Von oben herab: Geschenkt

Nr. 15 –

Stefan Gärtner über einen Liederabend, den man (nicht) gesehen haben muss

Fachleute und Laien waren sich einig: So emotional isch es no nie gsii. «Dass Schweizerinnen und Schweizer zynische Technokraten sind, die zum Beispiel gnadenlos die Kitschbedürfnisse des Fernsehpublikums abmelken, hat sich als reines Vorurteil erwiesen», so unter Tränen der Rührung Natalie Blasi, Mediensprecherin Unterhaltung bei SRF, wo man mit dem Finale der aufwühlenden, mitreissenden, beklemmenden Emotionalmusikshow «Ich schänke dir es Lied» vollauf zufrieden ist. In bislang vier Ausgaben hatten vierzig Eidgenossen und Eidgenossinnen von einem lieben Menschen ihr Lieblingslied überreicht bekommen, dargeboten von Ausnahmetalenten wie Paola Felix oder Dieter Meier (Yello), live im Studio oder auch an besonderen Orten (Fussgängerzone), und am Samstag fand nun in der Bodensee-Arena in Kreuzlingen die (im Wortsinn) Endausscheidung statt: Die besten zwölf Musiker und Künstlerinnen, vom Publikum ausgewählt, standen abermals auf der Bühne, damit das emotionalste, aufwühlendste, sensibelste Lied des Abends, ja des ganzen Jahres gewählt werden konnte.

Den Anfang machten die sympathischen Newcomer von Toblerotronic, deren Beitrag «Aber hier leben, merci vielmal» ein Geschenk der SVP an die Asyl- und Flüchtlingsvorsorge Zürich war, und kaum hatte sich der stürmische Applaus gelegt, rockte auch schon Bastian Baker die Bühne, der hingebungsvoll von etwas sang, das uns alle angeht und tief berührt. Als Padi Bernhard («Party-Bernhard») dann «Ewigi Liäbi» in einem dreissigminütigen Extended-Mix darbot, brach Gastgeberin Viola Tami zum ersten Mal unter einem fulminanten Weinkrampf zusammen, sodass Francine Jordis gefühlvoller Gassenhauer «Das Feyr vo dr Frässsucht», den die Schweizer Pharmaindustrie allen mit übermässiger Magensäureproduktion zum Geschenk gemacht hatte, erst mit erheblicher Verspätung zu Gehör kommen konnte. Dafür «brannte» es dann aber auch gehörig in und zwischen den Ohren, wie alle, die dabei waren, ungefragt bestätigten!

Anschliessend wurde es allerhöchste Eisenbahn (SBB), dass Anna Rossinelli & Kunz ihr kokett sprechendes Duett «Something Stupid» darboten, und die Live-Schalte zum Desert Memorial Park in Cathedral City, Kalifornien, wo Frank Sinatra aufheulend in seinem Grab rotierte, stand wie eine Schweizer Eins – dass Ricardo («Sans scrupules») Sanz da vernünftigerweise ein «My Way» hinterher hämmerte, um mit der objektiv grössten Rücksichtslosigkeit noch die allerletzte Tränendrüse machtvoll zu fluten, griff da so ans hoffentlich nicht allzu vorgeschädigte Herz wie Anna Rossinellis neuerlicher Auftritt mit «Hallelujah», der Leonard-Cohen-Fans in aller Welt echte Tränen der Wut, des Abscheus, der Verzweiflung auch in die Augen zwang.

Überwältigung pur und total, sodass Peter Reber mit «E Vogel ohni Flügel», seinerzeit ein Geschenk der Schweizer Katzenfreundinnen an die Vogelwarte Sempach, schon überhaupt keinen Widerstand mehr zu gewärtigen hatte – und der impertinente Männerchor Heimweh mit seinem fulminant anspruchsfernen Schrottlied «Blueme» alle, die an Stelle des Herzens einen Klumpen Emmentaler haben, zu Tränenstürzen rührte und füglich gewann.

Dass im aufgewühlten Durcheinander der schmale und eigentümlich tot wirkende Sänger Wittgenstein mit dem stillen Beitrag «Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende» kein Gehör mehr fand, liess sich da sehr locker und mit einer Träne im Kopfloch verschmerzen.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.