Jörg Steiner: Delinquenten, Fahrende, Arbeitslose

Nr. 50 –

Zu Unrecht nur ein viel gerühmter Geheimtipp: Eine neue Werkausgabe lädt dazu ein, den leisen Rebellen und lebensklugen Schreiber Jörg Steiner (1930–2013) wiederzuentdecken.

Vielen ist Jörg Steiner als Autor begegnet – als Verfasser grandioser und lange nachhallender Kinderbücher, meist vom Künstler Jörg Paul Müller kongenial illustriert. «Der Bär, der ein Bär bleiben wollte», «Die Menschen im Meer», «Die Kanincheninsel», «Der Mann vom Bärengraben» lauten einige der Titel, die zu Klassikern wurden. Dagegen blieb der Bieler Autor mit seinen Texten für Erwachsene eher ein viel gerühmter Geheimtipp, der zu Unrecht weniger gelesen wird als seine Freunde Peter Bichsel oder Max Frisch.

Jetzt legt der Suhrkamp-Verlag Steiners Werk in einer vierbändigen Ausgabe neu auf. Diese versammelt vier Romane, neun längere Erzählungen sowie rund dreissig kürzere Geschichten, Essays und Reden aus fünf Jahrzehnten. Es fehlen die Gedichte, mit denen Steiner debütiert hat, und auch ein paar dramatische Versuche. Doch erlauben die vier Bände, die enorme thematische Spannweite ebenso wie die Unverwechselbarkeit von Steiners Werk neu auszuloten. Dabei erweisen sich seine unauffällige, aber eindringliche Kritik an hiesigen Zuständen und sein poetischer Eigensinn als faszinierend aktuell.

In seiner Kindheit mit realen Ängsten – Krieg, Krankheit der Mutter, Schuldrill – konfrontiert, hat Jörg Steiner früh Zuflucht bei Büchern gefunden. Im Lesen hat er sich die Welt erschlossen, sich später damit gegen den Kleinstadtmief in einem kleinmütigen Land gewehrt. Der einstige Primarlehrer sagt in seinen Büchern fast nie «ich», und doch handeln sie stets auch von ihm und seiner Zeit. Er wollte, wie er selbst sagte, «aus einem Buch verändert» herausgehen und die «eigenen Grenzen schreibend erweitern». Dabei tastet Steiner sich in seinen dichten Texten zum Rand des «Nicht-mehr-Sagbaren» vor.

Abweisende Gesellschaft

Dieser Prozess lässt sich nun in der von Herausgeber Martin Zingg sparsam und kenntnisreich kommentierten Neuausgabe über Jahrzehnte verfolgen. «Erzählen heisst Leben gewinnen» liest man in der Erzählung mit dem bezeichnenden Titel «Fremdes Land». Steiner, zwar zeit seines Lebens in Biel ansässig, hat die Schweiz als «nahes und fremdes Land zugleich» empfunden. Seine Buchtitel beschreiben treffend den Tonfall und das Interesse seines Schreibens: «Ein Messer für den ehrlichen Finder», «Schnee bis in die Niederungen», «Das Netz zerreissen», «Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch». Vom ersten Roman «Strafarbeit» (1962) an hat Steiner sich nie für heroisches Personal oder rein private Verwicklungen interessiert, sondern für die Stellung des Einzelnen in einer oft als abweisend erlebten Gesellschaft. Steht im ersten Roman ein aus einer «Arbeitserziehungsanstalt» entwichener Zögling im Fokus, sind es später Delinquenten, Fahrende, Arbeitslose, Menschen ohne Macht und Besitz.

So kompromisslos er in seinem Einsatz für Schwächere, für sozial oder politisch Ausgegrenzte wirkt, hält er doch Distanz: einer, der vor allem genau hinschaut. «Wir sind ALLE Randfiguren», sagte er einmal. Steiner will nie erklären, sondern erzählen. In einer so einfachen wie makellosen Sprache, in leuchtenden, nie prunkenden Farben. Oft lakonisch, hartnäckig, mit anarchischem Eigensinn, mit zarter Empathie und gezielten Lücken für die Lesenden.

