Ausländische Fahrende: Aus den Augen, aus dem Dorf?

Nr. 6 –

Diese Woche wird im Kanton Bern über einen Transitplatz für ausländische Fahrende bei Wileroltigen abgestimmt. Im Abstimmungskampf werden fleissig antiziganistische und ausländerfeindliche Ressentiments geschürt.

Eingezäunt, mit Sichtschutz und nur über die Autobahn zugänglich: Auf den Feldern neben dem Rastplatz Wileroltigen soll der neue Transitplatz eingerichtet werden. Foto: Anthony Anex, Kestone

Wileroltigen an einem kalten, windigen Dienstag. Schweizerfahnengeflatter und vor einer Scheune ein rot-gelb-schwarzes Plakat: «Millionen-Transitplatz Nein» – mit dicken schwarzen Wohnwagen und einem Berner Bär, der aus dem Bild flieht.

Seit Jahren wird im Kanton Bern über einen Transitplatz für ausländische Fahrende gestritten. Seit Jahren bemüht sich der Kanton, seiner Verpflichtung nachzukommen, einen solchen zur Verfügung zu stellen. Doch immer noch fehlt es an einem dauerhaft gesicherten, anständig ausgestatteten Platz.

Am 9. Februar werden die Berner Stimmberechtigten darüber entscheiden, ob in der Seeländer Gemeinde Wileroltigen ab 2022 endlich ein solcher Platz gebaut werden kann. Mehrere Hundert Standorte hatte der Kanton geprüft, bevor er sich für die Parzelle des Bundesamts für Strassen an der A1 Bern–Murten entschied. Dabei integrierte er auch alle Forderungen der betroffenen Gemeinde in die Abstimmungsvorlage: Der über einen Kilometer vom Dorf entfernte Platz wäre eingezäunt, nur per Autobahn zugänglich, mit einem zwei Meter hohen Sichtschutz versehen – und die Gemeinde hätte nichts mit dem Betrieb zu tun. So der Platz überhaupt gebaut wird: In einer Tamedia-Umfrage zwei Wochen vor der Abstimmung wollten nur 38 Prozent der Befragten der Vorlage zustimmen.

«Laufende Dramatisierung»

Zur Abstimmung kommt es wegen eines Referendums der bernischen Jungen SVP. Adrian Spahr, deren Kopräsident, darf sich in regionalen Medien regelmässig in aller Ausführlichkeit darüber auslassen. 3,3 Millionen Franken: Viel zu teuer sei das alles, sagt er. Undemokratisch. Und überhaupt: Die 36 Stellplätze für 180 Personen würden nie reichen, um weitere «Landnahmen» zu verhindern, poltert der Berufspolizist, der wegen Rassendiskriminierung in zweiter Instanz verurteilt wurde: 2018 hatte er unter dem Titel «Nein zu Transitplätzen für ausländische Zigeuner!» auf Facebook eine Zeichnung verbreitet, auf der ein Mann neben einem Abfallberg seine Notdurft verrichtet – und ein anderer, im Sennenkäppi, sich die Nase zuhält.

Ausländische Fahrende sind im monatelangen regionalmedialen Fortsetzungsdrama rund um das Reizthema Transitplatz nicht zu Wort gekommen. Stattdessen wütende Transitplatzgegner vom «Räblus»-Stammtisch in Wileroltigen. «Ich könnte kotzen», lässt sich Armin Mürner, Gründer des Bürgerkomitees gegen den geplanten Transitplatz, im «Bund» zitieren.

«Mit ihrer laufenden Dramatisierung fördern Berner Medien den Eindruck, dass ausländische Roma Vaganten seien, die Dreck hinterlassen würden», sagt Stefan Heinichen, Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) und eine der wenigen hierzulande ansässigen Vertrauenspersonen für ausländische Fahrende.

Platznot im ganzen Land

Im Seeland sind besonders viele fahrende EU-BürgerInnen unterwegs, vor allem Romnija und Roma aus Frankreich. «Viele haben in dieser Umgebung seit Jahren einen festen Kundenstamm – als Maler-, Garten- oder Bauarbeiter, zunehmend auch als Programmierer oder Webdesigner», sagt Angela Mattli von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Oft sind sie bis zu drei Monate in der Schweiz, wo sie deutlich besser verdienen als im benachbarten Ausland. Mattli spricht von 400 bis 500 Wohnwagen, die von Februar bis November schweizweit unterwegs seien: «Im Juni und Juli sind es bis zu 1500.» Doch auf den nur zwei dauerhaft gesicherten Transitplätzen in der Schweiz gibt es insgesamt nur gerade 55 Stellplätze.

Die Mehrheit der ausländischen Fahrenden parkiert ihre Wagen einvernehmlich auf Feldern von Privaten und bezahlt dafür einen entsprechenden Beitrag. Die meisten dieser Spontanhalte verlaufen reibungslos, bestätigt Katrina Ritter vom Berner Bauernverband: «In den letzten Jahren mussten wir im Kanton Bern nur etwa ein- bis zweimal pro Jahr wegen irregulärer Landnahmen schlichten.» Meist ging es um Fahrende, die weder auf einem der wenigen Stellplätze noch auf privaten Grundstücken einen Platz finden konnten. Handelt es sich dabei um grosse Gruppen, sind Gemeinden und LandeigentümerInnen zuweilen überfordert. «Genau in solchen Fällen wäre ein dauerhafter Transitplatz eine grosse Entlastung für alle Beteiligten», sagt Simon Röthlisberger, der Geschäftsführer der Stiftung für Schweizer Fahrende. «Gibt es einen festen Platz, wissen die Fahrenden, wo sie halten dürfen. Und es muss nicht jedes Mal aufwendig ad hoc eine Infrastruktur organisiert werden.»

Doch selbst ein so liebloser, fast klinisch separierter Platz, wie er in Wileroltigen geplant ist, ist vielen Ansässigen zu viel. «Aus menschenrechtlicher Sicht» ist auch Mattli «nicht begeistert». Wobei sie – in Erinnerung an demonstrative Aufmärsche von Rechtsradikalen in Wileroltigen im Sommer 2017 – betont, dass der Sichtschutz auch zum Schutz der Fahrenden sein könne. «Ein Ja zum Transitplatz wäre ein wichtiges Signal – auch für andere Kantone. Bei einem Nein dagegen wäre noch mehr Ablehnung zu befürchten.»

Das wäre umso fataler, als es auch gesamtschweizerisch zu wenig Transitplätze für ausländische Fahrende gibt, obwohl diese laut einem Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2003 ein verbindliches Anrecht darauf haben – und Kantone und Gemeinden entsprechende Plätze anbieten müssen. Von den insgesamt neun Transitplätzen sind nur jene im bündnerischen Domat-Ems und im freiburgischen La Joux-des-Ponts ausschliesslich für ausländische Fahrende konzipiert und auch planungsrechtlich gesichert. Der Stiftung für Schweizer Fahrende zufolge bräuchte es aber mindestens zehn bis zwölf grosse Transitplätze.

Mais gegen Fahrende

Zurück in Wileroltigen. Kaum sind die Kinder vom Nachbarsort Gurbrü aus dem Bus gesprungen und ins Schulhaus gerannt, ist es still. Kein Mensch auf den Strassen des Dörfchens an der freiburgischen Kantonsgrenze bei Kerzers. Nur das Brummen eines Traktors. Und das ferne Rauschen der Autobahn. Das Gemeindehaus: heute geschlossen. Der «Rebstock»: seit zwei Jahren zu. Bliebe noch der «Räblus»-Keller, um sich aufzuwärmen, da wo sich Mürner und seine Mitstreiter versammeln; doch der öffnet erst am Abend.

Bis zur Autobahn geht es einen Kilometer lang durch Kartoffel- und Rübenfelder. Dann steht man auf der Autobahnbrücke, die zum Feld neben dem Rastplatz führt, auf dem der Transitplatz 2022 eingerichtet werden soll. Kein Mensch weit und breit. Und auch auf dem Autobahnrastplatz sind zu dieser Jahreszeit keine Wohnwagen zu sehen.

