Kost und Logis: Teufel vs. Aufklärung

Nr. 45 –

Ruth Wysseier über einen verstörenden Trend

Das Versöhnliche zuerst: Zugegeben, ich verdanke der Religion weiss Gott so einiges. Etwa als Chorsängerin, wenn wir mit fünfzig Stimmen Gabriel Faurés überirdisch schönes Requiem singen, das ohne Kirche nie komponiert worden wäre. Oder als Winzerin, schliesslich gehörten unsere Reben einst dem Kloster St. Urban, und mein Elternhaus war das klösterliche Rebleutehaus. Auch das Wissen, wie man einen Mousseux nach traditioneller Flaschengärung herstellt, verdanken wir wahrscheinlich den Mönchen. Und dass die katholische Kirche für stetigen Messweinabsatz sorgt, ist aus Branchensicht lobenswert.

Mein Verhältnis zu Gebeten und biblischer Geschichte war auf dem Höhepunkt, als ich gerade mal acht Jahre alt war – seither ging es nur noch bergab. In unserer Gesamtschule begann jeder Tag mit Singen, Beten, Flötespielen. In der Religionsstunde las uns Frau Imbach vom Übers-Wasser-Gehen vor, von Manna und Weihrauch oder Fisch und Brot, die sich vermehrten. Das gefiel mir gut. Auf das weihnächtliche Krippenspiel mit Publikum freute ich mich, war dann aber schwer enttäuscht, dass ich den Wirt spielen musste und mein Text nur aus drei Worten bestand: «Gehet von hier!»

Dass in der zweiten Klasse schon wieder Uhrenfabrikant Lüthis Tochter die Maria sein durfte und mir als Wirtshauskind der Wirt zufiel, obschon ich alle Texte und Lieder von A bis Z auswendig konnte, erschütterte meinen Glauben an die Gerechtigkeit. Zwar spielte ich das ganze Stück bei unserer Weihnachtsfeier in der elterlichen Gaststube noch in einem furiosen Alleingang vor, doch der Zauber war gebrochen: Mir fielen andere Ungerechtigkeiten auf, ich begann, die Lehrerin und ihre Wundermärchen zu hinterfragen. Mit sich entwickelndem moralischem Kompass mass ich die Worte der Kirche an ihren Taten, verdammte ihren mangelnden Einsatz gegen Hunger und Armut und weigerte mich, in den Konfirmationsunterricht zu gehen.

Die Entwicklung der nächsten Jahrzehnte entsprach meinem Glauben an eine vernünftige, aufgeklärte Gesellschaft. Das Religiöse war auf dem Rückzug, der Kirchgang ein tolerierter Trost für einsame, verwitwete Leutchen. Und nun plötzlich dieses Comeback. Alle wollen dabei sein. Ein Schriftsteller will der Vergessenheit entrinnen und prahlt öffentlich, nach schwerer Krankheit zu Gott gefunden zu haben. Christian Levrat outet sich als praktizierender Katholik, Christophe Darbellay setzt das «Seid fruchtbar und mehret euch» öffentlich in die Tat um, und die neue CVP-Spitze wirft wieder mit Religion um sich, nachdem sie lange Zeit das C schamhaft verschwiegen hat.

Auch die NZZ positioniert sich. «Der Teufel in uns selbst – Nachdenken über das Böse» heisst eine Veranstaltung, zu der sie Ende November ins Zürcher Schauspielhaus einlädt. In Zeiten blindwütigen Terrors stelle sich die Frage nach dem Bösen neu, schwadroniert das Blatt in der Ankündigung. Illustriert ist das Inserat mit einem antisemitisch konnotierten Ausschnitt eines Bilds von Hieronymus Bosch. Fahr zur Hölle, NZZ!

Ruth Wysseier ist WOZ-Redaktorin und Winzerin.