Aufwertung: Mit Airbnb in der Favela

Nr. 51 –

Die Autorin Michelle Steinbeck war zu einem Literaturfestival in Rio de Janeiro eingeladen. Weil sie keine ignorante Touristin sein wollte, buchte sie eine Wohnung in einer befriedeten Favela. Doch schnell musste sie feststellen: Ihr Reiseführer ist nicht auf dem neusten Stand.

Skeptische Blicke tat ich mit einer wegwerfenden Geste ab: Spätestens seit den Olympischen Spielen sind die Favelas von Rio de Janeiro befriedet – laut Reiseführer «Lonely Planet» ein «Must do». Besonders Babilônia sei ein bei alternativen TouristInnen beliebtes Exemplar des «Favela-Chic». Seine farbig-fröhlichen, unwahrscheinlich aufeinandergestapelten Häuslein schmiegen sich an einen Hügel im Naturschutzgebiet, wunderhübsch gebettet zwischen Regenwald und Atlantik, in bequemer Gehdistanz zur Copacabana. Die BewohnerInnen haben einen Postkarten-Panoramablick auf die strahlende Küste, den Zuckerhut, die Cristo-Statue und das Leme Hilton Hotel.

Babilônia ist in den letzten Jahren zur Vorzeige-Favela geworden. Begonnen hat es 2009 mit dem Einmarsch der «Befriedungspolizei». Die Unidade de Polícia Pacificadora (UPP) wurde vom damaligen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva ins Leben gerufen, einerseits um die BewohnerInnen der Favela vor der Gewalt der Drogenkartelle zu schützen, andererseits um für die Fussball-WM 2014 schon mal aufzuräumen. Bis zu den Olympischen Spielen 2016 wurden im Namen der Befriedung 39 der schätzungsweise 500 Favelas von Rio quasimilitärisch besetzt. Bevorzugt wurden natürlich jene an attraktiver Lage, um diese auch für zahlungskräftige Gäste zugänglich zu machen. Babilônia jedenfalls wurde bald zum Paradeprojekt des Programms zur nachhaltigen Urbanisierung von Rios Favelas. Strassen wurden aus Recyclingmaterial zementiert, auf einem neuen Häuserblock wurden Solarpanels und Regenwassertonnen installiert und die Fenster so geplant, «dass der Wind vom Meer hinein- und zu einem andern wieder hinauskann, damit die Bewohner keine Ventilatoren benutzen müssen», wie eine Architektin erklärt.

Der kapitalistischen Eroberung stand damit nichts mehr im Weg: Die gefährlichen Drogenkartelle waren in die Flucht geschlagen, in der Folge schossen nun die Boden- und Mietpreise in die Höhe. Ausländische Investoren kauften auf, bauten Hostels und Clubs. Es kamen TouristInnen, um im Regenwald zu wandern und vor den Graffiti an den Hausmauern Selfies zu machen. Und es kamen immer mehr Leute aus der Mittelschicht, die sich Wohnen im «unteren» Rio je länger je weniger leisten können. Heute sagt man in Babilônia, die sogenannte Befriedung sei überhaupt erst zum Zweck der Gentrifizierung durchgeführt worden.

Kein Taxi fährt uns nach Hause

Richtig elende Favelas gibt es natürlich noch immer; solche, in die kein Polizist je seinen Fuss gesetzt hat. Aber die sind ein wenig ausserhalb, zum Beispiel auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt. Statt auf einem pittoresken Hügel liegen sie an braunschaumigen Gewässern; über den blanken Backsteinwürfeln kreisen schwarze Reiher mit Saurierflügeln. Durch diese düstere Apokalypsenlandschaft fährt uns der Konsulats-BMW. Es ist ein früher Morgen im November. In der Schweiz war es kalt, hier soll der Sommer beginnen.

