Mexiko: Linkspopulismus aus dem Lehrbuch

Nr. 26 –

Andrés Manuel López Obrador ist zum haushohen Favoriten der mexikanischen Präsidentschaftswahl geworden – indem er die Theorie des Philosophen Ernesto Laclau in der Praxis anwendet.

Fast ist er hinter dem Rednerpult verschwunden. Dann geht er einen Schritt nach vorn, legt den rechten Ellbogen auf die Fläche, die für das Manuskript gedacht ist. Er lehnt sich an, wie sich Männer an einen etwas zu hohen Tresen in einer Bar lehnen, lugt über das Pult ins Publikum und wedelt mit dem freien linken Arm unbeholfen zu dem, was er sagt. Andrés Manuel López Obrador, in Mexiko nach seinen Initialen kurz AMLO genannt, hat nur einen kleinen Spickzettel in der rechten Hand versteckt und spricht ansonsten frei. Nicht gerade mitreissend, er moduliert kaum seine Stimme. Und doch sagen seine politischen Gegner über ihn, er sei ein Populist, ein Rattenfänger. So wie Rafael Correa in Ecuador einer war, Hugo Chávez in Venezuela, wie Juan Perón, der argentinische Urvater aller lateinamerikanischen PopulistInnen, oder gar wie Kubas Fidel Castro.

Er hat so gar nichts von diesen vier Männern. López Obrador ist kein begnadeter Showman wie Correa, kein derb redender Volkstribun, wie es Chávez war. Er verfügt nicht über die geschliffene Rhetorik, mit der Perón oder Castro die Massen bezaubern konnten. AMLO ist eher ein kumpelhafter Typ, ein freundlicher Grossvater zum Knuddeln. So einer, wie ihn auch Luiz Inácio Lula da Silva im brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf von 2002 gab. Bei seinen drei vorherigen Anläufen auf das höchste Amt im Staat war Lula mit heissen klassenkämpferischen Reden gescheitert. Für López Obrador ist dies der dritte Präsidentschaftswahlkampf. Dass er bei den ersten Versuchen knapp unterlegen war, lag weniger an seiner damals feurigeren Rhetorik. Eher war Wahlbetrug entscheidend.

Stilfragen spielen im Machomexiko der stolzen Männer gemeinhin eine grosse Rolle. López Obrador sind sie schnurz. Er trägt meist eine bequeme helle Hose, sein offenes Hemd ist nur selten weiss. Das knittrige und schon etwas abgetragene Sakko zieht er, wenn es warm ist, erst gar nicht an. In Anzug und Krawatte sieht man ihn fast nur bei Auftritten vor UnternehmerInnen. Er will sie nicht erschrecken. Beim Bad in der Menge fällt der 1,73 Meter grosse Mann nur deshalb auf, weil sein volles weisses Haar aus der Masse sticht. Um ihn herum gibt es keinen Kordon aus Sicherheitsbeamten mit Anzug, Sonnenbrille und Hörstöpsel im Ohr. AMLO geht direkt auf die Menschen zu. Er schüttelt Hände, lässt sich in indigenen Gemeinden Blumenketten um den Hals legen. Er kennt Mexiko, hat jede Gemeinde schon mindestens einmal besucht. Er ist kein Politiker, der Distanz sucht, ganz im Gegenteil. Niemand würde sich wundern, stünde er einfach so in einer Bar am Tresen.

