Kündigungsinitiative: «Magdalena Martullo-Blocher ist selber ein Problemfall»

Nr. 36 –

Dank der Personenfreizügigkeit seien die Arbeitsbedingungen in der Schweiz heute viel besser als früher, sagt Gewerkschaftsbund-Ökonom Daniel Lampart. Mit einem Ja zur SVP-Initiative würden Lohnabhängige nur verlieren.

«Im früheren Kontingentsystem war der Lohndruck viel grösser»: Daniel Lampart auf einem Stapel Abstimmungszeitungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds.

WOZ: Herr Lampart, SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher gibt sich derzeit im Abstimmungskampf um die «Begrenzungsinitiative» ihrer Partei als Gewerkschafterin, die sich für die Büezer einsetzt. Was antworten Sie darauf?
Daniel Lampart: Obwohl die SVP offensichtlich die Interessen der Unternehmer vertritt, hat sie sich in ihrer Propaganda schon immer als Vertreterin der Arbeitnehmenden zu verkaufen versucht, um deren Stimmen in Wahlen und Abstimmungen zu holen. Wir zeigen mit unserer Kampagne, wie fatal es ist, wenn man der SVP folgt. Was meint die SVP denn, wenn sie sagt, dass «wir» die Zuwanderung wieder selber kontrollieren sollten?

Was denn?
Christoph Blocher hat in einem Interview in der NZZ die Antwort gegeben: Die Arbeitgeber müssten so viele Arbeitskräfte rekrutieren können, wie sie wollten. Aber ohne Lohnschutz und Lohnkontrollen: Frau Martullo-Blocher und ihr Kollege Thomas Aeschi kämpfen öffentlich gegen die flankierenden Massnahmen, die wir seit der Personenfreizügigkeit aufgebaut haben. Es ist diese Vorstellung aus Herrliberg, nach der der Patron in der Firma bestimmen soll. Der von der Blocher-Familie geführten SVP sind starke Gewerkschaften und gute Gesamtarbeitsverträge ein Dorn im Auge.

Die SVP ist das eine, doch was sagen Sie jemandem, der entlassen wurde und nun Ja zur «Begrenzungsinitiative» stimmen will, weil er sieht, wie gleichzeitig Arbeitskräfte im Ausland rekrutiert werden?
Es sind die Schweizer Firmen, die Leute entlassen, und nicht die Migrantinnen und Migranten. Beispielsweise Unternehmen wie die Ems-Tochter Eftec, die – wie die WOZ aufgedeckt hat – mitten in der Coronakrise ältere Mitarbeitende auf die Strasse gestellt hat. Ems-Chefin Martullo-Blocher ist selber ein Problemfall.

Dass das Parlament kürzlich die von uns Gewerkschaften vorgeschlagene Überbrückungsrente beschlossen hat, war ein wichtiger Schritt. Sie sichert älteren Ausgesteuerten eine Rente bis zu ihrer Pensionierung. Darüber hinaus verlangen wir Gewerkschaften, dass der Kündigungsschutz für langjährige ältere Mitarbeitende ausgebaut wird. Es braucht solche Fortschritte. Die Personenfreizügigkeit zu kündigen, wäre hingegen ein Rückschritt. Die Lage würde sich für die Arbeitnehmenden nur verschlechtern.

Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) wiederholt seit Jahren, dass die Personenfreizügigkeit nicht zu Lohndruck führe. Doch ist tatsächlich alles so rosig? Eine Studie der Uni St. Gallen von 2011 ortet hier und da durchaus Druck auf die Löhne.
Leider gibt es auch heute noch schwarze Schafe unter den Arbeitgebern, die die Löhne zu drücken versuchen. Dank der Lohnkontrollen können wir solche Missbräuche aber verfolgen. Im früheren Kontingentsystem war der Lohndruck viel grösser. Das zeigen Lohnanalysen der Uni Genf. Weil es damals keinen wirksamen Lohnschutz gab und weil die ausländischen Arbeitskräfte weniger Rechte hatten und sich schlecht gegen Missbräuche wehren konnten.

Mit der Personenfreizügigkeit ist das Angebot an Arbeitskräften nicht grösser geworden, wie das die SVP behauptet. Das ist eine irreführende Erzählung. Die Schweizer Firmen haben gemessen an der Bevölkerung früher ähnlich viele Leute aus dem Ausland geholt wie heute – damals wurden viele nicht registriert, weil sie schwarzarbeiteten. Die Personenfreizügigkeit hat allerdings zwei heikle Neuerungen gebracht.

