Erwachet!: Herrin der Fliegen

Nr. 20 –

Michelle Steinbeck ruft Maria Magdalena an

Was haben wir Petrus getan? Dieser Mai ist dermassen lausig, dass wir uns fragen müssen, was ihm über die Leber gelaufen ist. Es wäre gut, wenn er sich bald beruhigte. Dann könnten die Restaurants ihre Tische ins Freie stellen. Und ich die zweite Generation Lockdownpflänzchen, die rücksichtslos meinen Schreibtisch überwuchern und überdies – passend für ein Pandemiehobby – von Parasiten befallen sind. Die Trauerfliegen nagen nicht nur an den Wurzeln der kleinen Gurkenfabrik, sondern vor allem an meiner heiligen Konzentration. Biokill, Klebefallen, klatschende Hand – verzweifelt greife ich zum letzten Mittel und rufe Maria Magdalena an.

Sie meldet sich sofort: «Schutzpatronat der Frauen, Verführten, Friseurinnen und Studierenden. Brauchen Sie Hilfe im Umgang mit Ungeziefer, Gewitter oder Augenleiden?» Alles, rufe ich, drücke Tasten 1, 2, 3 und ein paar Tropfen Kochsalzlösung auf die gereizte Netzhaut. Ah, Warteschlangenmusik. Die elektronische Stimme erklärt, die Leitung sei besetzt, weil die Heilige seit ihrer Rehabilitierung zur Apostelin der Apostel 2016 durch Papa Francesco sehr gefragt sei. Um die Wartezeit zu überbrücken, geniesse ich das Infotainment der Hotline. Ein eingängiges Lied, etwa so: «Maria Magdalena war eine moderne Frau. Dafür musste sie in die Wüste und Heuschrecken essen, bis sie aussah wie ein Mann.» Der Fuss wippt unwillkürlich mit.

Was die Bibel angeht, bin ich ungebildet. Aber über Maria Magdalena wurde ich kürzlich aufgeklärt. In einem öffentlichen Vortrag zu fünfzig Jahren Schweizer Frauenstimmrecht erzählte die Althistorikerin Sabine Hübner von einem zufälligen Pyramidenfund, der das Zeug hätte, die Genderpolitik der christlichen Welt zu sprengen.

Das Maria-Evangelium beschreibt den Konflikt zwischen Maria Magdalena und Jesus’ Jüngern. Zu deren Unglück ist sie sein Liebling. Und nicht, weil sie seine Füsse wäscht – das war gar nicht sie. Sie ist schlicht die Geistreichste. Sie verkündet und lehrt, ermutigt und kritisiert die Herren der Schöpfung. Die beschweren sich: «Sie lässt uns nie zu Wort kommen, immer womansplaint sie. Und dann küsst du sie auch noch auf den M ...» (Loch im Papyrus). Die Jünger können nicht fassen, dass ihnen eine Frau vorgezogen wird. Der Eifersüchtigste ist ausgerechnet Petrus. Er will, dass sie weggeschickt wird, und argumentiert klassisch: «Frauen sind des Lebens nicht würdig.» Worauf Jesus in seiner sympathischen Art entgegnet: «Keine Sorge, ich werde sie männlich machen. Auch Frauen kommen in den Himmel, wenn sie sich männlich machen.» (Die heilige Agatha, die Märtyrerin mit den abgeschnittenen Brüsten, klatscht begeistert.)

In den Kanon hat es das Maria-Evangelium bisher nicht geschafft. Sonst würde das Argument, weshalb Frauen keine hohen klerikalen Ämter besetzen dürfen, ja nicht mehr ziehen: «Jesus hatte nur männliche Jünger.» Stattdessen wurde Maria Magdalena über die Jahrhunderte systematisch verleugnet, diffamiert und stigmatisiert.

«Hallo?» Die Musik hat aufgehört. Ungeduldiges Atmen. Aufgeregt schildere ich mein Problem. Maria Magdalena empfiehlt mir Larvengift und Augenübungen während Screen-Time-outs. «Und Petrus?», frage ich, «was will der alte Frauenfeind? Ich würde alles geben für ein bisschen Sommerwetter!» Sie sagt nur: «Wir verhandeln nicht mit Terroristen.» Und hängt auf.

Michelle Steinbeck ist Autorin.