Nach dem Attentat in Britannien: May hat den Erdrutsch vermasselt

Nr. 22 –

Warum nicht die Tories, sondern eher Jeremy Corbyn und seine Labour Party vom Terror in Manchester profitieren.

Je nervöser die Stimmung bei den britischen Konservativen, desto hanebüchener die verbalen Attacken gegen den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Wenn die Tories dieser Tage davor warnen, dass ein Wahlsieg der Opposition das Risiko von Terroranschlägen erhöhen würde, dann ist das ein klarer Hinweis darauf, dass Theresa Mays KollegInnen ziemlich nervös sind.

Dazu haben sie allen Grund. Der Vorsprung der Regierungspartei ist seit Beginn des Wahlkampfs markant geschrumpft: Lagen die Tories vor sechs Wochen, als die Premierministerin Neuwahlen ausrief, noch zwanzig Prozentpunkte vorn, sind es mittlerweile deutlich weniger als zehn, in manchen Umfragen gar nur noch fünf Prozentpunkte. Plötzlich ist der Erdrutschsieg, den sich May versprochen hatte, gefährdet.

Das ist sowohl dem forschen Auftreten Labours geschuldet als auch der Inkompetenz der Tories. Labours Wahlmanifest, das etwa die Verstaatlichung der Eisenbahn und der Energieversorgung, die Abschaffung der Studiengebühren sowie ein gross angelegtes Wohnungsbauprogramm verspricht, ist bei der Bevölkerung auf breite Zustimmung gestossen. Demgegenüber hat May ihre Kampagne bislang eher vermasselt: In einer peinlichen Kehrtwende musste die geplante Reform der Sozialfürsorge revidiert werden. Nach der ursprünglichen Fassung wären RentnerInnen, die ein Eigenheim besitzen, stärker zur Kasse gebeten worden. Und während Corbyn bei Kundgebungen im ganzen Land Tausende Schaulustige anzieht, traut sich die Premierministerin kaum unter die Leute. Ihre Wahlkampfauftritte wirken gestellt, ihre Botschaft beschränkt sich darauf, sich als Garantin der Stabilität darzustellen.

Wer ist das Sicherheitsrisiko?

Nach dem Terroranschlag von Manchester, bei dem 22 Menschen getötet wurden, bot sich May die Gelegenheit, der Floskel von der «starken und beständigen» Staatsfrau Substanz zu geben und Corbyn zu einem Sicherheitsrisiko zu erklären. Doch trotz der Bemühungen ihrer MinisterInnen – mit der Hilfe der konservativen Presse – hat die Tragödie den Tories keinen Aufschwung gebracht. Stattdessen wurde die Sicherheitspolitik der Konservativen, für die May als Innenministerin von 2010 bis 2016 verantwortlich war, stärker unter die Lupe genommen. Dabei sind Bedenken ob ihrer Antiterrorstrategie aufgekommen.

Schon kurz nach dem Anschlag war herausgekommen, dass Mitglieder der muslimischen Community in Manchester die Sicherheitsbehörden mehrmals auf die extremistischen Ansichten des Selbstmordattentäters Salman Abedi hingewiesen hatten. Am Montag eröffnete der Inlandsgeheimdienst MI5 zwei interne Untersuchungen, um herauszufinden, weshalb Abedi trotz dieser Warnungen nicht festgenommen worden war. Wozu ist die von May ausgebaute Überwachung unter der Antiterrorgesetzgebung gut, fragen sich viele BritInnen, wenn in einschlägigen Fällen nicht gehandelt wird?

Auch ist die Regierungschefin in die Kritik geraten, weil sie trotz Warnungen vor den Folgen ein Sparprogramm bei der Polizei durchgedrückt hat: Zwischen 2010 und 2016 fiel die Zahl der PolizistInnen in England und Wales um dreizehn Prozent. Viele Stellenkürzungen betrafen das «neigbourhood policing», bei dem die BeamtInnen engen Kontakt zur Bevölkerung in ihrem Einsatzgebiet pflegen. Bereits 2015 verwiesen leitende PolizistInnen darauf, dass diese Sparmassnahmen die Terrorbekämpfung beeinträchtigen würden.

Auch die Nachrichtendienste spielten ab 2011 im libyschen Bürgerkrieg eine überaus dubiose Rolle: Laut Recherchen des Nachrichtenportals «Middle East Eye» ermunterten GeheimdienstmitarbeiterInnen Briten libyscher Abstammung, von denen manche wegen Terrorvergehen unter Hausarrest standen, nach Libyen zu reisen, um dort gegen Muammar al-Gaddafi zu kämpfen. Viele schlossen sich islamistischen Gruppen an. Auch Abedi beteiligte sich als Teenager zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder am bewaffneten Kampf gegen den libyschen Diktator.

Das Gedächtnis des Boris Johnson

Angesichts dieser Fehltritte klingt der Vorwurf der Tories, Corbyn würde die Sicherheit der britischen BürgerInnen gefährden, kaum überzeugend – zumal Labour in ihrem Wahlmanifest eine Reihe von Massnahmen auflistet, die auf eine Stärkung des Service public abzielen: unter anderem die Rekrutierung von 10 000 PolizistInnen und 1000 Feuerwehrleuten. Bedeutender ist jedoch die Art der Terrorbekämpfung, die Corbyn vier Tage nach dem Attentat umriss: ein Umdenken in der Aussenpolitik. Seine Worte wählte er vorsichtig, aber die Aussage war klar: Der «Krieg gegen den Terror» sei gescheitert, eine neue, «smartere» Strategie müsse her.

«Monströs» nannte Aussenminister Boris Johnson diese relativ milde Rede, obwohl es unter Sicherheitsexpertinnen und Geheimdienstmitarbeitern mittlerweile als Gemeinplatz gilt, dass Interventionen wie der Irakkrieg die Terrorgefahr im Westen markant erhöht haben. Auch in konservativen Medien ist das schon lange nachzulesen, so etwa vor zwölf Jahren im «Spectator»: Der Krieg habe «die Ressentiments von mörderischen Fundamentalisten zweifelsohne vertieft und ihnen einen neuen Vorwand» für Terror gegeben. Der Autor: Boris Johnson.