Fotojournalismus im Museum: Entwurzelte Bilder

Nr. 26 –

Wessen blinde Flecken sind hier gemeint? Die Ausstellung «Blind Spots» in Winterthur versammelt bestechende Afrikabilder des Magnum-Fotografen Dominic Nahr, unterschlägt aber den journalistischen Kontext seiner Arbeiten.

Was lässt sich ohne Kontext verstehen? Eine Familie sucht Schutz im Sumpfgebiet (Südsudan, Unity State 2015). Foto: Dominic Nahr

Am Anfang war ein Unbehagen. Ein vorläufig noch vages Missfallen angesichts der Ausstellung «Blind Spots» in der Fotostiftung Schweiz. Sie zeigt eine Palette bestechender Bilder, die der Schweizer Fotoreporter Dominic Nahr in Somalia, Mali, im Südsudan und in der Demokratischen Republik Kongo aufgenommen hat. Die auch technisch hervorragenden Bilder wurden entweder gerahmt oder direkt auf die Wand tapeziert, die Bildlegenden umreissen knapp das Gezeigte: «Südsudan, 2015: Eine Familie sucht Schutz im Sumpfgebiet, Unity State.» Wer will, kann sich per Smartphone zu ausgewählten Fotografien einen Audiokommentar von Nahr herunterladen, einen Katalog gibt es nicht.

Die Kuratoren Peter Pfrunder und Sascha Renner stellen beim Presserundgang selbstkritische, aber auch etwas naive Fragen: Darf man Bilder von den Frontlinien eines Krieges und anderen Grausamkeiten überhaupt in eine Ausstellung hängen und so einer musealen Beschaulichkeit anheimgeben? Oder noch grundsätzlicher: Kann man das Schreckliche (auch) schön finden? Doch diese Fragen der Kuratoren zielen am eigenen Unbehagen vorbei. Natürlich darf und kann man. Was also ist das Problem?

Unter Verdacht

Nun hat der Fotojournalismus schon länger nicht den besten Ruf. Mehrfach am World Press Photo Award und kürzlich auch beim Swiss Photo Award kam es zu Manipulationsvorwürfen. Moniert wurden etwa unrealistische Licht-Schatten-Verhältnisse, gestellte Szenen oder schamlos übergriffige Fotografen. Im Schweizer Fall hatte der Fotograf Roshan Adhihetty sogar einen Menschen ganz aus dem Bild herausretuschiert, um das Arrangement stimmiger zu machen. Er wurde auf der Stelle disqualifiziert. Obwohl die Manipulation von Fotografien so alt ist wie die fotografische Technik selbst, erwartet man gerade von Fotoreportagen, dass sie ein Abbild der Wirklichkeit liefern. Erst recht in Zeiten, da man dieser Wirklichkeit immer weniger traut. Oder immer weniger weiss, was ein getreues Abbild überhaupt sein könnte.

Dieser latente Manipulationsverdacht läuft beim in Winterthur ausgestellten Dominic Nahr ins Leere. Offen schildert er etwa, wie er die ISO-Werte bei einem Bild hochdrehen musste, das bei Dämmerung, unter schwierigen Bedingungen und hohem Zeitdruck entstand: Es wäre sonst kaum etwas zu erkennen gewesen auf dem Bild. Skandalverdächtige Bildeingriffe aber scheint der seit vielen Jahren für die wichtigsten Publikationen der Welt – von «National Geographic» bis «Time Magazine» – arbeitende Fotograf noch nie gemacht zu haben. Und auch der oft erhobene Vorwurf des Reisserischen, einer Bilderjagd um jeden Preis, ist hier fehl am Platz. Die Fotografien des erst 34-jährigen seit fünf Jahren in Nairobi lebenden Schweizers sind keine effekthascherischen, dem Schrecklichen abgetrotzten Eitelkeitszeugnisse.

Im Gegenteil, Nahr findet thematisch eine gute Balance zwischen der Beiläufigkeit von Alltagssituationen und akuten Ausnahmezuständen: Eine mit Bibelpostern geschmückte Holzhüttenwand wechselt sich ab mit Flüchtenden, auf eine Leiche in einem Ölfeld folgt ein Stimmungsbild von der Pferderennbahn. Seine Bilder bedienen weder einfache «Arm, aber glücklich»-Klischees, noch sind sie Gewalt- oder Elendspornografie. Der Fotograf Nahr erscheint als ein sympathischer Getriebener, der einzufangen sucht, was nicht schon zigfach fotografiert wurde.

Wer verdient an der Armut?

Schon etwas näher am eigenen Unbehagen lagert der Vorwurf, dass auf dem «Schwarzen Kontinent» überdurchschnittlich viele weisse Fotografen (und sehr viel weniger Fotografinnen) unterwegs sind. Oder genauer: dass die Afrikabilder, die in unseren Breitengraden zirkulieren, in der überwiegenden Mehrzahl von weissen Fotografen wie Dominic Nahr stammen. Eine aktuelle Statistik zur legendären Fotoagentur Magnum macht klar, dass das ein weltweites Problem ist: sind doch bei Magnum gerade einmal vierzehn Prozent FotografInnen beschäftigt, die aus einem «nichtwestlichen Kontext» stammen.

