Sebastian Kurz: Er wird weiterzocken

Nr. 31 –

Österreichs Bundeskanzler könnte demnächst auf der Anklagebank landen. Sebastian Kurz will unter allen Umständen im Amt bleiben – und inszeniert sich als Opfer der Justiz.

Der stets sauber frisierte Staatsmann ist nervös. Letzte Woche wurde dem österreichischen Parlament nach rund anderthalb Jahren der Beweisaufnahme der vorläufige Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur sogenannten Ibiza-Affäre vorgelegt. Spektakuläre Aufdeckungen über Bundeskanzler Sebastian Kurz finden sich darin zwar nicht. Weil ihn die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) aber verdächtigt, gegenüber dem Ausschuss Falschaussagen gemacht zu haben, könnte er dennoch auf der Anklagebank landen. Als erster amtierender Regierungschef von Österreichs Zweiter Republik. Auch andere PolitikerInnen seiner ÖVP sind im Visier der Behörden.

Seit Mai ermittelt die WKStA gegen den Bundeskanzler, der darauf mit einem Angriff auf deren Integrität reagierte. Wenige Tage nach Veröffentlichung des Ibiza-Berichts stellte er einen bizarren Vergleich an: «Es gab eine Institution, die ist früher niemals hinterfragt worden – das ist die katholische Kirche», liess er verlauten. Dort habe es Missbrauchsfälle gegeben, und wer diese aufgedeckt habe, sei nicht gerne gesehen gewesen. Mit Bezug auf die WKStA folgerte der ÖVP-Chef: «Ich glaube, keine Institution sollte sakrosankt sein.» Der sonst so erfolgsverwöhnte Meister der Ablenkung wähnt sich allen Ernstes am Pranger der Justiz. Kurz rechnet mit einem Prozess, beharrt aber auf seiner Unschuld – und will auch im Amt bleiben, falls gegen ihn tatsächlich ein Verfahren eröffnet wird.

Attacken gegen die Justiz

Ob solcher Aussagen hebt Stephanie Krisper die Augenbrauen. «Natürlich gilt auch für Kurz die Unschuldsvermutung», sagt die Politikerin der liberalen Neos, der kleinsten Oppositionspartei im österreichischen Parlament, die sich als politisch mittig verortet. Die Juristin arbeitete am Gerichtshof für Menschenrechte in Sarajevo und bei der Flüchtlingsrechtsberatung der Wiener Caritas. Sie vertritt die Neos im Ibiza-Ausschuss, und sie war es, die Kurz wegen vermuteter Falschaussage anzeigte: Weil dieser gegenüber dem Ausschuss abgestritten hatte, in die betrügerische Vergabe von Staatsposten verwickelt gewesen zu sein, die im Rahmen der Untersuchungen aufgedeckt wurde.

Krisper fällt durch ihre Unauffälligkeit auf. Beim Gespräch im Juni in einem Wiener Kaffeehaus nahe dem Nationalrat gibt sie leise, präzise Antworten. «Er orientiert sich da an seinem Freund Benjamin Netanjahu, der verurteilt wurde, aber keinen Grund sah, zurückzutreten», sagt Krisper. Und sie empfiehlt dem Regierungschef, im Falle eines Verfahrens sein Amt erst einmal ruhen zu lassen.

Der Ausschuss, dem sie angehört, nahm im Januar 2020 seine Arbeit auf: sieben Monate nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos im Mai 2019, das den damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache und mit ihm die Regierungsbeteiligung seiner rechtsradikalen FPÖ zu Fall gebracht hatte. Der Ausschuss sollte untersuchen, ob Straches Prahlereien im Filmchen nur Allmachtsfantasien eines Betrunkenen darstellten oder ob sie die tatsächliche Käuflichkeit der Regierung von Sebastian Kurz belegten. Es geht um mögliche Bestechung, um Korruption und Vetternwirtschaft.

