fand alles gleichzeitig statt»

Die Geigerin und Orchesterleiterin erlebte, wie die Hygienemassnahmen Einfluss auf die Klangqualität haben. Corona liess sie sechs Konzerte an einem Tag spielen und merken, dass das Geigenspiel sie auch ohne Konzertauftritte erfüllt.

«Seit dem März 2020 habe ich Routine bekommen im Verkraften von abgesagten Veranstaltungen. Die letzte Absage war diesen Januar, da hätten wir mit Les Passions de l’Âme, meinem Orchester für Alte Musik, das Barockfestival in La Valletta auf Malta eröffnet.

Zum Glück haut es mich nicht mehr aus den Socken, wenn es mal ein Konzert weniger gibt. Die letzten Monate zeigten, wie sehr mich das Geigenspiel und die Auseinandersetzung mit Partituren glücklich machen. Ausserdem schien mir die Ausnahmezeit ja dazu da, Neues zu entdecken – wenn man denn die Kraft hat.

Dicht gedrängt im Glühweinzelt
Während viele Einladungen ins Ausland abgesagt wurden, haben wir es in der Saison 2020/21 geschafft, alle Konzerte unserer Berner Konzertreihe in irgendeiner Form zu spielen – fast alle vor Livepublikum. Es hat sich gelohnt, dass wir gleich nach dem ersten Lockdown so weitsichtig waren und jedes Konzert doppel- oder sogar mehrspurig geplant haben. Wir konnten kurzfristig umdisponieren. So habe ich im November 2020 ein gross besetztes Orchesterprogramm mit internationalen Musiker:innen in ein kleines Programm für acht Musiker:innen von vor Ort überführt. Im Kanton Bern waren kulturelle Anlässe damals nur vor fünfzehn Zuschauer:innen erlaubt – wir spielten das Konzert sechsmal für je fünfzehn Personen.

Ich liebe solche Extremleistungen, und auch das Publikum war glücklich, weil es etwas bekam, von dem es gedacht hatte, dass es gar nicht möglich sei. Absurd war, dass gleichzeitig die Leute im Glühweinzelt um die Ecke dicht gedrängt am Trinken waren. Das durfte man ja. Hätten wir Essen aufgetischt, hätten wir vor viel mehr Publikum spielen können.

Spannend ist, wie die Hygienemassnahmen Einfluss auf die Klangqualität haben: Wir gaben während des zweiten Kulturlockdowns im Januar 2021 ein Geisterkonzert für SRF 2 Kultur. Für die Aufnahmen hielten wir den obligatorischen Abstand von eineinhalb Metern ein. Dadurch war es nicht möglich, alle Musiker:innen befriedigend über das Hauptmikrofon aufzunehmen, und wir mussten die Stützmikrofone mehr öffnen – das Resultat war eine artifizielle Klangmischung, ein typischer Coronasound. Da wurde mir klar, dass ich unter solchen Umständen keine sinfonische CD einspielen kann – selbst wenn wir Zeit hätten.

An der Belastungsgrenze
Auch das Tragen der Maske hat Einfluss auf das Spiel: Weil die den Klang übertragenden Backenknochen hinter der Maske stecken, hört man weder das volle Volumen noch das ganze Farbspektrum. Es ist auch schwierig, die reale Balance des Orchesters einzuschätzen. Ausserdem kommuniziere ich als erste Geige und Leiterin des Orchesters sehr viel mit meinem Gesichtsausdruck – davon fehlen etwa achtzig Prozent, wenn ich Maske trage.

Im Juni 2021 ging es dann wieder richtig los, und ich habe noch nie so viele erschöpfte Musiker:innen gesehen wie damals. Plötzlich fanden alle Veranstaltungen gleichzeitig statt – auch unsere –, und so von null auf hundert aufzudrehen, brachte uns an die Belastungsgrenze.

Die geschenkte Zeit während der abgesagten Gastspiele nutzten wir vielseitig: Im August ging die neue Website online, im September boten wir mit dem Orchester einen einwöchigen internationalen Kurs für Musiker:innen an, ab Oktober warben wir mit einer neuen Plakatserie, wir konnten neue Mitarbeiter:innen im Büro anstellen, und nebenbei machte ich politische Lobbyarbeit für ein neues Orchesterfördersystem.

Wir haben als Orchester in dieser ganzen Zeit nie Pause gemacht, sondern nonstop geliefert – finanziell war 2020/21 aber die schlechteste Saison seit unserer Gründung im Jahr 2008. Zum Glück konnten wir alle Musiker:innen, die nicht auftreten konnten, mit der durch den Kanton gesprochenen Ausfallentschädigung zu achtzig Prozent entschädigen. Ich weiss von Musiker:innen in England, die ihren Beruf wechseln mussten, das ist hier nicht der Fall.

Schön ist, dass laufend neue Projekte starten – im März spielen wir ‹Il trionfo› von Georg Friedrich Händel, begleitet vom Livezeichner Vincent Flückiger – und dass wir jetzt die nächste Saison feinplanen, auf die ich mich sehr freue. Somit ist die Präsenz der Zukunft im Moment viel grösser als die Last der Vergangenheit.»