Ich bewege die vom Flug geschwollenen Zehen, als ich erfahre, dass mein Reiseführer- und Google-Wissen über den Ort, an dem ich die nächsten drei Wochen verbringe, gar nicht auf dem neusten Stand ist. «Die Favelas sind leider nicht mehr so sicher», sagt unsere Betreuerin vom Konsulat in den Rückspiegel. «Das ganze Aufwertungsgeld ist weg, der Staat ist bankrottkorrumpiert. Es gibt wieder viele bewaffnete Kämpfe. In letzter Zeit hatten wir auch einige Probleme mit Touristen. Wenn jemand mit dem Auto reinfährt, und die wissen nicht, wers ist, dann schiessen sie – aber ihr seid ja nicht mit dem Auto unterwegs, oder?» Der brasilianische Fahrer wirft ein, der Konsulatswagen sei schusssicher. «Allerdings reicht der Schutz nicht für die schweren Kriegswaffen, die in den Favelas mittlerweile alle haben.» Die Betreuerin sagt schnell: «Babilônia ist o. k., nicht zu gefährlich. Ihr müsst dann nicht erschrecken; Kinder mit Gewehren, das werdet ihr sehen.»

Ein befreundeter Autor und ich sind nach Rio gereist, um an einem Literaturfestival zum Thema Revolution teilzunehmen. Und weil ich nicht oft um die halbe Welt fliege, wollte ich schon früher hin, mir Zeit nehmen, den Kulturschock auskurieren, die Stadt kennenlernen. Ich redete mir ein, dass ich nicht als Touristin unterwegs sein würde; ich wollte recherchieren. Ein Hotel am Strand kam nicht infrage. Also warum nicht eine Wohnung in einer netten, befriedeten Favela?

«Wir sind nicht lebensmüde hier»

«Now is not the best time», sagt nun aber auch der verschlafen wirkende Mann im Fussballshirt, der uns beim Aussteigen begrüsst. Es ist Julio, der Leiter des Literaturfestivals. Zufälligerweise wohnt er in Babilônia. Er bringt uns in die 24-Stunden-Bar am Eingang zur Favela, wo Männer um einen Biertisch sitzen und einer mit dem Gesicht in einer Lache schläft. Es ist gerade 9 Uhr, wir trinken Kaffee aus Plastikbechern. Julio will nicht, dass wir Angst haben, er will, dass wir vorbereitet sind. «Wir sind nicht lebensmüde hier», sagt er, «habt ihr Whatsapp?» Wenn eine Schiesserei passiert, meint er, schreibe man das in den Chat, damit es alle wissen. «Wo wohnt ihr?», fragt er, und ich gebe wieder, was in der Beschreibung stand: «Ganz oben auf dem Hügel, die lange Treppe hoch, hundert Stufen.» Julio seufzt, und die Betreuerin hebt die Augenbrauen. «Es ist eigentlich kein gefährlicher Ort», meint Julio dann, «dort stehen nur die Wachen. Wenn sie schiessen – und ihr werdet Schüsse hören –, wollen sie bloss sagen: Wir sind hier. Es ist nicht wie bei euch in Europa, mit dem Terrorismus. Ihr seid hier kein Target, ihr seid weiss.»

Wir steigen den Hügel hoch, bleiben alle paar Meter stehen, damit Julio nach dem Weg fragen kann. Dicht über unseren Köpfen hängen zu schweren Bündeln zusammengebundene Stromkabel. Zwei Bauarbeiter, die auf der Strasse Beton mischen, und ein weiterer, einen Zementsack auf dem Rücken hochschleppend, zeigen die schmale, steile Treppe hinauf. Wir hieven unsere Koffer die Stufen hoch und vorbei an den drei Jungs mit den Gewehren. Julio grüsst. Wenige Schritte weiter schiesst von einem Balkon aus ein lächelnder Bub mit einer Plastikpistole auf uns.

In den nächsten Tagen leben wir uns ein. Wir erfahren, dass «oben» und «unten» nichts miteinander zu tun haben. Wir verlaufen uns in Copacabana: Kein Taxi fährt uns nach Hause. Wir fragen PassantInnen nach dem Weg. Sie schütteln den Kopf: «Dort geht man nicht hin.» Wir hören Feuerwerk und denken Maschinengewehr. Wir verfolgen die ständig kreisenden Helikopter am Himmel. Wir trauen uns nicht aus dem Haus und braten zum Nachtessen Bananen.