Und doch versuchen seine politischen Gegner und die Verbände der UnternehmerInnen, den MexikanerInnen mit teuren Anzeigenkampagnen einzureden, sie müssten Angst vor ihm haben. Dabei sind sie selbst diejenigen, die von Angst umgetrieben werden. Denn López Obrador spricht Wahrheiten aus, die in Mexiko jeder kennt und die trotzdem kein anderer Politiker von Bedeutung sagt. Etwa: «Privatisierung ist Raub.» Das ist eingängig und leicht gesagt. Aber AMLO liefert auch jede Menge Belege: Vor der grossen Privatisierungswelle unter Präsident Carlos Salinas de Gortari (1988–1994) fand sich auf der «Forbes»-Liste der 500 reichsten Menschen der Welt gerade ein Mexikaner. Danach waren es 25. Auf der Liste der Länder mit den meisten DollarmillionärInnen sprang das Land im selben Zeitraum von Platz 26 auf Platz 4. Carlos Slim, vor der Salinas-Präsidentschaft ein eher unbedeutender windiger Geschäftsmann, wurde von «Forbes» zeitweise zum reichsten Menschen der Welt erklärt. Er hat sein Vermögen vor allem damit gemacht, dass ihm Salinas die vorher staatliche Firma Telmex zuschob, die das Telekommunikationsmonopol innehatte. Die MexikanerInnen bezahlten diesen Handel jahrzehntelang mit den teuersten und gleichzeitig schlechtesten Telefonverbindungen der Region.

Nach den Statistiken der Weltbank sind 60 der 125 Millionen MexikanerInnen arm, 28 Millionen sind unterernährt. Laut der NGO Oxfam aber besitzen die vier Reichsten im Land ein Drittel, die reichsten zehn Prozent zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Zahlen, die AMLO in seine Reden einstreut und mit denen jeder im Publikum bekannte Bilder assoziiert.

JedeR MexikanerIn weiss, wie diese Einkommensverteilung zustande gekommen ist: Von Salinas bis zum noch amtierenden Präsidenten Enrique Peña Nieto gab und gibt es florierende Geschäfte zwischen der politischen Klasse und Unternehmen: Wer einen Staatsauftrag will, schmiert die für die Vergabe zuständigen FunktionärInnen und stellt dafür im Gegenzug unverhältnismässig hohe Rechnungen. Ein jüngeres Beispiel: Mit «casa blanca», Weisses Haus, bezeichnet man in Mexko nicht den Amtssitz des Präsidenten der USA, sondern eine sehr repräsentative Villa, die der Bauunternehmer Armando Hinojosa der Präsidentengattin Angélica Rivera zu einem Spottpreis überlassen hat. Hinojosa war von Peña Nieto schon heftig mit lukrativen öffentlichen Aufträgen versorgt worden, als dieser noch Gouverneur im südlich der Hauptstadt gelegenen Bundesstaat México war. Hinojosa investierte dann stark in den Präsidentschaftswahlkampf seines Gönners und blieb nach dessen Sieg bei öffentlichen Ausschreibungen erste Wahl. López Obrador nennt diese exklusiven Zirkel des Gebens und Nehmens die «Mafia der Macht». Schon allein das macht ihn zu einem linken Kandidaten.

Diese «Mafia» schlägt nun zurück. Denn AMLO geht als deutlicher Favorit in die Präsidentschaftswahl vom 1. Juli. In Umfragen erreicht er immer über vierzig, gelegentlich fast fünfzig Prozent der zu erwartenden Stimmen. Sein nächster Verfolger liegt immer über zehn, in manchen Umfragen auch mehr als zwanzig Prozentpunkte hinter ihm. Nach mexikanischem Wahlrecht genügt eine einfache Mehrheit. Wer mehr Stimmen gewinnt, wird Präsident. Das macht diese «Mafia der Macht» nervös. Denn López Obrador ist zwar schon seit den achtziger Jahren Berufspolitiker und war von 2000 bis 2005 Bürgermeister von Mexiko-Stadt, aber er scheint nicht korrumpierbar zu sein. Kein einziger Skandal in dieser Hinsicht. Auch deshalb ging er mit Zustimmungsraten von um die 85 Prozent aus dem Bürgermeisteramt.

