Wichtig zu wissen: Archäologie im Sommer

Nr. 26 –

Ruedi Widmer hört gerne Musik zum Schreiben

Es gibt Sommermusik, die abseits des Mittagssonne-Genres Sommerhit spielt, dafür aber wie ein abendliches Sommerlüftchen weht. Diese Platte ist jetzt schon im dritten Sommer, und sie wird noch besser dadurch. Auch das widerspricht dem Sommerhitprinzip.

Blood Orange, die Band des Briten Dev Hynes, hat dieses funkig-soulige, im Hauchgesang vorgetragene und in Brooklyn aufgenommene Album, «Cupid Deluxe», in den achtziger Jahren angelegt, in denen es in allen Radios gespielt worden wäre – und die Hitparaden gestürmt hätte. Schon der Name lässt zwei Alben mitschwingen, die von einer ähnlichen Stimmung getragen werden: «Cupid & Psyche» von Scritti Politti (1985) und Sades «Love Deluxe» (1992). Auch erinnert es an Womack & Womacks «Conscience» von 1988. Saxofonistisch klingen Prefab Sprout und Destroyer an, anderswo geistert Mariah Carey herum.

Hynes spielt hier, obwohl selber schwarz, eine Art schwarze Musik, wie sie Weisse machen. Das liegt an den Lyrics, die Geschlechteridentitäten und Unbehagen verhandeln, am vielen New Wave und Synthiepop und an den tollen New Yorker Gästen Caroline Polachek (Chairlift) und Dave Longstreth (Dirty Projectors).

Wir leben in einer Zeit, in der noch nie so viel gute Popmusik gemacht wurde, aber auch noch nie so viel davon dazu verdammt ist, im Verborgenen zu glänzen, weil die Musik nicht mehr aus den Nischen hinausgelangt, für die sie eigentlich gar nicht gemacht wurde.

Doch dürfte man in 700 Jahren selbst keine Ahnung mehr davon haben, welche Musik heute grossflächig gespielt wird (AC/DC, Kanye West), denn die digitalen Befehle versteinern nicht, sie verschwinden, wenn der Strom weg ist. Und wenn man eines Tages etwas Handfestes entdeckt, die Scherbe einer Vinylplatte, geriete sie bestimmt in einen ganz anderen Zusammenhang, denn die Einordnung der meisten Kulturerzeugnisse fällt ja schon in Echtzeit nicht leicht.
Die eben ausgegrabenen Waffen an der Stelle zum Beispiel, wo die Schlacht am Morgarten stattgefunden haben soll, sind laut der Wissenschaft kein Beweis für diese Schlacht. Vielleicht fände man anderswo ebensolche Waffen, wo bisher niemand eine Schlacht vermutet hat.

Ob unser Staat auf Korruption aufbaut, wird man später bei Ausgrabungen am Bundeshaus keineswegs herausfinden. Und falls doch, hält man Käuflichkeit vielleicht für eine Religion, was sie möglicherweise auch ist, nur sind wir heute noch zu wenig desillusioniert, es wahrzuhaben (Blood Orange: «It Is What It Is»).

Man kann heute die Wahrheit kaum erfahren, und morgen noch weniger. Das macht machtlos und apolitisch. Viel zu viel verschwindet immer schneller hinter dem Zeithorizont, zum Beispiel der Gründungsgrund der Europäischen Union, die nicht als Bürgerschreck gedacht war, sondern die einzige Antwort auf den tödlichen Nationalismus war, der jetzt – allerorten leichtfertig mit dem Prädikat «vernünftig» versehen – wieder in Kauf genommen wird. Und so leider auch die kommenden Sommer weniger leichtfüssig werden lassen wird (Blood Orange: «Time Will Tell»).

Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.

Im Folgenden die korrekten Angaben zu 
den erwähnten Werken:

Blood Orange: «Cupid Deluxe» (2013); Die Eidgenossen feat. Die Habsburger: «Schlacht am Morgarten» (1315); Hans Wilhelm Auer: «Bundeshaus» (1857/1902); Europäische Union: «Europäische Union» (1957/1992)