Literaturnobelpreis: Die Zuhörerin mit den Augen einer Menschenforscherin

Nr. 42 –

Die Weissrussin Swetlana Alexijewitsch hat den Nobelpreis für Literatur erhalten. Das ist auch ein politisches Zeichen: In ihren Büchern widmet sie sich den «Menschen aus der Menge» und dokumentiert ohne Nostalgie das Ende der UdSSR und das postsowjetische Russland.

Swetlana Alexijewitsch, Schriftstellerin. Foto: CC BY-SA 3.0

Wenn Swetlana Alexijewitsch an ihren Alltagsgeschichten des Sowjetmenschen arbeitet, schreibt sie auch immer über sich selbst: «Er ist ich. Das sind meine Bekannten, meine Freunde, meine Eltern», heisst es im Vorwort des 2013 erschienenen Buchs «Secondhand-Zeit» der weissrussischen Autorin. Ihre Eltern haben sie im Glauben an den Aufbau eines neuen Landes, eines neuen Menschen erzogen. Alles schien nach dem Raumflug von Juri Gagarin im Jahr 1961 möglich. Sie wurde Pionierin und gehörte der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, dem Komsomol, an. Erst später habe bei ihr die Enttäuschung eingesetzt, so Alexijewitsch weiter.

Seit mehr als dreissig Jahren widmet sich die 1948 als Tochter einer Ukrainerin und eines weissrussischen Soldaten im westukrainischen Iwano-Frankiwsk geborene Autorin bereits ihrem Thema, dem Homo sovieticus. Vergangene Woche hat ihr die Schwedische Akademie in Stockholm den Literaturnobelpreis zugesprochen.

Heute lebt die 67-Jährige wieder in Minsk, wohin sie 2013 nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Westeuropa zurückgekehrt ist. Ihr sei für ihre Arbeit wichtig, nahe bei den Menschen zu sein. Sich selbst beschreibt die ausgebildete Journalistin, die bei mehreren weissrussischen Lokalzeitungen und als Lehrerin gearbeitet hatte, als «Menschen des Ohrs» oder als Person, die die Welt nicht mit den Augen einer Historikerin, sondern mit denen einer Menschenforscherin betrachtet. Einem journalistischen Ansatz ist sie treu geblieben. Ihren vielstimmigen Textcollagen liegt minutiöse Recherche zugrunde. Sie führt mit ihren ProtagonistInnen tagelange Gespräche, beobachtet, fragt, hört zu.

Mit dem Parteibuch beerdigt

Alexijewitsch erzählt keine Geschichten der Wichtigen und Mächtigen. In ihren Werken kommen die einfachen Leute zu Wort, die «Menschen aus der Menge», über die normalerweise niemand Bücher schreibt und wie sich eine der Protagonistinnen aus «Secondhand-Zeit» bezeichnet. Nach deren Erlebnissen, Gefühlen und persönlichen Erinnerungen sucht Alexijewitsch. Ein solcher Arbeitsprozess braucht Zeit. Mehr als zehn Jahre arbeitet sie manchmal an einem neuen Buch, zwischen 500 und 700 Gespräche fliessen darin ein. Die lange und mühsame Suche der ProtagonistInnen nach der adäquaten Sprache für ihre oftmals schmerzhaften und traumatischen Erinnerungen wird in den Texten durch Auslassungspunkte markiert – sozusagen der strukturelle Faden, der das wie zu einem Flickenteppich verwobene Material zusammenhält.

Ihre literarischen Interviews sind einigen KritikerInnen allerdings nicht nobelpreiswürdig genug, obwohl die Weissrussin bereits seit mehreren Jahren zum FavoritInnenkreis gehört hat. Literatur müsse etwas Schöpferisches, eine eigene imaginative und weltverwandelnde Kraft haben, das sei hier nicht der Fall, kritisierte etwa Iris Radisch, Feuilletonchefin der «Zeit». Solchen Vorwürfen hält Alexijewitsch entgegen, dass sich Kunst selbst in dieser facettenreichen und diversifizierten Welt zunehmend als impotent erwiesen habe, das Dokumentarische sei heute viel wichtiger.