Die Hauptwaffe der Schmutzkampagne gegen ihn ist der Vorwurf des Populismus. Er sei ein zweiter Hugo Chávez; einer, der das Blaue vom Himmel verspreche und dann das Land mit sozialistischen Experimenten zugrunde richte. Man müsse nur nach Venezuela blicken. Das sei das wirtschaftliche und politische Chaos, das Mexiko unter AMLO erwarte.

Das «Volk» als politische Kategorie

Etwas ist dran an diesem Vorwurf: López Obrador ist der Linksaussen unter den vier Kandidaten, und er ist ein Populist. Jedoch nicht so, wie es seine GegnerInnen verstanden haben wollen, als volksverführerischer Luftikus ohne politische Substanz und wirtschaftliche Ahnung. Das Wort «Populismus» hat nur dann einen fiesen Klang, wenn man Vorbilder in den USA und Westeuropa sucht. In Lateinamerika weckt «populismo» auch ganz andere Assoziationen. Es gehört zum selbem Stamm wie das «popular» der Unidad Popular im Chile des Salvador Allende oder das «pueblo» der linken Parole «El pueblo unido jamás será vencido» (Ein einig Volk wird nie besiegt).

«Pueblo», das Volk, hat keinen völkischen Unterton. Es ist eine politische Kategorie, die in der Linken Lateinamerikas immer eine grössere Rolle gespielt hat als die «Klasse». Der wesentliche Widerspruch war nie der zwischen Kapital und Arbeit, ein Proletariat im marxschen Sinn war immer nur allenfalls eine Minderheit. Der wesentliche Widerspruch ist der zwischen Volk und Oligarchie, wobei «Volk» – zumindest zunächst – ein nebligerer Begriff ist als «Proletariat» und «Klasse». Der 2014 verstorbene argentinische Politologe und Philosoph Ernesto Laclau hat sich schon vor über dreissig Jahren Gedanken darüber gemacht, wie aus dieser zunächst nur soziologisch definierbaren Masse ein politischer Akteur werden kann und welche Rolle dabei PopulistInnen spielen. López Obrador ist ein lebendes Beispiel dieser Theorie.

Populismus ist für Laclau die Kunst, aus dem Volk als Masse mit sehr unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Partikularinteressen eine politische Einheit zu formen. Populismus ist so gesehen keine Ideologie wie Liberalismus oder Sozialismus, eher eine Art politische Strategie. Es geht darum, ein komplexe Vielzahl von unterschiedlichen Interessen auf zwei Pole zu reduzieren: das Volk gegen die Oligarchie. Diese radikale Vereinfachung ist – so Laclau – «die Voraussetzung für politisches Handeln». Sie kann dann gelingen, wenn das bestehende politische System in einer Krise ist.

Die Krise und der starke Mann

Das war bei allen lateinamerikanischen Vorbildern der Fall. 1946 gingen dem Aufstieg Peróns zum gewählten Präsidenten ein teilweise gewalttätig ausgetragener Streit unter den zuvor regierenden Militärs und Massendemonstrationen von links wie von rechts voraus. Kubas Diktator Fulgencio Batista und seine Camarilla waren schon lange vor ihrem Sturz durch Fidel Castro am Neujahrstag 1959 nur noch ein dekadenter Haufen. In Venezuela und Ecuador hatte vor Chávez und Correa das ohnehin fast nur als Fassade vorhandene formaldemokratische System abgewirtschaftet. In Venezuela schoben sich zwei als Parteien getarnte Interessenklüngel die Macht und das Vermögen des Landes gegenseitig zu, während das Volk verarmte. In Ecuador waren in sieben Jahren sieben Präsidenten gestürzt worden.