Wir lernen: Es gibt drei Kartelle, die gegeneinander kämpfen. Wir lernen, dass die Polizei vom bankrotten Staat keinen Lohn mehr kriegt. Dass Polizisten zu Kartellen überlaufen, mit ihnen im Krieg kämpfen, sie durch feindliche Favelas eskortieren, damit diese gestürmt und dort neue Lager aufgebaut werden können. Wir beobachten die UPP-Polizisten, die unten am Eingang von Babilônia stehen. Sie versuchen, ihren Wagen zu starten, der Motor geht nicht an. Sie werden nichts tun, und ihnen wird nichts passieren: Die Banden und die UPP haben eine Vereinbarung, sie bekriegen sich nicht.

Wir steigen auf Berge, sehen die Gegensätze von oben: Farbige Gleitschirme – ein Flug kostet circa 500 Franken – segeln friedlich über Regenwaldgrün, Villen, Pools und Tennisplätze – und über die grösste Favela Brasiliens. Direkt über dem Nobelviertel Leblon liegt diese Wellblech-Backstein-Lawine, die gefährliche Rocinha, die auch jetzt knallt und raucht. Wir liegen flach am Abgrund und lernen den hörbaren Unterschied zwischen Feuerwerk und Schüssen. «Sie klingen trockener. Das – hört ihr? –, das sind Schüsse.»

Am letzten Tag nehmen wir die Treppe frühmorgens. Ein Junge liegt da, neben sich das grosse Fernglas, in einer Hand die Waffe, in der andern das Funkgerät. Er schläft mit weit offenem Mund. Zur selben Zeit am nächsten Tag wird die Waffenruhe gebrochen. Der Chat meldet einen Angriff des feindlichen Kartells mit Schüssen und Granaten.

Kreuzfeuer zum Schulende

Natürlich denken wir daran umzuziehen. Besonders abends, wenn wir müde sind und beim Eingang feststecken, in der Bar sitzen und warten, bis das Knallen aufhört. Wenn dazu der Fernseher Bilder zeigt von der grossen Schiesserei in der Rocinha, wo kürzlich eine Touristin von der Polizei erschossen wurde. Bilder von einem lachenden Bub, erster Schultag, dann er im Spital, mit halb weggeschossenem Gesicht. Der Whatsapp-Chat blinkt auf: «tranquilo». Und eine Sprachnachricht von Julio: «Ihr müsst dem Chat vertrauen. Er ist präziser als die Wettervorhersage.»

Also bleiben wir. Warum? Wegen der Aussicht? Es erscheint uns als unwahrscheinliches, höchst paradoxes Privileg: Es gibt nicht viele Orte, wo den Armen ein Paradies gehört, und die Reichen haben keinen Zugang. Irgendwie sind wir in so einer verkehrten Welt gelandet: Da schauen die Mittellosen runter auf die Betuchten, die sich im Parterre verschanzen. Wir wollen nicht zu Letzteren gehören, wir sind arme KünstlerInnen. Natürlich wissen wir, dass das hier Blödsinn ist. Trotzdem fühlen wir uns den Leuten hier oben mehr verbunden als jenen, die mit Favelas nichts zu tun haben wollen. JedeR fünfte Carioca, wie die BewohnerInnen von Rio heissen, lebt in einer Favela – und damit in einer Parallelwelt. Die konfuse Solidaritätsblase zerplatzt, als mir ein wacheschiebender Teenager Avancen macht, indem er seinen Pistolenlauf abschleckt. Unser Vermieter schickt eine Sprachnachricht: «Nobody’s gonna fuck with you, you are perfectly safe.»

Und wieder gehen wir nicht. Absurderweise fühlen wir uns in der Favela tatsächlich meist sicherer und vor allem freier als «unten». Dort haben die Trottoirs hübsches Mosaikmuster, aber sie sind ausgestorben. Menschen huschen aus ihren Autos direkt hinter die automatischen Pforten der armdicken Goldgatter, die ihre Häuser von der Strasse trennen. Oben gibt es den Jungen, der tief in einen Papiersack schnauft, es gibt aber auch: herumrennende Kinder, Fussball, Musik, auf Dächern wird grilliert. In der Favela sagen sie, wir sollen uns «draussen» in Acht nehmen, nie das Telefon oder Portemonnaie zeigen, abends gar nicht zu Fuss unterwegs sein. In Babilônia aber könnten wir uns frei bewegen, die ganze Nacht spazieren, kein Problem. Die soziale Kontrolle ist mächtig hier. Oder wie unser Vermieter sagt: «Wenn euch jemand was antut, wird er getötet.»

