USA: Hashtag #GeneralStrike

Nr. 15 –

Die Coronakrise trifft die Beschäftigten in den USA mit aller Härte. Grund dafür ist der jahrzehntelange Abbau des Sozialstaats. Überall im Land kommt es jetzt zu spontanen Streiks. Wachsen sie sich zum Massenprotest aus?

Wer sich für die Perspektive von ArbeiterInnen in den USA interessiert, sollte die «Teen Vogue» lesen. Das Onlinemagazin hat sich in den letzten Jahren zu einer Plattform kapitalismuskritischer Stimmen entwickelt, was nicht unwesentlich an der Journalistin Kim Kelly liegt, die dort ihre Kolumne «No Class» publiziert.

Am 24. Januar 2019, also vor über einem Jahr, stellte Kelly eine Frage, die auf den ersten Blick eher sonderlich wirkte. «Ist es Zeit für einen Generalstreik?», wollte sie wissen. Anlass waren unter anderem die rund 30 000 LehrerInnen in Los Angeles, die eine Woche lang für bessere Arbeitsbedingungen demonstriert hatten. Kelly sprach für die Kolumne mit verschiedenen AktivistInnen und kam zum Fazit, dass sich solch ein historisches Ereignis schon bald wiederholen könnte. «Die Dinge müssen nur heikel genug werden», schrieb sie.

Im April 2020, mitten in der Coronapandemie, wirkt die Frage nach einem Massenstreik kaum noch abwegig. Die wirtschaftliche Situation in den USA ist so katastrophal, die Arbeitsbedingungen in vielen Unternehmen sind so desolat und die Antworten der Regierung so lächerlich, dass die Rufe nach radikalen Massnahmen immer lauter werden.

So viele Arbeitslose wie nie

Ein grosser Teil der US-Industrie ist bereits stillgelegt. Und diejenigen, die weiter arbeiten müssen, werden immer frustrierter. Zehntausende US-AmerikanerInnen legten ihre Arbeit in den vergangenen Wochen bereits nieder. Busfahrer in Detroit, McDonald’s-Verkäuferinnen in Los Angeles, Amazon-Angestellte in New York, BauarbeiterInnen in Boston, Landwirte in Georgia, Lieferboten, Verkäuferinnen, Reinigungskräfte, im ganzen Land fanden Demonstrationen für besseren Arbeitsschutz statt.

Es sind bislang vor allem spontane Streiks, nicht durch Gewerkschaftsspitzen organisiert, sondern von ArbeiterInnen an einzelnen Standorten. Die Forderungen sind jedoch überall die gleichen. Es geht um Desinfektionssprays, Handschuhe, Masken, minimale Sicherheitsvorkehrungen. Und um Selbstverständlichkeiten wie Gefahrenzulagen und bezahlte Krankentage.

Die Ausmasse dieser Krise sind weiterhin schwer zu (be)greifen. Schon jetzt sind die USA das Land mit den meisten Covid-19-Kranken, bald wohl auch mit den meisten Toten. Die Krankenhäuser vieler Grossstädte sind dramatisch überlastet, Leichenhallen voll, Bestattungsunternehmen ausgebucht. Allein in New York City starben Anfang dieser Woche über 700 Menschen – innerhalb von nur 24 Stunden.

Immer deutlicher wird, wie gewaltig auch die ökonomischen Auswirkungen sind. Zwischen Mitte März und Anfang April meldeten sich über zehn Millionen US-AmerikanerInnen arbeitslos. Laut einer Studie der regionalen Notenbank von St. Louis könnten bis Ende Juni 47 Millionen Menschen ihren Job verloren haben. JedeR dritte US-AmerikanerIn wäre dann arbeitslos. Mehr als zu Höchstzeiten der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren.

Corona verändert alles, hört man in diesen Tagen oft. Und wer will da widersprechen? Je näher man hinschaut, desto klarer erkennt man allerdings auch, wie viel sich durch die Pandemie bestätigt: Ungerechtigkeiten, Warnungen, systematisches Elend.

Wenn Basketballprofis kurzerhand an Covid-19-Tests gelangen, während nicht einmal Ärztinnen und Pfleger in den Krankenhäusern getestet werden; wenn sich Silicon-Valley-Luxus-Prepper plötzlich Privatbunker bauen lassen, während Millionen Arbeitslose nicht mehr ihre Miete zahlen können; wenn Amazon-Chef Jeff Bezos in den ersten Monaten dieses Jahres sein Vermögen um mehrere Milliarden ausbauen konnte, während seine Mitarbeiter in den Lagerhäusern um Schutzmasken betteln müssen; wenn in Städten wie Chicago und Milwaukee rund siebzig Prozent der Coronaopfer schwarz sind, obwohl AfroamerikanerInnen dort nur etwa dreissig Prozent der Bevölkerung ausmachen – dann zeigt sich vor allem, wie schlecht dieses Wirtschaftssystem funktioniert. Oder präziser: wie ausgezeichnet es für wenige Menschen und miserabel für so viele funktioniert.