Im Vergleich zu Ecuador erscheint Mexiko wie ein politisch stabiles Land. Seit 1934 hat jeder Präsident das Ende seiner sechsjährigen Amtszeit erreicht. Das Verhalten des von López Obrador als «Mafia der Macht» bezeichneten Klüngels erinnert eher an die Oligarchie im vorchavistischen Venezuela. Dazu kommt der sogenannte Drogenkrieg, der eine veritable Staatskrise provoziert hat. Rund 200 000 Menschen starben eines gewaltsamen Todes, seit der damalige Präsident Felipe Calderón 2006 das Militär zur Bekämpfung der Drogenkartelle auf die Strassen schickte. Das Verschwinden der 43 Lehramtsstudenten von Ayotzinapa hat am 26. September 2014 auch dem Letzten gezeigt, wie eng die Beziehungen zwischen Politik, Justiz und organisiertem Verbrechen sind. Menschenrechte zählen derzeit wenig in Mexiko.

Drogenkrieg und Korruption sind zwar die drängendsten, aber lange nicht alle Probleme des Landes. Anfang des vergangenen Jahres verfügte die Regierung Peña Nieto den «gasolinazo», eine Erhöhung der Benzin- und Dieselpreise um zwanzig Prozent. Schon zuvor hatte der Präsident den staatlichen Ölsektor für private Investitionen geöffnet und lässt derzeit noch schnell Lizenzen für die Ausbeutung der Erdöl- und Gasreserven des Landes versteigern. Die Landwirtschaft liegt am Boden. Mit der Einrichtung der nordamerikanischen Freihandelszone Nafta zum 1. Januar 1994 ist die Zahl der für den heimischen Markt produzierenden kleinen und mittleren Landwirtschaftsbetriebe dramatisch gesunken. Sie waren der subventionierten Konkurrenz aus den USA nicht gewachsen. Die Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Mais und Reis ging seither dramatisch zurück, die Ausgaben für Lebensmittelimporte haben sich mehr als verzehnfacht.

Mit dem Niedergang der Landwirtschaft setzte eine beschleunigte Landflucht und in der Folge ein unkontrolliertes Wachstum der Städte ein, vor allem in den Regionen nahe der Grenze zu den USA. Dort liessen sich Tausende Schwitzbuden der Textil-, Elektro- und Elektronikindustrie in zollfreien Produktionszonen nieder. Mexikanische Textilarbeiterinnen etwa verdienen nur etwas mehr als sechs Prozent des Lohns ihrer US-Kolleginnen – den staatlich festgesetzten Mindestlohn. Dessen Kaufkraft ist in den vergangenen dreissig Jahren um achtzig Prozent gesunken. López Obrador nennt das «unmenschlich und verfassungswidrig». Denn nach der Verfassung muss der Mindestlohn ein würdiges Leben garantieren. Tatsächlich aber ist es so, wie AMLO sagt: «Ein Mexikaner, der einen Vollzeitjob hat und den Mindestlohn erhält, ist ein armer Mexikaner. Wenn ein oder zwei Menschen von ihm abhängen, leben sie in extremer Armut.» Aber andere Arbeitsplätze gibt es für viele nicht.

Das chaotische Wachstum der Städte in Grenznähe hatte katastrophale Folgen. Die in Massen zugezogenen Familien vom Land liessen sich in Armenvierteln ohne Infrastruktur und Verkehrsanbindung nieder. Frauen sind in den Fabriken viel gefragter als Männer. Letztere, vorher die hauptsächlichen Ernährer ihrer Familien, hängen nun arbeitslos in einer sozialen Wüste herum. Solch soziale Verwerfungen gelten als wichtige Ursache für Gewaltexzesse – wie die weltweit bekannt gewordenen Morde an Hunderten von Frauen in der Grenz- und Industriestadt Ciudad Juárez.

Arbeitslose sind genauso leicht rekrutierbarer Nachwuchs für Drogenkartelle wie die sogenannten Ni-ni, was so viel heisst wie «Weder-nochs». So nennt man junge Leute, die weder zur Schule gehen oder studieren noch eine Arbeit haben. Es sind mindestens drei Millionen. Viele erfüllen zwar die formalen Voraussetzungen für ein Studium und haben sich an staatlichen Universitäten beworben. Aber es gibt nicht genügend Studienplätze, und private Hochschulen sind zu teuer. Dass andere schon vorzeitig die Schule verlassen, kann man verstehen: 31 Prozent der öffentlichen Schulen haben kein Trinkwasser, 13 Prozent kein Klo und 11 Prozent keinen Strom.