Aufgezeichnet von Silvia Süess

Anne-Marie Haller : «Der Übergang ins aktive Leben war schwierig»

Die Filmemacherin reiste nach Sotschi, hatte einen persönlichen Lockdown im Kulturlockdown und sucht nun nach ihrem welschen Grossvater.

«Geh ich nach Russland oder nicht – das war bei unserem letzten Gespräch im August 2020 die grosse Frage. Ich wollte die Band Klapparat filmisch auf ihrer Tour begleiten. Das hat dann tatsächlich geklappt! Vom Erlebnis her war das etwas vom Schönsten, was uns passieren konnte – ich muss fast wieder ‹gränne›, wenn ich daran denke.

Die Band konnte endlich wieder raus und vor Publikum spielen, und ich konnte Bilder einfangen. Das Schöne am Dokumentarfilmemachen ist ja, dass man an Ecken der Welt kommt, an die man sonst nicht gelangen würde. Die Tour begann in Sotschi, Wladimir Putins Retortenstadt – ein Wahnsinn! Die Band spielte auf einer riesigen Festivalbühne, davor standen tausend Stühle, alle schön mit eineinhalb Metern Abstand. Die Band kam mehr oder weniger aus dem Lockdown, und dann stand sie plötzlich vor tausend Zuschauer:innen. Die Stühle waren alle besetzt, und das Publikum ging voll mit. Ich habe einen Videoblog gemacht mit einem zwanzigsekündigen Beitrag jeden Tag sowie eine längere Dokumentation.

Leider konnte die Band nur drei von elf geplanten Konzerten spielen, und als wir zurückkamen, gingen sofort die Grenzen zu.

Draht zur Realität verloren
Eine sehr schöne Geschichte. Dann folgte eine weniger schöne: Im November 2020 bekam ich die Diagnose Brustkrebs, es gab einen persönlichen Lockdown im Lockdown. Dass ich arbeitsunfähig war in einer Zeit, in der auch sonst alles stillstand, hat mir irgendwie geholfen. Ich konnte mir sagen, ich verpasse nicht so viel. Nach der ersten Woche Bestrahlung bekam ich Corona. Es hätte mich schlimmer treffen können, aber es war schon heftig. Und die Isolation ist etwas vom Verrücktesten, das ich je erlebt habe. Es ist so unnatürlich, dass du alleine bist, in einer Situation, in der normalerweise jemand zu dir schauen würde. Und: Du musst dich mit hohem Fieber und Schmerzen um Covid-Test und Contact Tracing kümmern oder selber entscheiden, ob du einen Arzt brauchst …

Am 8. März, dem Internationalen Tag der Frau, hatte ich meine letzte Bestrahlung. Das feierten wir in unserem Garten. Ich war erstaunt, dass alle, die ich eingeladen hatte, kamen. Ich hatte den Draht zur Realität verloren, und es war mir nicht bewusst, dass auch die anderen im Lockdown waren und einander kaum gesehen hatten.

Der Übergang ins aktive Leben war schwierig. Sich in einer Welt wieder zurechtzufinden, die noch nicht richtig läuft, ist nicht einfach. Du kannst nirgends einfädeln. Da war der Stillstand im Kulturbetrieb, mein Stillstand – und am eigenen Körper zu spüren, wie endlich deine Zeit ist, macht auch etwas mit dir. Ich stellte mir viele Fragen: Will ich überhaupt noch Filme machen? Und wozu, wenn gar kein Publikum mehr da ist? Wo will ich meine Energie noch investieren? Hinzu kam auch die finanzielle Unsicherheit. Ich habe Ausfallentschädigung beantragt, das ist furchtbar aufwendig, aber es hat sich gelohnt. Das war übrigens auch eine sehr schöne Erfahrung, zu sehen, dass endlich realisiert wurde, dass die Kulturbranche mehr Unterstützung braucht.

Nicht für die Katz
Was ich beim Dokumentarfilmen gelernt habe, ist, nicht dem nachzutrauern, was ich verpasst habe, sondern bereit sein für das, was sich auftut. Im Sommer tat sich Neues auf: Ich stellte eine neue Veranstaltungsreihe im Berner Kulturzentrum Progr auf die Beine, ‹CinéHalle›. Und dann ging ich nach Berlin, um an einem neuen Filmprojekt zu arbeiten. Anstoss dazu gab eine Corona-Unterstützungsmassnahme zugunsten der Filmschaffenden, wobei der gesprochene Betrag nur durch ein neues Projekt ausgelöst werden kann.

Ich arbeitete an zwei Ideen: Ein Filmprojekt hätte mich nach Palästina geführt, das andere an den Neuenburgersee zu meinen welschen Wurzeln. Ich habe mich schliesslich für Letzteres entschieden. Es ist viel einfacher, an den Neuenburgersee zu reisen als nach Ramallah – nicht nur wegen Corona. Hinzu kommt, dass alles, was ich im Zusammenhang mit meinem welschen Grossvater herausfinde, mich persönlich betrifft und ich nachhaltig etwas davon habe. Selbst wenn es am Ende keinen Film geben würde, wäre diese Arbeit also nicht für die Katz.»

Aufgezeichnet von Silvia Süess