Lilly Keller (1929–2018): Wirklich invasiv ist nur der Mensch

Nr. 2 –

Lilly Keller ist ihren Weg kompromisslos gegangen. Nun ist die bedeutende Künstlerin überraschend gestorben.

Lilly Keller 2011 in ihrer Ausstellung «entre ciel et terre» in Grenchen. Foto: Ursula Häne

Am Morgen des 2. Januar 2018 hat die Künstlerin Lilly Keller in ihrem Haus in Thusis die Vorhänge nicht geöffnet. Die Nachbarin, die nachschaute, fand sie zwischen Küche und Atelier tot am Boden liegend. Sie wurde knapp 89 Jahre alt. Drei Tage zuvor hat sie einem Zürcher Bekannten am Telefon erzählt, endlich sei das Dorf richtig eingeschneit. Darum habe sie heute auf einem Waldweg ihr Auto auf seine Wintertauglichkeit getestet. Weil sie schliesslich stecken geblieben sei und nicht habe wenden können, habe sie knapp einen halben Kilometer rückwärts aus dem Wald hinausfahren müssen. Aber sie sei zufrieden: Das Auto sei wirklich wintertauglich.

Kennengelernt habe ich die Künstlerin Lilly Keller Anfang Mai 2011 als WOZ-Journalist im Kunsthaus Grenchen. Sie half dort, ihre Ausstellung «entre ciel et terre» einzurichten, ich wollte auf der Basis des 2010 erschienenen Buchs «Lilly Keller. Das Leben. Das Werk» von Ursula Riederer und Andreas Bellasi ein Porträt über sie schreiben. Geschrieben habe ich dann unter anderem dies: «Lilly Keller ist schlank, yogageschmeidig, flink auch im Kopf, voller präziser Argumente, polemischer Durchblicke, starker Episoden. Eine Fünfzigjährige mit Jahrgang 1929.»

Die grosse Neophytin

Erzählt hat sie mir an jenem Tag über ihren Weg als Künstlerin in einem Kunstbetrieb, in dem die Kunst grundsätzlich Männerkunst war. Sie erzählte von der Berner Kunstszene, von Daniel Spoerri, Bernhard Luginbühl, Jean Tinguely, Pips Vögeli, von den Kunsthalle-Direktoren Arnold Rüdlinger, Franz Meyer und Harald Szeemann, vom Künstlerinnenkreis um Meret Oppenheim. Von ihrem Anwesen in Montet oberhalb Cudrefins, das sie mit ihrem 2008 verstorbenen Lebenspartner Toni Grieb zum verwunschenen Park umgestaltet hatte. Und davon, dass sie Montet in absehbarer Zeit verlassen werde, um in das Heimatdorf ihrer Mutter nach Thusis zu ziehen. Dort habe sie ein geerbtes Lagerhaus mit Stallungen zu einem neuen Wohnsitz ausgebaut.

Nach der Veröffentlichung des Zeitungsberichts und einem Besuch in Montet kamen wir überein, in Gesprächen die Geschichten aufzuarbeiten, die sich um ihre Biografie, ihre Kunstwerke und ihr Anwesen rankten. Zwischen 2011 und 2014 besuchte ich Lilly Keller in Montet mehr als drei Dutzend Mal. Wir führten stundenlange Gespräche, besichtigten in Wohnhaus und Atelier Kunstwerke und Lebensdokumente, und fast bei jedem Besuch spazierten wir plaudernd durch die von Grieb angelegten Bambus- und Koniferenhaine hinter ihrem Haus. Mit der Zeit begann ich, aus den Gesprächstranskriptionen einen Text zu machen. Keller las, was vorlag, korrigierte, kritisierte, ergänzte. Im Mai 2015 erschien im Vexer-Verlag das Buch «Lilly Keller. Künstlerin».

Eine Zeit lang trug das Typoskript den Titel: «Ich, die grosse Neophytin». Ich habe ihn zwar wieder gestrichen, aber er bezieht sich auf eine Episode, die für mich einer dieser vielen unvergesslichen Momente geblieben ist, die ich während unserer Zusammenarbeit erlebt habe. Im September 2012 kommentierte sie mit ätzendem Spott eine botanische Broschüre über «invasive Neophyten», die vor uns auf dem Küchentisch lag: «Hier, ‹Knoblauchhederich …, Bekämpfung …, Probleme …, Erdmandel …, Bekämpfung …, Kanadische Goldrute …, Bekämpfung.› Alles wird bekämpft! ‹Dank ihrer erfolgreichen Vermehrungs- und Ausbreitungsstrategie bildet sie oft dichte Bestände. In diesen wird die Keimung anderer Pflanzenarten durch Lichtentzug und Wurzelkonkurrenz verhindert.› Denk auch! Wurzelkonkurrenz ohne flankierende Massnahmen! Dabei ist keine Goldrute so schlimm wie der Mensch. Wirklich invasiv ist nur der Mensch! Und da: ‹Das Pflanzenmaterial sollte in der Kehrichtverbrennung entsorgt werden!› Aber selbstverständlich! Liquidieren und dann aus hygienischen Gründen noch kremieren!» Keller schüttelt sich vor Lachen: «Abschneiden, im Keim ersticken, ausreissen, verbrennen, sonst treibt noch was aus, im Untergrund, nein, denk auch! Eigentlich müsste ich ein Buch schreiben mit dem Titel: ‹Ich, die grosse Neophytin!›»

Tag für Tag weitergearbeitet

Am 25. Dezember, erzählt mir der Bekannte am Telefon, habe Lilly Keller auf dem Boden ihres Thusner Ateliers sämtliche rund neunzig Bücher ausgelegt. Ihre «Bücher»: nie ausgestellte Unikate in allen denkbaren Grossformaten, Kunstwerke allesamt, Sammlungen von Zeichnungen, Malereien, Collagen, Lebensdokumenten, Texten von Dritten, Briefen von und an Lilly Keller – kurzum ein grossartiger und zentraler Teil ihres Werks. Eigentlich sei es am Weihnachtsabend um die Frage gegangen, wie man die Inhalte dieses Werkteils katalogisieren könnte, damit man die Übersicht behalte. Aber Keller habe doch auch ihr Handy hervorgeholt und den Atelierboden mit den «Büchern» fotografiert. Vielleicht war sie für einen Moment selber beeindruckt von ihrem Werk, an dem sie Tag für Tag weitergearbeitet hat.

Am 26. Dezember hat sie ihre Arbeit kurz unterbrochen, um mir, der sein Wort nicht gehalten und sie 2017 in Thusis nicht besucht hatte, einen Neujahrsgruss zu schreiben. Er endet mit den Worten: «Ich melde mich das nächste X, wenn ich nach Bern komme. Bleib gesund. Herzlich Lilly».

Dieser hier leicht gekürzte Beitrag des ehemaligen WOZ-Redaktors Fredi Lerch ist zuerst im Berner Onlinemedium «Journal B» erschienen.