Die ÖVP versuchte, den Ibiza-Ausschuss auszubremsen, indem dessen Auftrag thematisch eingeschränkt werden sollte – mit Duldung der Grünen, dem neuen Partner in der Regierungskoalition. Dagegen wurde erfolgreich der Verfassungsgerichtshof beigezogen. Und bald stand tatsächlich nicht mehr die FPÖ, sondern ExponentInnen der ÖVP im Fokus der Untersuchungen. Bei Sebastian Kurz ging es um seinen mutmasslichen Einfluss auf die Beförderung seines Vertrauten Thomas Schmid zum Chef der Staatsholding Öbag im Jahr 2019. Kurz stritt den Vorwurf ab – doch die Auswertung von Chatprotokollen zwischen Schmid und Kurz durch die WKStA legt eine Absprache nahe.

Je stärker der Kanzler in Bedrängnis geriet, desto mehr inszenierte er sich als Opfer des Justizministeriums der Grünen Alma Zadic. Vom Ibiza-Ausschuss habe er sich «schlimmer als ein Mörder» behandelt gefühlt, klagte der Regierungschef, und die WKStA verglich er mit einem sozialistischen Netzwerk. Es sei erschreckend und neu, «dass eine regierende Entourage so die Justiz attackiert, um sich selbst zu schützen – und das wöchentlich, fast täglich», so Stephanie Krisper über die Kurz-Truppe. Nach anhaltenden politischen Attacken hat eine der Staatsanwältinnen im Ibiza-Komplex ihr Mandat sogar aufgegeben. Gemeinsam mit anderen SpitzenjuristInnen engagiert sie sich mittlerweile für ein Volksbegehren gegen Korruption.

Schwache Konkurrenz

Schon im Herbst könnte das Verfahren gegen den Kanzler beginnen, bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu drei Jahre Haft. Er habe im Ausschuss «bestmöglich, soweit ich mich erinnern konnte, wahrheitsgemäss» geantwortet, sagte Kurz selbst. Eine Aussage, die viel Interpretationsspielraum lässt. Aber trotz der Beweislast dürfte es schwierig werden, ihm vorsätzlich getätigte Falschaussagen nachzuweisen.

Politisch profitiert Kurz derzeit von der Schwäche sowohl des Koalitionspartners wie auch der zwei grössten Oppositionsparteien. Auch mehr als zwei Jahre nach dem Ibiza-Video kommt die skandalgebeutelte FPÖ in Umfragen nur auf sechzehn Prozent Stimmenanteil. Die SPÖ wiederum zerfleischt sich selbst. Eigentlich böte sich den SozialdemokratInnen seit letztem Jahr die Gelegenheit für einen Angriff: Zukunftsfragen zur sozialen Sicherheit, zu Arbeitsplätzen oder einer MillionärInnensteuer stellen sich seit Beginn der Coronakrise noch dringlicher als zuvor. «Wir konzentrieren uns zu wenig auf Fragen rund um Verteilungskämpfe, und wir müssen viel mehr Kampagnen auf den Strassen führen und unterstützen», sagt Julia Herr, «wir müssen kantiger werden.»

Die SPÖ-Abgeordnete war einst die erste weibliche Vorsitzende der Sozialistischen Jugend Österreichs. Herr ist schon mehrfach durch deutliche Kritik an der eigenen Partei aufgefallen. Weil das Parlament gerade renoviert wird, empfängt sie in ihrem provisorischen Übergangsbüro in der Nähe des Burgtheaters. Wenige Minuten entfernt befindet sich die SPÖ-Zentrale, an deren Fassade ein riesiges Plakat mit einem Porträt der Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner hängt. «Gerade jetzt», lautet ihr Slogan. Rendi-Wagner wurde auf dem Parteitag im Juni von nur 75 Prozent der Delegierten gewählt – ein demütigendes Resultat. Bei ihrer ersten Wahl 2018 hatte die erste Frau an der SPÖ-Spitze noch 98 Prozent geholt.