Auf der Strasse des Friedens

Julio drückt es anders aus. «Die Favela ist eine Community, hier leben wir alle zusammen als Brüder: Gangster mit Motherfucker-Cops mit Katholiken mit Linken. Carioca way of life: Wir glauben nicht an die Demokratie, an die Politik. Ich glaube an dich als Menschen, aber nicht an dich, sobald du etwa repräsentierst.» Er führt uns herum, Beruhigungstour. Die Schüsse am Vorabend seien Freudenschüsse gewesen, «happy to be alive». Wir stehen vor unserem Haus, Julio zeigt hinauf in den Wald, dahinter liege eine andere Favela, im Krieg sei das die Achse, bis hierher, Strasse des Friedens, so heisse diese Gasse jetzt. Die Graffiti an der Wand zollten zwei Toten des letzten Gefechts Tribut. Das war vor ein paar Wochen. Aber nun ist Waffenruhe.

Julio bringt uns in die benachbarte Favela Chapéu, ins angeblich beliebteste Restaurant von ganz Rio. Noch vor einem Jahr war es jeden Abend voll von TouristInnen und Cariocas von ausserhalb der Favelas. Jetzt ist ausser uns niemand da. Die Kellnerin trägt ein Shirt mit dem Motto des Restaurants: «From Favela to the World». Der Besitzer – ein Fischer, der sich beigebracht hat, Seafood Feijoada zu kochen – investierte die ganzen Einnahmen in den Ausbau eines zusätzlichen Stockwerks. Er wurde zum Ende der Olympischen Spiele fertig. Dann brach die Wirtschaft zusammen, und der Krieg ging wieder los.

Es knallt. Feuerwerk, meint Julio. «Wenn jemand Feindliches in die Favela kommt, geben sie damit eine Warnung. Aber ich weiss nicht, was das war.» Wir essen weiter. Nach einer Weile sagt Julio: «Wir beten viel hier. Wir glauben nicht ans System, also müssen wir an Gott glauben.

Eine Besserung der Lage scheint nicht in Sicht. Der verhasste rechtskonservative Präsident Michel Temer korrumpiert das Land wie keiner zuvor und treibt das isolierte Brasilien in eine ausgewachsene Staatskrise. Die Arbeitslosigkeit ist hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr; die Mittelschicht, die unter Lula aufgestiegen war, droht ins Elend zurückzufallen. Die Stadt Rio hat zusätzlich einen evangelikalen Pastor als Bürgermeister am Hals: Marcelo Crivella schafft mit seinen rassistischen, sexistischen, homo- und transphoben Aussagen ein Klima der Angst im vermeintlich so offenen Rio. Die Rechte von Minderheiten werden systematisch beschnitten, auf allen Ebenen passieren kontinuierlich gefährliche Rückschritte. Bis anhin verbotene religiöse «Therapien», um Homosexualität zu «heilen», werden ausdrücklich wieder erlaubt. Regierungsrichtlinien, die sklavereiähnliche Zustände in Betrieben verbieten und definieren, werden verwässert. Das Recht auf Abtreibung nach einer Vergewaltigung wird abgeschafft. In Rio gibt es massive Proteste – die Presse schweigt.

Die festgefahrene politische Situation spiegelt sich auch in Babilônia. Baptistenkirchen poppen ebenso auf wie neue Umschlagplätze der Kartelle. In den einen singen Teenagermütter, in den anderen tanzen schwerbewaffnete Jungs. Die befriedeten Jahre scheinen weit weg: Vom UPP-Container blättert die Farbe, das letzte dazugehörige Polizeiauto ist ein Totalschadenwitz: eingeschlagene Fenster, zerstochene Reifen, zerdrückte Stossstangen und Türen, als wäre jemand von allen Seiten mit voller Wucht reingeprallt. Das menschenleere «Vintage Café»; ein fröhliches Graffito: «The Favela Experience». Und durch die Strassen, vorbei an rauchenden Grills und Suppentöpfen, fährt ein Auto mit einem scheppernden Lautsprecher auf dem Dach. Manchmal ist es ein Gemüseverkäufer, der schreit, immer öfter hört man aber auch hetzerische Hassreden gegen weisse Reiche.

Kein Wunder, alle im Zuge der Befriedung versprochenen Sozialprogramme sowie solche für Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und Kultur sind gescheitert. Und obwohl Babilônia direkt über einer der reichsten und somit steuermächtigsten Gegenden Rios liegt, haben manche BewohnerInnen noch nicht einmal sanitäre Anlagen. Deren Häuser stünden laut Regierung in «Risikozonen» und sollen umgesiedelt werden. Von den 117 versprochenen neuen Wohnungen wurden jedoch nur 26 fertiggestellt. Deren BewohnerInnen verzweifeln schon jetzt ob der Abnutzungsschäden des offenbar mehr schlecht als recht zusammengezimmerten Komplexes. Um Hilfe für Renovierungen fragen sie vergeblich: Das Projekt ist offiziell abgeschlossen.

Gated Community in der Favela

Seit Ende November läuft der Chat fast täglich heiss. «Viele Schüsse, bleibt drinnen.» – «Was soll ich tun, ich muss zur Arbeit!» Die zu Tode erschrockenen Emoticons wechseln sich ab mit den heulenden. Zu den kämpfenden Banden kommen gross angelegte Polizeieinsätze. «Gerade zur Zeit, wo unsere Kinder aus der Schule heimkommen.» Damit ist die Situation mittlerweile fast schlimmer als vor der Befriedung. Damals galten in der Favela drei eiserne Gesetze: Kein Kampf während der Gebetszeit, keine nackten Oberkörper auf der Strasse, keine Überfälle. Seit sich die UPP bei ihrem Einzug nicht an die Regeln gehalten hat, gelten sie nicht mehr. Ein weiteres Problem sind die neuen Gangsterkids, die in den letzten Monaten an der sich auflösenden UPP vorbeispaziert sind und Babilônia mehr und mehr für sich eingenommen haben. Sie sind hier fremd, kennen weder die BewohnerInnen noch den Ort. Schiessereien sind somit für alle gefährlicher geworden: Die Jungen rennen planlos durch alle Gassen und verstecken sich in Hauseingängen. Infolgedessen beginnen sich die BewohnerInnen zu verschanzen: Sie verriegeln Türen und Fenster, schliessen vormals öffentliche Hauseingänge mit Toren, ziehen gar neue Betonwände hoch. Gated Community in der Favela.

So ähnlich denken wohl auch die Investoren. Die scheinen die Hoffnung nämlich nicht aufgegeben zu haben. Ein teurer Club auf der Hügelspitze von Vidigal, der Nachbarsfavela der Rocinha, baut jedenfalls weiter fleissig aus, umstellt von einem Klüngel Militärpolizei. Anscheinend, so heisst es in der Favela, sei dieser Ort ein Anziehungspunkt für Reiche auch von «unten» und damit per allseitigen Beschluss von Gefechten ausgenommen.

Heute macht Rio wieder Schlagzeilen: Die Rocinha wurde von 3000 Polizisten und Militärs gestürmt. Während Polizisten mit dem verhafteten Drogenboss Rogério da Silva triumphale Selfies machen, trauern BewohnerInnen um mindestens einen zivilen Toten, einen Mototaxifahrer. Seit ihrer «Befriedung» 2011 hat die Rocinha mehr Gewalt als Frieden erfahren. Eingeklemmt im andauernden Krieg zweier rivalisierender Drogenbanden, erscheint dieser neuste militärische Clou den BewohnerInnen als reiner Hohn. Wie ein Anwohner zum «Guardian» sagt: «Diese Geschichte wird tragisch enden. Die beiden Gangs werden nicht lange so zusammenleben. Einer muss gewinnen.»

Michelle Steinbeck, geboren 1990 in Lenzburg, ist Schriftstellerin und lebt derzeit als Laureatin des Istituto Svizzero in Rom. Ihr erster Roman, «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» (2016), war auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.