Wenn 400 Dollar fehlen

Selbst die «Financial Times», kein Revolutionsblatt, stellte Anfang April in einem Leitartikel fest, dass «radikale Reformen, die die vorherrschende politische Richtung der letzten vier Jahrzehnte umkehren» würden – wie beispielsweise ein Grundeinkommen oder eine Vermögenssteuer –, jetzt diskutiert werden müssten. Durchaus interessant. Wobei die Abkehr vom Neoliberalismus wohl etwas weniger glatt als eine Diskussionsrunde verlaufen wird.

Dass Corona die Vereinigten Staaten besonders hart trifft, liegt auch daran, dass der Kampf gegen den Sozialstaat in kaum einem Land so unerbittlich geführt wurde, von Demokraten wie Republikanern, von Ronald Reagan über Bill Clinton bis Donald Trump. Grosse Teile der Daseinsvorsorge wurden in den vergangenen vierzig Jahren privatisiert, Gewerkschaften unterminiert, Finanzmärkte dereguliert. Übrig geblieben ist nicht viel mehr als ein «failed state», ein gescheiterter Staat, in dem Armut massenvererbt wird.

In einer Studie der US-Notenbank aus dem letzten Jahr gaben 39 Prozent der Befragten an, bei unerwarteten Kosten von lediglich 400 (!) US-Dollar in Schwierigkeiten zu kommen. Es gibt Umfragen, in denen 80 Prozent der US-AmerikanerInnen aussagen, von «Paycheck zu Paycheck» zu leben. Was bedeutet, kaum oder keine finanziellen Grundlagen zu haben. In den USA sind Ersparnisse die Ausnahme und mehrere Zehntausend Dollar Schulden die Regel, ob durch die Ausbildung oder krankheitsbedingt.

Der Soziologe Aaron Benanav erklärte in einem Artikel für den Wissenschaftsblog «Phenomenal World», wie fragil der Arbeitsmarkt in den USA bereits vor Corona war. Die Arbeitslosenquote sei in den Jahren nach der Finanzkrise zwar gesunken, die Zahl der prekären Jobs aber genauso gestiegen. «Die gegenwärtige Krise beschleunigt eine bereits instabile Situation.» Die von der Regierung beschlossene Einmalzahlung von 1200 Dollar, die demnächst irgendwann bei den US-BürgerInnen ankommen soll, wird daran nichts verändern.

Die USA sind eine Klassengesellschaft, Corona hat das nur verstärkt. Laut Benanav könne man die Erwerbsbevölkerung bald in drei etwa gleich grosse Gruppen aufteilen: ein Drittel ohne Job; ein Drittel, das von zu Hause arbeitet; und ein Drittel, das weiter zum Arbeitsplatz muss.

Es ist die letzte Gruppe, es sind die plötzlich «Systemrelevanten», die sich nun immer lauter gegen die Ausbeutung wehren. Für Aufsehen sorgte der Fall des New Yorker Amazon-Angestellten Christian Smalls, der Ende März einen Streik organisierte und kurz darauf entlassen wurde.

Mietstreik zum 1. Mai

Die Welle der Proteste sei nicht mehr aufzuhalten, sagte Vanessa Bain, eine Mitarbeiterin des Lebensmittellieferdienstes Instacart und Streikorganisatorin, kürzlich gegenüber «Vice». Die Managements der grossen Unternehmen hätten es versäumt, auf die Pandemie zu reagieren. «Die ArbeiterInnen nehmen die Sache selbst in die Hand. Die Zeit für einen Generalstreik ist gekommen», so Bain.

Ob sich auch die Beschäftigten verschiedener Berufsfelder in den kommenden Wochen im grossen Stil zusammenschliessen, ist eine andere Frage. Generalstreiks sind nicht nur eine gigantische logistische Herausforderung an sich, sondern ungefähr auch das Letzte, was Politik und Wirtschaft wollen. Allein die Tatsache, dass der Hashtag #GeneralStrike neulich bei Twitter trendete, ist allerdings bemerkenswert.

Eine spezielle Form des kollektiven Streiks ist auf jeden Fall kaum mehr aufzuhalten. Nach Angaben der «New York Times» werden bis zu vierzig Prozent der New YorkerInnen spätestens im Mai ihre Miete nicht mehr zahlen können. Mehrere Organisationen haben zum Mietstreik ab dem 1. Mai aufgerufen – unterstützt wird die Aktion von demokratischen PolitikerInnen wie Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez.