Literatur: Unter Abgehängten

Nr. 39 –

Sie habe ein zwiespältiges Verhältnis zum Dorf, bekannte Kathrin Gerlof einmal, doch kein Schauplatz sei besser geeignet, die aktuellen Krisenphänomene einzufangen. Ihr neuer Roman, «Nenn mich November», führt in die dörfliche Einöde irgendwo im Osten Deutschlands, umstellt von einer Maiswüste, «aussterbende Spezies. Unfruchtbarkeit. Unlust und Inzucht besiegeln sein Schicksal.»

Die ehemalige Fallmanagerin Marte Lindenblatt, die lieber November hiesse und zu anständig ist, um ihre Hartz-IV-KlientInnen zu schikanieren, und deren Mann David haben gerade eine Privatinsolvenz hinter sich. «Ich bin kein sonderlich guter Mensch», sagt Marte von sich. Doch Leute zu bestrafen, «die sowieso am Ende sind», liegt ihr fern. Also hat Marte gekündigt und begonnen, «ihr eigenes Grab zu schaufeln». David wiederum hat seine Abfindung in eine Firma für kompostierbares Geschirr gesteckt, doch die Idee scheitert.

Am Ende erscheint das geerbte Haus im abgelegenen Dorf als letzter Ausweg. Doch die DorfbewohnerInnen sind speziell. Die beiden Grossbauern haben sich die ehemaligen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften unter den Nagel gerissen und kungeln zu ihrem Vorteil. Männer verschwinden auf mysteriöse Weise, und die Frauen bleiben unter sich, Fremden wie Marte gegenüber verhalten sie sich abweisend, Flüchtlinge hassen sie: «Unsere Steuern, sagen sie, werden da in die Baracken gesteckt, damit sie es schön haben und uns den Schlaf rauben können.» Dennoch versucht Marte, im Dorf anzukommen, während David immer dünner und stiller wird und nur noch an den überwucherten Gleisen in den Maisfeldern entlanggeht.

In eigenwilliger Syntax – willkürlich beginnenden und wieder abbrechenden Sätzen – und ständigem Wechsel der Erzählperspektive lotet Gerlof das erzählerische Potenzial derer aus, die geblieben sind – insbesondere der widerständigen Frauen. Es geht um grosse Themen – von Agrarsubventionen bis zum Klimawandel, aber vor allem um die Verunsicherung und die Ängste derjenigen, die sich abgehängt fühlen.

Kathrin Gerlof: Nenn mich November. 352 Seiten. 30 Franken. Aufbau Verlag. Berlin 2018