Und wie der niederländische Künstler Renzo Martens in seinem genialen Mockumentary «Enjoy Poverty» bereits 2008 nachgezeichnet hat, ist es etwa für kongolesische Fotografen fast unmöglich, in die Verwertungszusammenhänge der grossen Bildagenturen hineinzukommen. Oder in der konsequenten Zuspitzung des Filmemachers Martens: Sogar an den Bildern der Armut und der Kriegswirren verdienen fast ausschliesslich Weisse. Dieses Ungleichgewicht und die Geldfrage sind nur zwei der Probleme des Fotojournalismus in sogenannten Drittweltländern und Krisenregionen.

Nackt an die Wand gehängt

Was aber ist nun das spezifische Problem an der Präsentation von Nahrs Bildern in der Fotostiftung Schweiz? Fotojournalismus bedeutet, dass Fotos in einen journalistischen Zusammenhang eingebettet sind: Die Bilder sind an erläuternden und erzählenden Text gekoppelt, ohne den sie nur bedingt funktionieren. In Winterthur hat man Nahrs Bilder aber aus ihrem fotojournalistischen Kontext gerissen und quasi nackt an die Wand gehängt: In der ganzen Ausstellung ist bizarrerweise kein einziges Magazin oder sonst ein publizistischer Rahmen zu sehen, für den diese Fotos ursprünglich gemacht wurden.

Den Mut, diese Bilder wirklich radikal umzucodieren und ganz ohne Kontext zu zeigen, hatte man allerdings auch nicht: Die Fotografien wurden in der Ausstellung wieder neu mit allerlei Kontext angereichert. Direkt beim Eingang schwebt eine philosophisch-theoretische Zitatewolke in hoher Flughöhe über dem weiten Feld Afrika und Dokumentarfotografie – mit Merksätzen von Susan Sontag bis Okwui Enwezor. Zwischen den polaren Aussagen «Afrika gibt es nicht» und «Afrika gibt es doch» verliert man sich im Unspezifischen, das eh schon viel zu abstrakte «Afrika» gerinnt vollends zur Chiffre. Und dass der Fotografie «Zauber und Verführungskraft» innewohnen, sich in ihr aber auch «Klischees und Vorurteile» zementieren – geschenkt. Bei jedem Länderkapitel klebt zudem eine Art Datenblatt an der Wand mit Informationen zu den jeweiligen Ländern. Nur enthalten diese Texte, wie auch die Bildlegenden, kaum mehr als Wikipedia-Wissen.

Bleibt der Podcast mit Nahrs Geschichten aus seinem Alltag als Fotograf und ein paar zusätzlichen Informationen zum Abgebildeten. Diese kurzen Statements stehen aber nur für eine Auswahl der Fotos in der Ausstellung zur Verfügung, und es ist zu bezweifeln, dass sie von allen BesucherInnen genutzt werden. Man erfährt darin auch mehr über Nahr und seine Arbeit als über die Bilder selber. Wer einfach so durch die Ausstellung geht, steht vor entwurzelten, teils verloren wirkenden Fotografien, die für sich allein stehend oft nur Fragmentarisches oder Vages vermitteln. Von den virulenten journalistischen Fragen nach dem Wer, Wie, Was, Warum, Wann und Wo werden von Bild und Legende meist bloss das Wo, das Wann und ansatzweise das Was beantwortet.

Gegen das Vergessen

Weil konkreter – politischer, historischer, menschlicher – Kontext fehlt, laufen diese Reportagefotografien Gefahr, sich zu wuchtigen Metaphern oder Symbolen zu verrätseln, was nicht zu ihrem Besten ist. Womöglich ist es kein Zufall, dass die Ausstellung durch ein grossformatiges reines Symbolbild eröffnet wird. Wir sehen einen riesigen braunen Stoffhaufen, die Legende erklärt, es handle sich um Kleidungsstücke von Kindern, die an der Völkermordgedenkstätte von Nyamata in Ruanda ausgestellt seien, wo die Überreste von 45 000 Opfern aufbewahrt würden. Per Podcast erklärt Nahr, die Gedenkstätte sei da, damit man nicht vergesse, was passiert sei. Dies beschreibe auch seine eigene Arbeit: Fotografieren gegen das Vergessen. Nur wird über diesen Kleiderhaufen auch ein impliziter und durchaus problematischer Symbolbogen zu Auschwitz geschlagen. Reflektiert wird diese bildhafte Verklammerung der beiden Völkermorde aber nicht. Sollte man solche heiklen assoziativen Vergleiche wirklich unkommentiert der Fantasie der BetrachterInnen überlassen?

«Blind Spots» heisst die Ausstellung. Aber welche und vor allem wessen blinde Flecken sind damit gemeint? Man wird den Eindruck nicht los, dass der Titel auf die Kuratoren selbst zurückverweist und auf ihre blinden Flecken beim Aufbereiten und Präsentieren des Ausstellungsmaterials. Nicht zuletzt schafft die Ausstellung sogar selber neue blinde Flecken, weil sie weder die postkolonialen noch die fotojournalistischen Dimensionen der gezeigten Bilder gebührend reflektiert.

Mali 2016: Ein Dogon im traditionellen Kostüm nach einer Veranstaltung auf dem jährlichen Maskenfestival in Markala, nördlich von Bamako. Foto: Dominic Nahr

«Dominic Nahr – Blind Spots» in: Winterthur, Fotostiftung Schweiz. Bis 8. Oktober 2017. www.fotostiftung.ch