Die Grünen geben sich innerhalb der Regierung währenddessen so kompromissbereit, dass es schmerzt, ihnen bei der Arbeit zuzuschauen. So hat die Partei etwa auch die Forderung der ÖVP unterstützt, keine Verlängerung des Ibiza-Ausschusses zuzulassen. «Ein grosses Geschenk an Kurz», kommentiert Julia Herr. Dennoch seien aber nicht die Grünen das eigentliche Problem, sondern immer noch die ÖVP-Leute um Kanzler Kurz: «Die Missachtung der Justiz und das langsame Vorankommen in Klimafragen kommen aus der türkisen Ecke. Die Grünen schaffen es nicht, sich gegenüber der ÖVP durchzusetzen», sagt sie energisch.

An Konfliktpotenzial mangelt es innerhalb der Regierungskoalition nicht. Das Innen- und das Integrationsministerium unterstehen der ÖVP, womit die Grünen wenig Einfluss auf deren harten migrationspolitischen Kurs nehmen können. Als die SPÖ vorgeschlagen hatte, den Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft zu erleichtern, unterstützte dies der grüne Vizekanzler Werner Kogler – Kurz hingegen klemmte die Diskussion ab und sprach von einer «Entwertung der Staatsbürgerschaft». Ende Juli kam es zum Streit um die Klimapolitik. Als Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) eine nachhaltigere Verkehrspolitik forderte, befand Kurz, Verzicht sei der falsche Weg, um das Klima zu retten, und ein Schritt «zurück in die Steinzeit». Kogler attestierte Kurz daraufhin ein «altes Denken».

Angeschlagen in Führung

Trotz aller Konflikte ist das Interesse am Erhalt der Koalition parteiübergreifend – im Fall von Neuwahlen befürchten die Grünen eine Rückkehr auf die Oppositionsbank und ein neues Erstarken der rechtsradikalen FPÖ. Unter der ÖVP wiederum sind bereits die letzten zwei Koalitionen zerbrochen, und sowohl die SPÖ als auch die FPÖ haben einer allfälligen Regierungszusammenarbeit mit den Türkisen eine Absage erteilt. «Wen würde der Anstand wählen?», stand auf Wahlplakaten der Grünen im Wahlkampf 2019. Eine Gesprächsanfrage der WOZ verlief bei der Partei im Sand.

«Der Nimbus, er sei ein unfehlbarer, makelloser Kanzler, der Österreich endlich in einem guten, ‹neuen› Stil regieren wird, hat erstmals Kratzer bekommen», blickt Juristin Stephanie Krisper auf die vergangenen Monate zurück. «Er ist auf alle Fälle angeschlagen, das Vertrauen in ihn sinkt beständig», sagt SPÖ-Politikerin Herr. Das mag zwar alles zutreffen – aber Kurz und seine Partei halten die Konkurrenz in der WählerInnengunst weiterhin auf Distanz.

Bei einer kürzlich veröffentlichten Umfrage gaben 34 Prozent der Befragten an, die ÖVP wählen zu wollen – und sogar 42 Prozent würden in einer Direktwahl demnach für Sebastian Kurz stimmen. Dieser hat letzte Woche einen möglichen Etappensieg für sich verbuchen können: Sein Anwalt hat erreicht, dass er von einem Richter und nicht von der WKStA selbst befragt werden muss. Es sei fraglich, ob ein Richter über ausreichende Ressourcen verfüge, um sich für eine einzige Einvernahme in die riesige Aktenfülle einzulesen, kommentierte die Wiener Tageszeitung «Der Standard».

Andererseits könne sich der Angeklagte nun nicht mehr in die Opferrolle gegenüber einer angeblich befangenen Staatsanwaltschaft begeben. «Kurz’ Weg ist jedenfalls ein riskanter», so der «Standard». Nur hat er bisher immer gewonnen, wenn er den riskanten Weg wählte.