Berühmt sind Steiners poetische Ausflüge in die Wetterkunde. Niemand sonst hat in der Schweizer Literatur wohl so häufig und stimmig Situationen und Figuren über Wetterbeobachtungen charakterisiert. Ein Beispiel aus der Erzählung «Der Kollege» (1996), der arbeitslose Bernhard Greif durchstreift ziellos auch bei Regen die Stadt: «Im Herbst […] wird der Regen leise und kalt. Es regnet aus der Nebeldecke heraus, als sei der Himmel nicht mehr in der Lage, das Wasser zurückzuhalten. Es ist ein Regnen wie aus Krankheit oder Überdruss und Langeweile. Kraftlos und lustlos ist es und tonlos, weder Prasseln noch Rauschen, weder Strömen noch Tosen. Langsam dringt die Feuchtigkeit in Schuhe und Kleider. Der Geruch von Hundedreck breitet sich aus.»

Nüchterner Zauber

So präzis und sinnlich Steiners Texte einzelne Szenen vergegenwärtigen, so bleiben sie als Ganzes doch oft in einer durch ihren Sound erzeugten Schwebe, verweigern jede Eindeutigkeit. In Steiners letztem Buch, «Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean» (2008), das von einem dreimonatigen Aufenthalt 1996 als Gastdozent in Los Angeles handelt, schreibt der Autor, nach einer wunderbar flirrenden Begegnung mit einer Frau: «Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht.» Und prägte damit eine Formel für sein gesamtes Werk. In einem jetzt erstmals gedruckten Typoskript aus dem Nachlass hat Steiner den Gedanken variiert: «Dass etwas geschieht, heisst nicht, dass wir das, was geschieht, auch verstehen. Diese Einsicht ist unangenehm und schwer erträglich.»

Diesem schwer Erträglichen hat sich Jörg Steiner zeitlebens existenziell ausgesetzt und dafür Geschichten gefunden; jederzeit wusste er, dass Erzählen auch heisst, «sich auf die Schliche zu kommen» (eine Formulierung, die sich fast wörtlich auch bei Max Frisch findet). Steiners Ernsthaftigkeit im Verbund mit der Dichte und dem nüchternen Zauber seiner Sprache schafft jene Intensität, die jede Lektüre seiner Texte erzeugt.

Lesende als Verbündete

In seine Texte flocht Steiner poetologische Sätze ein, etwa: «Es muss gelingen, das, was wichtig ist, wie beiläufig zu sagen oder gar nicht zu sagen und auszusparen», oder: «Auf das Nebenbei kam es an; das Wichtige wurde immer nebenbei gesagt.» Das sind Angebote an mündige Leser:innen, die der Autor als «Verbündete» gewinnen wollte. In einem Gespräch nennt er die Lesenden einmal «kritischere Menschen» (als die Nichtlesenden in der «gleichmacherischen und ermüdenden» TV-Bilderwelt). Beim Schreiben stellte er sich die Leser:innen konkret als Gegenüber vor. Während er auf seine Olivetti-Schreibmaschine von 1952 einhämmerte, sprach er sich laut vor, was er schrieb. «Wichtig ist für mich der Vorgang des Schreibens, des Suchens nach Sprache, die Verzauberung, das In-sich-hinein-Schauen, die Versenkung.» Diese Erfahrung überträgt sich auch auf die Lesenden.

Auch persönlich blieb der Autor bis zuletzt ein Suchender ohne Gewissheiten. Er beeindruckte durch seine Präsenz, die Genauigkeit seiner Fragen, seine Verletzlichkeit und seinen verschmitzten Humor. Und durch die stimmungsvolle Schönheit seiner Prosa, wie in den letzten Sätzen des Romans «Weissenbach und die anderen» (1994), ein Buch über Biel, in dem Steiner auch seine Erfahrungen in politischer Praxis kritisch reflektiert: «Am frühen Abend flammen im Licht der Strassenlampen die Bäume auf, lindengolden und kastaniendunkel. Über sie hinweg geht der Blick durch die ausgedünnten Kronen zum gegenüberliegenden Hang, der sich als Schattenriss vom Himmel abhebt, bevor der aufsteigende Nebel ihn auflöst, die Stadt unter sich begräbt und den Geruchssinn der Hunde verwirrt.»

Jörg Steiner: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Martin Zingg. Suhrkamp Verlag. Berlin 2021. 4 Bände, 1788 Seiten. 104 Franken