Bereits in ihrem 1985 erschienenen Buch «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» (auf Deutsch 1989) hat Alexijewitsch ihr Verfahren angewendet. In diesem Buch erzählen Frauen von ihren Fronterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, etwa als Scharfschützinnen, Pionierinnen und Sanitäterinnen. Dem Thema Krieg blieb sie auch in ihrem nächsten Buch treu. In «Zinkjungen» (1989, auf Deutsch 1992) lässt sie Überlebende des sowjetischen Afghanistankriegs (1979–1989) sowie Mütter und Witwen zu Wort kommen, die ihre Angehörigen während des Einsatzes verloren haben. Lange Zeit war dies in der UdSSR ein Tabuthema.

Für «Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft» (1997, auf Deutsch 2006) hat Alexijewitsch während zehn Jahren immer wieder die Sperrzone rund um den Reaktor besucht und die Ängste und die Verzweiflung der Menschen angesichts der Katastrophe aufgezeichnet. In ihrem vorerst letzten Buch, «Secondhand-Zeit» (2013), widmet sie sich den Folgen des Zerfalls des sowjetischen Riesenreichs. Die Ideologie ist weg, das postsowjetische Russland ist brutal und kalt, und der Kapitalismus teilt die Gesellschaft auf einen Schlag in GewinnerInnen und VerliererInnen. «Heute ist irgendwie alles grau, weil wir keinen Zugang haben zu dieser neuen Welt», erklärt eine der Protagonistinnen. Wie schwer sich dieser finden liess, zeigt auch die persönliche Geschichte der Autorin. Ihr Vater blieb bis zu seinem Tod überzeugter Kommunist, liess sich sogar mit seinem Parteibuch beerdigen, obwohl elf Verwandte dem Krieg oder dem kommunistischen Terror zum Opfer gefallen waren.

Platz für Sowjetnostalgie, wie sie im heutigen Russland mit Billigung des Kreml gepflegt wird, gibt es in ihren Werken jedoch keine. Im Gegenteil: Kritisch beobachtet Alexijewitsch, wie in den vergangenen Jahren unter der Bevölkerung ein erneuter Stalin-Kult gewachsen ist. In Russland wird der Autorin die schonungslose Offenlegung der Katastrophen und Tragödien der Vergangenheit immer wieder zum Vorwurf gemacht. Die durch die Propaganda der Staatsmedien geprägte junge Generation will ihre Geschichte in einem positiven Licht dargestellt sehen.

Es gibt allerdings auch andere Reaktionen: Ihre Bücher würden viele vergessene und verdrängte Dinge wieder ans Tageslicht bringen, sagen Menschen, die vor dem Zerfall der Sowjetunion in Osteuropa aufgewachsen sind. Auch wenn die Geschichten jener Leute voll mit persönlichem Leid sind, überhöht Alexijewitsch dieses nie. «Wo kommen diese Putins oder Lukaschenkos her. Sie kommen daher, weil unser Leiden uns nicht starkmacht. Es macht uns stark im Leiden, aber nicht im Leben», heisst es in «Secondhand-Zeit». Sie selbst hat immer wieder politisch klar Stellung bezogen, das autoritäre System in Weissrussland und zuletzt die russische Aggression in der Ukraine und die Intervention Moskaus in Syrien kritisiert.

Ignoriert von den Staatsmedien

Bei den Machthabern stösst dies auf wenig Gegenliebe. In ihrer Heimat Weissrussland ist Alexijewitsch öffentlich praktisch isoliert. Die Staatsmedien ignorieren sie weitgehend, ihre Bücher sind bislang nur in kleinen Auflagen greifbar. In Russland wurde sie vor allem in der Perestroika unter Michail Gorbatschow gelesen. Seit damals hat sich der Blick auf die Umbruchjahre allerdings verändert. Mit der Annexion der Krim und der Militäraktion in Syrien erweckt der Kreml den Eindruck, wieder eine Grossmacht zu sein. Der Zusammenbruch der Sowjetunion gilt dagegen als Unglück für das Land.

Der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch ist in der aktuellen Lage auch ein politisches Signal. Ob er den Blick der RussInnen auf die eigene Vergangenheit ändern kann, ist jedoch fraglich. Trotz Wirtschaftskrise und Sanktionen ist Wladimir Putins Popularität ungebrochen. Und vielen RussInnen reicht das Gefühl, endlich wieder eine Grossmacht zu sein.

Swetlana Alexijewitschs Bücher «Die letzten Zeugen», «Zinkjunge», «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» und «Secondhand-Zeit» 
sind bei Hanser Berlin erhältlich, «Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft» beim Piper-Verlag.

Unter dem Titel «‹Es müsste hundert Tschernobyl geben ...›» erschien in der WOZ Nr. 16/2011 ein Interview mit Swetlana Alexijewitsch.