Eine wahre Geschichte: Er wollte nur das Fenster zur Aussenwelt reparieren

Nr. 11 –

Ein Mann, der seit Jahren in der Schweiz lebt, telefoniert mit seiner Mutter, die in Libyen lebt. Die Nachricht vom Tod eines Nachbarn in seiner Heimatstadt Benghasi lässt ihn nicht mehr los.

Bis ich meine Mutter am späteren Nachmittag anrief, erlebte ich einen ganz normalen Tag. «Shen helik yami» (Wie gehts dir, Mama?) – «Cois.» – «Mir gehts auch gut!» Es war ein einfaches Telefongespräch, wie alle anderen Male, ein kurzer Anruf, um nachzufragen, wie es der Familie geht, den Geschwistern, der Verwandtschaft, den NachbarInnen. Wir nennen das «Telefon Arab».

Als ich meine Mutter nun nach den NachbarInnen fragte, erzählte sie mir, dass um die Mittagszeit ein junger Mann aus dem Haus gegenüber beerdigt wurde. Sie höre die Leute soeben von der Beerdigung zurückkehren. Ich fragte, wer gestorben sei. Es war ein Mann namens Salem. Ich kannte ihn seit meiner Kindheit.

Meine Mutter erzählte, dass gestern Nacht ein heftiger Sturmwind über die Stadt gefegt sei. Die Menschen hätten sich über den Regen gefreut, den der Sturm mit sich brachte. Regen war nicht nur gut für die Pflanzen und das Vieh. Er bedeutete für die umzingelte Stadt vor allem etwas Ruhe vom Krieg.

Benghasi, meine Heimatstadt am Mittelmeer, leidet seit vier Jahren unter heftigen Kämpfen zwischen verschiedenen Parteien. Truppen des ungeliebten Generals Chalifa Haftar stehen radikalen Islamisten, Kämpfern des IS und Resten von al-Kaida gegenüber.

Die Stadt zerfällt. Die Aussenquartiere sind leer, ihre BewohnerInnen geflohen – irgendwohin ins Landesinnere oder zu Verwandten ins Innere der Stadt. Dort, im Quartier meiner Familie, lebt man relativ sicher, aber in ständiger Angst.


Die vielen Berichte und Bilder über die Situation in meiner Heimatstadt, das Leiden der Menschen in den Kriegsgebieten, der vielen Menschen auf der Flucht machen mir sehr zu schaffen. Jetzt aber schockierte es mich beinahe, dass ich in den Tagen nach dem Telefongespräch mit meiner Mutter kaum Trauer für den toten jungen Mann empfand.

Eines Nachts schreckte ich plötzlich auf: «Ist dein Herz tot, dass du keine Trauer mehr empfindest?», fragte ich mich. Ich stand auf und trank ein Glas Wasser. Dann lief ich in den von einer Strassenlaterne hell beleuchteten Garten hinaus. Vom Himmel fielen Schneeflocken, es war ganz still.

Aber immer noch schossen mir die lauten Gedanken durch den Kopf, und die Schneeflocken schienen mir zu Tode fallende menschliche Seelen zu sein. Sie landeten auf dem harten Boden, lösten sich auf und gingen vergessen.


Ich denke an meine Heimat und an den jungen Mann Salem.

Seit den Anfängen der libyschen Revolution sind die BewohnerInnen der umkämpften Gebiete auf der Flucht, untergetaucht an weniger gefährlichen Orten, in der Hoffnung, dass der elende Zustand bald ein Ende hat.

Al Majore, so der Name meines Quartiers in Benghasi, ist ein dicht besiedeltes Wohnquartier. Ein lebhaftes, auch ziemlich raues Viertel, dessen BewohnerInnen jedoch bis heute immer friedlich und auch solidarisch miteinander leben.

Meine Mutter erzählte mir, dass sie immer wieder Familien, die auf der Flucht seien, eine Bleibe gewähren müssten. Auf unbeschränkte Zeit. Deshalb ist das Quartier nun noch dichter besiedelt. Die meisten Familien haben viele Kinder, die die ganze Zeit im Haus eingesperrt bleiben. Es gibt für sie keine Spielplätze mehr, und die Schulhäuser bleiben meist geschlossen, obwohl sich die QuartierbewohnerInnen bemühen, die Infrastruktur instand zu halten. Auch den Teenagern und jungen Erwachsenen fehlen die öffentlichen Plätze, um sich auszutauschen.

Also bleibt vor allem das Fernsehen als Informationsquelle und zur 24-Stunden-Unterhaltung. Fast jedes Haus hat eine Satellitenschüssel auf dem Dach.

Auch die Familie von Salem gehört zu den Familien im Quartier, die Verwandten Zuflucht bieten. Salems Verwandte kamen aus dem Westen Libyens, aus Sabrata an der Meeresküste. Die antike Stadt liegt in der Nähe der Hauptstadt Tripolis und diente als Versteck für Gaddafis Truppen. Von Anfang an war sie deshalb hart umkämpft. Nun ist sie wie viele andere schöne Küstenstädte ganz zerstört.

Salem selbst hatte sich wie viele junge Männer im Quartier in der libyschen Revolution einer militärischen Einheit angeschlossen. Als sich die Rebellengruppen zu radikalisieren begannen, desertierten viele und sind nun auf der Flucht. Salem schloss sich den Truppen der Übergangsregierung an. Nun hatte er eine Woche Urlaub und nutzte sie wie immer, um bei seiner Familie zu sein.