Amnestie für Drogenhändler

López Obrador benennt all diese Probleme in seinen Wahlkampfreden, er kann das. Er und seine erst 2014 gegründete Partei Morena (Movimiento de Regeneración Nacional – Bewegung der nationalen Erholung) können dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Das Schlamassel haben die Parteien angerichtet, für die seine beiden nächsten Verfolger antreten: die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI, von 1929 bis 2000 und seit 2012 an der Macht) und die Partei der Nationalen Aktion (PAN, von 2000 bis 2012). AMLO dagegen schlägt Lösungen vor.

Den Ni-ni verspricht er 300 000 Studienplätze an öffentlichen Universitäten und 2,3 Millionen staatlich subventionierte Ausbildungsstellen in der Industrie und im Handwerk. Dazu eine Reform des Bildungswesens. Das hatte auch schon Peña Nieto versucht, sich dabei aber auf die Qualität der Lehre kapriziert. Er wollte Bewertungsmechanismen für LehrerInnen einführen, die dann über Bezahlung, Weiterbeschäftigung oder Entlassung entscheiden sollten. Er provozierte damit Streiks und Unruhen und erreichte letztlich nichts. López Obrador dagegen sagt: «Eine Bildungsreform kann man nur gemeinsam mit den Lehrern machen und nicht gegen sie.»

Um die Situation der ArbeiterInnen in den Schwitzbuden der zollfreien Produktionszonen zu verbessern, schlägt er eine schrittweise Erhöhung des Mindestlohns vor, bis hin zum Niveau der USA. Ein Programm zur Förderung der Landwirtschaft soll sich vor allem auf Grundnahrungsmittel konzentrieren und das Land von Lebensmittelimporten unabhängig machen. Um das zu schaffen, will er den BäuerInnen Mindestpreise für ihre Produkte garantieren. Auch die hohen Benzinpreise will er wieder nach unten drücken. «Es ergibt keinen Sinn, dass wir Rohöl in die USA exportieren und es dann sehr viel teurer als Benzin wieder importieren», sagt er. Wenn der staatliche Ölkonzern Pemex in zwei grosse Raffinerien investiere, würde sich das sehr schnell rechnen, und zudem würden Benzin- und Transportpreise billiger.

Den Einsatz des Militärs gegen die Kartelle hält er für einen schweren Fehler: «Man kann Feuer nicht mit Feuer bekämpfen.» Er setzt auf eine bessere Koordination zwischen Sicherheitskräften und Aufklärungsdiensten. Und er hat – sein umstrittenster Vorschlag – eine Amnestie in die Diskussion geworfen. Nicht für die Kartellchefs und auch nicht für ihre Killer und KomplizInnen in der Politik. Zu deren Strafverfolgung kann sich López Obrador eine internationale juristische Kommission vorstellen, nach dem erfolgreichen Vorbild der Uno-Kommission gegen Straffreiheit im südlichen Nachbarland Guatemala. Viele Jugendliche aber würden mangels anderer Beschäftigungsmöglichkeiten geradezu in die Arme der Drogenmafias getrieben. «Warum sollen wir einem nicht eine zweite Chance geben?», fragt er. «Falken» nennt man die vielen Helfer, die einfach nur auf der Strasse stehen, sich umsehen und Informationen weiterleiten – der Einstieg in die Welt der Kartelle. Auch für sie sollen die Studienplätze und Lehrstellen sein.