Im Sommer 2017 hielten sich auf diesem Feld bis zu 500 ausländische Fahrende in rund 200 Wohnwagen auf. Weil es ausser dem WC auf dem Rastplatz nur gerade zwei Toi-Toi-Toiletten gab, verrichteten einige ihre Notdurft im Freien. Darüber empören sich die WileroltigerInnen noch heute. Der Bauer, der die Wiese bewirtschaftet, hatte daraufhin Mais angepflanzt, um die Fahrenden fernzuhalten. Schliesslich musste der angrenzende Rastplatz im Sommer 2019 wegen Überbelegung vorübergehend geschlossen werden, sodass viele Lkw-Chauffeure ihre gesetzlich vorgeschriebenen Ruhepausen nicht mehr einhalten konnten. Es ist nur ein Beispiel unter vielen – dafür, wie nicht nur Fahrende den Mangel an Transitplätzen zu spüren bekommen.

Das Gegenbeispiel Brügg

«Ich habe nichts gegen Fahrende und respektiere den Minderheitenschutz», betont Hinnerk Semke, der Wileroltiger Gemeindepräsident, am Telefon. «Was mich stört, ist, dass sie sich nicht an die Regeln halten und ohne zu fragen das Land besetzen.» Die WileroltigerInnen fühlten sich vom Kanton im Stich gelassen. Die Vorlage sei undemokratisch, nachdem sich die Gemeindeversammlung in einer konsultativen Abstimmung klar dagegen ausgesprochen habe. Semke befürchtet zudem, dass der Kanton in einem späteren Schritt das Angebot von 36 Stellplätzen weiter ausbauen könnte.

Dass die Sommer 2018 und 2019 in Wileroltigen laut Semke «relativ harmlos» verliefen, ist Brügg, einer grösseren Gemeinde zehn Kilometer weiter nördlich, zu verdanken. Nachdem sich der dortige Gemeindepräsident Marc Meichtry regelmässig mit Konflikten zwischen der lokalen Bevölkerung und ausländischen Fahrenden konfrontiert sah, sei für ihn klar geworden: «Es braucht ein Umdenken. Und zwar so, dass wir die Spielregeln selber bestimmen – gemeinsam mit den Fahrenden.»

Von 2018 bis Herbst 2019 betrieb die Gemeinde auf einem Industrieareal in Eigenregie einen provisorischen Transitplatz. Meichtry organisierte Freiwillige, als Kassierer amtete ein pensionierter Betreibungsweibel. «Die meisten dieser Leute kamen eher aus der rechten Ecke», so Meichtry. Anfangs seien auch Linke dabei gewesen, doch deren Idee, Kinder der Fahrenden zu unterrichten, sei nicht gut angekommen.

«Ausländische Fahrende haben einen komplett anderen Lebensstil als die hiesige sesshafte Bevölkerung», sagt Meichtry. «Aber es funktioniert, wenn man sich mit den Leuten befasst. Dafür braucht es allerdings den ständigen Austausch: Es kamen ja immer wieder neue Gruppen, denen man die Spielregeln erklären musste.» Für diese sei es wichtig gewesen zu wissen: Da sind Leute aus dem Dorf, an die wir uns wenden können – zum Beispiel auch, wenn es um das Einrichten von Werkplätzen geht. Das Konzept habe sich bewährt: «Ein grosser Teil der Kosten von 120 000 Franken wurde durch die Platzgebühren wieder eingenommen.» Erfreuliche Nebenwirkung: Die Diebstähle rund um den Platz hätten mit der Anwesenheit der Fahrenden abgenommen. «Weil die Fahrenden bis lang in die Nacht draussen sassen, traute sich niemand, in der Nähe einzubrechen.»

Provisorium in Gampelen

Gegenüber AmtskollegInnen machte Meichtry darauf den Vorschlag, dass jede Gemeinde ab etwa 4000 EinwohnerInnen für etwa zwei Jahre mit Freiwilligen einen provisorischen Transitplatz betreuen würde: «Es gibt ja in fast jeder dieser Gemeinden brachliegende Felder oder Areale. Doch leider hat sich praktisch keine Gemeinde dafür interessiert.» Von einer Lösung à la Wileroltigen hält er wenig: «Ohne Bezug zur Gemeinde wird das schwierig. Ich bin kein Freund davon, alles an den Kanton zu delegieren. Daraus ergibt sich eine noch grössere Anonymisierung. Ein fixer Transitplatz, der vom Kanton organisiert wird, ist aber immer noch besser als kein Platz.»