Welche?
Ausländische Firmen haben einen viel einfacheren Marktzutritt, man spricht hier von «Entsandten». Heute müssen sie sich lediglich neunzig Tage im Voraus anmelden. Die Entsandten verdienen im Ausland oft weniger, entsprechend gross ist die Gefahr, dass sie auch in der Schweiz zum tieferen Lohn arbeiten müssen. Sie arbeiten auf dem Bau, in der Montage, der Reinigung oder der Sicherheitsbranche. Die zweite heikle Neuerung sind die Erleichterungen bei Temporärjobs. Früher konnten die Temporärbüros nur Arbeitskräfte ausleihen, die hier einen Aufenthalt hatten. Heute sind es oft Arbeitskräfte aus dem Ausland, die nur wenige Monate in der Schweiz sind.

Das sind zwei potenziell prekäre Arbeitsformen mit grossem Missbrauchspotenzial. Das ist auch der Grund, warum wir bei den Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen eine harte Position vertreten. Die EU-Kommission will den Lohnschutz bei den Entsandten empfindlich schwächen. Damit wäre einer prekären Arbeitsform Tür und Tor geöffnet.

Was tun Sie als Gewerkschaft dagegen?
Wir kämpfen für mehr allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen. Hier gibt es Lücken: Die grösste ist beim Detailhandel, Handlungsbedarf gibt es aber auch beim Lastwagentransport oder im Journalismus, wo die Löhne nur teilweise geschützt sind. Ohne Mindestlöhne können Kantone Firmen nur auffordern, sich an die üblichen Löhne zu halten. Die ausländischen Firmen lenken zwar meistens ein. Aber bei der Hälfte der Schweizer Firmen landen die Briefe im Abfallkübel. Wenn wir Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen haben, können Firmen, die dagegen verstossen, gesperrt oder gebüsst werden.

Die Wirtschaftsleistung ist zwischen April und Juni um 8,2 Prozent eingebrochen, wie spüren die Gewerkschaften das?
Was wir erleben, ist brutal, vor allem für gewisse Branchen wie die Hotellerie oder die Gastronomie. Kürzlich habe ich eine Frau getroffen, die in einer Kantine arbeitet. Nun, da viele Leute im Homeoffice sind und zu Hause essen, hat ihr Arbeitgeber ihr Pensum von hundert auf fünfzig Prozent gekürzt. Nun muss sie zum RAV, um eine Halbzeitstelle zu finden. Das ist sehr hart. Es gibt ein grosses Kaufkraftproblem, das sich auch negativ auf die Konjunktur auswirkt. Wir fordern deshalb, dass fünf Milliarden Franken aus dem Reservetopf der Krankenkassen an die Bevölkerung verteilt werden, in dem mit elf Milliarden ohnehin zu viel Geld steckt.

Braucht es nicht mehr?
Nötig ist auch die Weiterführung der bisher beschlossenen Coronamassnahmen. Wirtschaftsminister Guy Parmelin hat viele unserer ursprünglichen Forderungen übernommen – gegen grossen Widerstand von einigen seiner eigenen Leute im Seco. Wichtig sind vor allem die Lohngarantien. Sie haben viele Probleme gelindert und stärken gleichzeitig die Konjunktur. Zudem muss die Nationalbank gegen die Überbewertung des Frankens kämpfen, die der Exportwirtschaft schadet.

Sie sagten, Arbeitnehmende wären ohne Personenfreizügigkeit schlechter dran. Was befürchten Sie im Fall einer Annahme der Initiative?
Ein Ja würde wohl zur Kündigung der Personenfreizügigkeit führen – wie es die Initiative verlangt, sofern die EU zu keinen Zugeständnissen bereit ist. Damit entfielen auch die bilateralen Verträge I, was den Marktzugang der Schweizer Exportwirtschaft verschlechtert. Der Lohnschutz der flankierenden Massnahmen ist rechtlich mit der Personenfreizügigkeit verknüpft, womit auch er infrage gestellt würde.

Selbstverständlich würden wir uns mit aller Kraft für weiterhin gute Arbeitsbedingungen und einen guten Lohnschutz einsetzen, doch wir wären in einer ungünstigen Situation. Es ist klar, dass sich die SVP und ihre Bündnispartner in der FDP gegen Gesamtarbeitsverträge und Lohnkontrollen stellen würden. Zudem könnte der Bundesrat wohl wie bereits nach dem Ja zur «Masseneinwanderungsinitiative» 2014 versuchen, prekäre Aufenthaltsstatus zu fördern.

Die Unternehmen erhalten immer die Arbeitskräfte, die sie wollen. Die Frage ist, ob sie diese zu Schweizer Löhnen und guten Arbeitsbedingungen anstellen müssen oder nicht.

Klare Sache?

Wie die neuste Abstimmungsumfrage von Tamedia und «20 Minuten» zeigt, nimmt die Zustimmung zur Kündigungsinitiative der SVP ab: Momentan würden 61 Prozent der Stimmberechtigten Nein stimmen, das sind 5 Prozentpunkte mehr als Mitte August. Ja stimmen würden dagegen lediglich 37 Prozent.

Auch das Institut GFS Bern hat vor zwei Wochen eine Ablehnung von 61 Prozent prognostiziert.