Volksmusik: Ins Fremde und Eigene verwickelt

Nr. 33 –

In Zürich ist wieder Stubete am See. Vier Betrachtungen zur Volksmusik, bei der immer das Gegenteil vom Klischee richtig ist.

«Volksmusik ist keine Notenmusik. Und sowieso Bein-, nicht Kopfmusik.» Foto: Aschi Meyer

Erstes Thema: Notenlesen. Nach den vielen Abenden, an denen meine Bandella delle Millelire ihre Gassenhauer und Stückli zum aberhundertsten Mal gespielt hatte – blind, selbstvergessen, geradeaus –, haben wir uns für den Auftritt am Konzertreigen «Volksmusig im Volkshaus» von Madlaina und Curdin Janett eigens neue Musik arrangieren lassen: kunstsinnig, ineinandergreifend, konzertant. Spielen wir sonst nach Gehör, galt nun Notenpräzision. Doch Dide Marfurt, der Intendant, rümpfte die Nase: «Volksmusik ist keine Notenmusik. Und sowieso Tanzmusik. Bein-, nicht Kopfmusik.» Dabei wollten wir alles geben, Mitglied werden bei der «Neuen Schweizer Volksmusik». Anspruchsvoll, urban, für den Kopf. Es kam dann doch gut im Zürcher Kanzleischulhaus. Das Publikum begann zu tanzen, rief «Mazurka» oder «Walzer», und die Kapelle verliess im Lauf des Abend die Notenständer.

Dide Marfurt hat recht und doch nicht recht. Das Schöne an der Volksmusik ist immer das Gegenteil. Das zeigt die Stubete am See, das Festival, das Florian Walser und Johannes Schmid Kunz alle zwei Jahre mit der Zürcher Tonhalle ausrichten. «Tänzig» gehört gewiss als Adjektiv zu dieser Musik. Nebst Kursen im Jodeln sind solche im Volkstanz meist ausverkauft. Tanz testet der MusikerInnen Vermögen, manch ein Virtuose läuft auf, weil er es nicht rund hinkriegt. Und Tanz ist auch des Amateurs Trost: Unzulänglichkeit an den Klappen und Ventilen geht unter im heiteren Geschiebe und Gestosse der dampfenden Körper.

Die Latte hoch gehängt

Das zweite Thema ist das Gegenteil von Tanz. Seit sich MusikerInnen vor dreissig Jahren aufgemacht haben, Volksmusik aus dem «bluamtä Trögli» der Heimat zu befreien, haben künstlerische Ambitionen sie begleitet. Zusammen mit den Oberwalliser Spillit hängte Heinz Holliger 1991 mit «Alb-Chehr» die Latte hoch. Hier muss man im Sessel sitzen und zuhören, sich mit der Geige um die fortgelaufene Kuh fürchten und mit der Klarinette des Senns schlimmes Ende ahnen. Wehe dem, der bei der Polka mit den Füssen scharrt.

Musiker wie Christoph Baumann oder Domenic Janett komponierten Opern und Rhapsodien, und die Stubete am See bietet diesem Können jedes Mal eine Bühne. Dieses Jahr mit der Uraufführung der «Traumpfade», einer Komposition des Innerschweizer Tausendsassas John Wolf Brennan und der «Sonnenseite des Klaviers» von Noldi Alder, dem Appenzeller Geiger und Johler. Aufgeführt wird die Musik vom Tonhalle-Orchester, einem Alphornisten, einer Pianistin und einem Stimmvirtuosen; Dutzende Pulte voller Notenblätter werden Dide Marfurt zu denken geben.

Das dritte Thema ist wiederum das Gegenteil vom Weltklang, für den das Tonhalle-Orchester mit seinen MusikerInnen aus 21 Nationen steht. Volksmusik ist an Orte gebunden, an Landschaften. Mythenumrankt und ideologisch aufgeladen durchaus. Aber mit der Schweiz als Heimat hat sie nur zu tun, wenn man sie einpackt in einen Schüblig für den Puurazmorgä. Oder ein drolliger SRF-Moderator sich ihrer annimmt. Musik aus dem Alpstein, dem Engadin und Genf tönt je ganz anders. Alpstein und auch Appenzell mit Geige, Hackbrett, Cello und Bass ist jedem geläufig seit eh und je; Engadiner Musik kommt seit fünfzig Jahren von den Engadiner Ländlerfründa und seit dreissig von den Ils Fränzlis da Tschlin – beides junge Musik, gespielt vor Ort und von uns mit diesem Ort verbunden, so wie wir Louis Armstrong in New Orleans versorgen, obschon er früh von dort geflohen war.

Aber Genf? Volksmusik, ob neu, alt oder zeitgenössisch, ist stark an die Deutschschweiz gebunden, in der Romandie spielten die emigrierten Schwyzer, wie sie es gewohnt waren, und die Jodlerinnen brachten ihren Ort samt Heimweh mit. Die schillernde Sängerin Héloïse Fracheboud hängt sich samt Kapelle aus Alphörnern, Akkordeon, Tuba, singender Säge in diese Tradition ein, und so hören wir, wie Uri und Thurgau «einge-genf-ert» werden.

Schottisch, Mazurka und Polka

Das vierte Thema ist schliesslich das Gegenteil des Ortes. Arkadi Schilkloper, ein Russe, ist ein virtuoser Alphornspieler. Marco Santilli spielt mit Kapelle und Bläserquintett hohe Musik aus der Stadt, verliebt in die Alpen. Der schnelle Schottisch, der mit Schottland nichts zu tun hat, die bedächtige Mazurka aus Polen wie die Polka auch – alle wurden herbeigeholt von fahrenden MusikantInnen im 19. und 20. Jahrhundert in die Schweizer Notenbüchlein. Eine andauernde «Überfremdung» einer Heimat, in der nicht viel tönte ausser die Pfeife und Trommel der Söldnerführer und die Klage der Trauernden. «Intermediate, Beats, Sounds, Grooves, Ländlerriffs» versprechen nun die Musiker um den Örgelispieler Marcel Oetiker, eine der bemerkenswertesten zeitgenössischen Formationen aus der Schweiz. Tänzig? Wir werden sehen. Ohne Noten? Vielleicht. In das Fremde und das Eigene verwickelt? Gewiss.

Köbi Gantenbein ist Chefredaktor der Architekturzeitschrift «Hochparterre» und Klarinettist in der Bandella delle Millelire.

Stubete am See: Zürich, Tonhalle Maag, Schiffbau und Moods. 18. und 19. August 2018.