Emotion statt Analyse

Nun sind Wahlversprechen üblich. Sie alleine machen noch keinen Populisten aus. Nach Laclau nimmt López Obrador in seinem Regierungsprogramm die verschiedensten Forderungen der Bevölkerung auf. Jeder findet sich irgendwie wieder, aber aus einer zersplitterten Masse mit ganz unterschiedlichen Wünschen und Prioritäten ist noch kein Volk geworden, das den politischen Gegenpol zur Oligarchie oder – so AMLO – zur «Mafia der Macht» geben könnte. Dazu müssen diese unterschiedlichen Forderungen, Wünsche und Prioritäten in einer griffigen Formel zusammengefasst werden, die für den Kandidaten steht. Sie kann nicht konkret sein. Jeder muss sich mit seinen spezifischen Bedürfnissen darin wiederfinden. Sie dient letztlich nur dazu, eine Vielzahl von Bevölkerungsgruppen zu einem Volk zu einen. Laclau bedient sich dabei linguistischen Vokabulars und nennt diese Formel wegen ihrer notwendigen Unschärfe einen «leeren Signifikanten».

López Obrador kann die vielen Facetten seiner Versprechen in einem Satz zusammenfassen. «Wenn man mich auffordern würde: ‹Sag ganz schnell, was ist dein Programm?›, dann würde ich antworten: mit der Korruption aufräumen», sagt er im Gespräch mit JournalistInnen. Das ist sein Mantra und gleichzeitig der Schlüssel zu allen anderen Versprechen. Wenn es im Staat keine Korruption mehr gäbe, sagt er, dann bliebe so viel Geld übrig, dass man damit alles finanzieren könnte. Ganz ohne Steuererhöhungen und mit ausgeglichenem Haushalt. Im jüngsten seiner mehr als fünfzehn Bücher rechnet er das über viele Seiten vor. Ausgehend von Schätzungen der Weltbank, wie viel Geld dem mexikanischen Staat durch Korruption verloren geht, legt er mit vielen Beispielen, Zahlen und Tabellen nahe, dass seine Wahlversprechen keine Luftschlösser bleiben müssen. Die Zahlen werden schnell wieder vergessen. Was bleibt, ist der Satz: «Mit der Korruption aufräumen.»

In einem Punkt freilich bleibt López Obrador wolkig: Wie will er das anstellen? Schmiergelder werden nicht nur von Firmen an hohe StaatsfunktionärInnen bezahlt, sondern auch von kleinen Leuten an PolizistInnen und niedrige Beamte, damit die ein Auge zudrücken oder auch einfach nur ihre Arbeit tun. Korruption ist fast schon Teil der Volkskultur. AMLO sagt dazu nur: «Der Ausweg ist ‹honestidad›», was Aufrichtigkeit genauso bedeutet wie Ehrlichkeit. Laclau, würde er noch leben, hielte das für den genialen Streich eines Populisten: Mit einem emotional-ethischen und nicht analytischen Begriff verschweisst er den «leeren Signifikanten» des Programms und seine Person zu einer Einheit. Der Kandidat ist das Programm, das Programm der Kandidat. Die Partei verschwindet dahinter.

Mit seiner Biografie kann López Obrador das glaubwürdig tun. Er war als Bürgermeister von Mexiko-Stadt ein Arbeitstier, das Wert auf Transparenz legte. Jeden Morgen um 6 Uhr gab er eine Pressekonferenz. Grossprojekte wie zweistöckige Stadtautobahnen oder die Erweiterung des U-Bahn-Netzes kosteten nicht – wie in Mexiko üblich – das Drei- oder gar Zehnfache des veranschlagten Preises. Manchmal wurden sie sogar billiger. Am Ende blieb Geld übrig für eine Mindestrente für alte Leute und andere Sozialprogramme.