Der Sturm kam in der Nacht, bevor Salem gestorben ist. Die heftigen Böen rissen viele Gegenstände mit sich und beschädigten vor allem die Satellitenschüsseln, die auf den Dächern hängen. Sie sind die einzige Möglichkeit, Fernsehsender zu empfangen, und nun begann die zweite Nacht ohne Empfang. Es war das Gesprächsthema unter den BewohnerInnen. Zwei Nächte ohne Fernsehen, ihr einziges Fenster zur Welt, waren für viele kaum auszuhalten.

Salem blieb nur noch wenig Zeit, bis er wieder ins Militär einrücken musste, und in dieser Zeit wollte er seiner Familie und seinen NachbarInnen möglichst behilflich sein. Die Satellitenschüsseln seines Hauses wollte er unbedingt noch in Ordnung bringen. Vergebens hoffte Salem, dass der Wind endlich nachlassen würde. Er muss voller Wut und Verzweiflung gewesen sein, als er sich dennoch auf das Dach im sechsten Stock hinauswagte.


Vor zwei Jahren merkte ich, dass ich die Flut schlechter Nachrichten nicht mehr bewältigen konnte. Mein Fenster zur Welt war in der Schweiz viel grösser geworden als dasjenige von Salem. Zu gross. Ich musste es verkleinern und versuchte, ein Pflaster auf alle Stellen zu kleben, durch die schlechte Nachrichten eindringen konnten.

Als Erstes löschte ich meinen Facebook-Account und kündigte meine Teilnahme bei anderen sozialen Medien. Meinen FreundInnen war ich dankbar, dass sie für diesen Schritt Verständnis zeigten und ich mit ihnen offen über alles sprechen konnte. Aber natürlich ist es nicht möglich, all den Nachrichten auszuweichen, die einen an den Krieg und alles Elend in der Welt erinnern. Der Fernseher im Café, die Gratiszeitung in den öffentlichen Verkehrsmitteln: Manchmal genügt ein Blick auf ein Bild, und schon öffnet sich ein Abgrund.

Trotz meiner Besorgnisse telefonierte ich weiter mit meiner Familie. Meine Brüder bitte ich manchmal, mich mit schlechten Nachrichten zu verschonen. Bei meiner Mutter aber geht das nicht. Ihr gegenüber wage ich nicht zu sagen: Erzähle mir bitte nur Gutes …

Als meine Mutter mir vom Tod Salems erzählte, wusste ich ganz genau, wie sie in diesem Moment fühlte: als wenn sie ein eigenes Kind verloren hätte. Ich spürte in ihrer Rede aber nicht nur die Trauer um Salem, sondern Verzweiflung über die ganze Misere um sie herum.

Meine Mutter war eine der ersten diplomierten Krankenschwestern der Stadt. Nachdem sie schon früh ihren Vater verloren hatte, lebte sie zusammen mit ihrer Mutter und zwei jüngeren Brüdern. Eine jüdisch-libysche Nachbarin, für deren Familie meine Grossmutter Kleider nähte, verschaffte meiner Mutter einen Ausbildungsplatz in einem italienischen Fraueninternat. Als sie 1954, sechzehnjährig, ihre Berufskarriere begann, arbeitete sie zunächst als Hebamme. Durch diese Tätigkeit verschaffte sie sich und unserer ganzen Familie ein besonderes Ansehen im Quartier.

Salem war eines von vielen Kindern, dem meine Mutter als Hebamme in die Welt geholfen hatte. Er habe, erzählte sie mir, bei seiner Geburt kaum drei Kilo gewogen, und so kannte ich Salem auch später: Er hatte einen ganz schmalen, schmächtigen Körper. Aber er hatte ein grosses Herz und war immer bereit zu  helfen.


Ich hörte, wie es meiner Mutter den Atem verschlug, als sie mir die Umstände von Salems Tod erzählte. Sie begann, leise zu weinen. Ich behauptete, ich hörte sie nicht, die Telefonverbindung sei schlecht. Nach einer Weile erzählte sie weiter. Sie habe in jener Nacht draussen einen durchdringenden Schrei gehört und sei mit den Kindern zum Fenster gelaufen. Von der Strasse unten waren laute Männerstimmen zu hören; alle fragten durcheinander, was passiert sei. Bald war das halbe Quartier vor dem Haus versammelt. Einige schrien, verwarfen die Hände, liefen in Panik umher. Die meisten standen reglos und ratlos um Salem herum, schüttelten den Kopf, umarmten sich. Manche setzten sich auf den Boden, starrten vor sich hin. Die Kinder versuchte man zurückzuhalten, und zum Glück konnten sie in der Dunkelheit den Körper von Salem nicht genau erkennen. Aber aus wenigen Worten und Zeichen verstanden sie schnell, was geschehen war. Seither, erzählte meine Mutter, wolle keines der Kinder mehr in die Dachwohnung hinauf.

Eigentlich wollte Salem nur das Fenster zur Aussenwelt reparieren. Weil er wusste, wie wichtig es für Menschen in Not ist, mit der Aussenwelt verbunden zu bleiben, nicht ganz aus dieser Welt zu fallen. Nun ist er über alle Welten hinaus.

Muheieddin Elburki

Geboren und aufgewachsen ist Muheieddin Elburki (42) in Benghasi, wo er an der Universität Wirtschaft und Buchhaltung studierte.

Er lebt seit achtzehn Jahren in Zürich und ist seither in den verschiedensten Berufen tätig. Er ist zudem Basketballspieler beim BC Olympiakos Zürich, wo er auch als Trainer des Frauenteams arbeitet.