Bis 2021 befindet sich nun in Gampelen ein provisorischer Transitplatz für dreissig Wohnwagen: auf dem Boden der kantonalen Justizvollzugsanstalt Witzwil, nahe einer Kollektivunterkunft für Asylsuchende – zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Auch da war der Unmut im Dorf gross, als sich im Sommer 2016 wie ein Jahr später in Wileroltigen gegen 500 ausländische Fahrende aufhielten, die nirgendwo sonst einen Platz finden konnten.

Das Verständnis für die Lebensweise der Fahrenden, speziell jener aus dem Ausland, ist in diesem Land, in dem noch bis 1972 ein «Zigeunereinreiseverbot» galt, noch immer weitgehend unterentwickelt. Die GfbV fordert denn auch den Einbezug der Fahrenden in die Planung der Plätze sowie Musterverträge. «Und damit verbunden, dass die Verwaltung nicht – wie oft bei provisorischen Transitplätzen – durch die Polizei geschieht», sagt Angela Mattli. Das komme einer Kriminalisierung der fahrenden Lebensweise gleich – in einer Zeit notabene, in der eh schon eine «klare Verschärfung des politischen und medialen Klimas gegenüber Roma und Romnija» festzustellen sei: Im Kanton Neuenburg müssen Fahrende neuerdings Verträge mit LandbesitzerInnen von den Behörden absegnen lassen. Und im Kanton Bern hat die Bevölkerung einem Polizeigesetz zugestimmt, mit dem Fahrende einfacher weggewiesen werden könnten; die GfbV und weitere Organisationen haben dagegen eine Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht.

Beim Bundesamt für Kultur wurde 2015 eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die einen «Aktionsplan» zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses sowie zur Verbesserung der Situation für Fahrende umsetzen soll. Doch in der Realität ist davon bislang kaum etwas zu spüren. Auch die Mediation kommt kaum voran. Laut Stefan Heinichen von der EKR sei es zudem schwierig, direkte VertreterInnen von ausländischen Fahrenden mit hiesigen Behörden an einen Tisch zu bringen: «Sie halten sich aus verständlichen Gründen bedeckt.»

Und die Schweizer Fahrenden?

Derweil schürt die Platznot auch den Konflikt zwischen in- und ausländischen Fahrenden. In Wileroltigen fungierte mit Andreas Geringer ein Schweizer Fahrender als Mediator. Der Präsident des Vereins Sinti und Roma Schweiz, der im Auftrag des Bundes und mehrerer Kantone als Vermittler zwischen Fahrenden, ansässiger Bevölkerung und Behörden tätig ist, hat sich im Abstimmungskampf zunehmend kritisch gegenüber ausländischen Fahrenden geäussert. So haben die ausländischen Roma und Romnija nicht nur Sesshafte, sondern auch einen Teil der Fahrenden aus der Schweiz gegen sich.

Wenige Tage vor der Abstimmung melden sich nun aber mit den Präsidenten von Sinti Schweiz, der Radgenossenschaft der Landstrasse und dem Verein Schäft qwant auch VertreterInnen von Schweizer Fahrenden für einen Transitplatz zu Wort: «Ob in Wileroltigen ein Transitplatz entsteht oder nicht, wirkt sich auch direkt auf den Alltag der fahrenden Schweizer Jenischen und Sinti aus», schreiben sie in einer Einladung zu einem Spontanhalt auf dem Bundesplatz. «Wir spüren direkt die Folgen der ausgeprägten und zunehmenden Platznot. Und wir erfahren, wie sich die hochgekochten Vorurteile gegen ausländische Fahrende auch gegen uns richten.» Bei einem Nein zum Transitplatz sei «eine weitere Verschärfung der Konflikte, sowohl im Zusammenleben von Minderheiten als auch in der Gesamtgesellschaft», zu befürchten.