Seine wichtigsten Gegner können sich in dieser Hinsicht nicht mit ihm messen. Den zweiten Platz in den Umfragen belegt Ricardo Anaya, der 39-jährige Präsident der rechtskonservativen PAN, der für eine Koalition seiner Partei mit der sozialdemokratischen PRD (Partei der Demokratischen Revolution) antritt. Er ist in einen Geldwäscheskandal verwickelt. Seine Frau und seine drei Kinder leben in Atlanta in den USA, wo er auch die Wochenenden verbringt. So etwas kommt in Mexiko nicht gut an. Dritter in den Umfragen ist der parteilose 49-jährige José Antonio Meade, der für die PRI antritt und als Finanzminister von Peña Nieto für die Benzinpreiserhöhungen verantwortlich war. Auch er wird von Korruptionsvorwürfen verfolgt.

Ein «Indio» wie viele

Angesichts des uneinholbar erscheinenden Vorsprungs von AMLO in den Umfragen überschwemmen seinen Verfolgern nahestehenden Trolle die sozialen Netzwerke mit einer Schmutzkampagne. Sie machen Witze über seinen südmexikanischen Akzent, der in den gehobenen Kreisen von Mexiko-Stadt als hinterwäldlerisch gilt. Er habe nur öffentliche Schulen und Universitäten besucht und nicht, wie seine Verfolger, in den USA studiert. Und er sei auch nicht so vornehm blass wie sie, man sehe ihm den «Indio» an. López Obrador macht sich darüber nur lustig. Rassistische und elitistische Anwürfe dürften ihm eher nutzen als schaden: Der Teint der meisten MexikanerInnen ist so dunkel oder noch dunkler als seiner. Die Elite verstärkt mit der Schmutzkampagne nur den von ihm konstruierten Gegensatz zwischen Volk und Oligarchie.

Dass – wie in Mexiko durchaus üblich – am Ende geschummelt wird, erscheint bei seinem Vorsprung in den Umfragen schwierig. Auszuschliessen ist es nicht. Schon im März warnte eine Gruppe von Intellektuellen und Menschenrechtsorganisationen um die SchriftstellerInnen Elena Poniatowska und Juan Villoro in einer gemeinsamen Erklärung vor der «imminenten Gefahr eines Wahlbetrugs».

Blutiger Wahlkampf

Dass Blut fliesst in mexikanischen Wahlkämpfen, ist nicht neu. So viele Tote wie vor den Präsidentschafts-, Parlaments- und vielen Lokalwahlen am kommenden Sonntag aber gab es noch nie: Über 150 KandidatInnen wurden seit den Vorwahlen im vergangenen September erschossen, mehr als doppelt so viele wie vor dem letzten vergleichbaren Wahltag vor sechs Jahren. Es trifft vor allem BewerberInnen für lokale Ämter, meist in Gegenden, in denen sich mehrere Mafias Kämpfe um die Vorherrschaft liefern. Denn diese Mafias brauchen lokale PolitikerInnen, die sich kaufen lassen und mit ihnen zusammenarbeiten. Nur so können sie in Ruhe ihrem Geschäft nachgehen, sei das nun Drogenhandel, Schutzgelderpressung oder sonst eine kriminelle Aktivität. Wer das Angebot zur Zusammenarbeit ablehnt, wird ermordet. Genauso ergeht es KandidatInnen, die von einer Mafia verdächtigt werden, von der Konkurrenz gekauft worden zu sein. Das ist schon seit Jahren so.

Der sprunghafte Anstieg der Zahl der Toten hat mit der Kriminalpolitik von Präsident Enrique Peña Nieto zu tun: Sie konzentrierte sich auf die Kartellchefs; ein paar spektakuläre Verhaftungen hat es auch gegeben. Die jedoch führten zu Kämpfen um die Nachfolge. Zum Teil spalteten sich grosse Kartelle auf, oft nutzten lokale Verbrecherbanden den entstandenen Spielraum, um selbst einen Landstrich unter ihre Kontrolle zu bringen. Mit dem Ergebnis, dass heute eine unübersehbare Zahl von Gruppierungen lokale AmtsträgerInnen für sich zu gewinnen versucht oder – wenn das nicht gelingt – sie ermordet.

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