Flüchtlinge im Tschad: Solidarisch – allem Elend zum Trotz

Nr. 8 –

Was sind schon 600 000 Asylsuchende in Europa? Die meisten internationalen Flüchtlinge finden in den ärmsten Ländern der Welt ein Refugium. Zum Beispiel im Tschad.

Knapp 24 000 Menschen haben im vergangenen Jahr um Asyl in der Schweiz gebeten, in Europa stellten 600 000 ein Asylgesuch. Das sind gleich viele Menschen wie alle EinwohnerInnen der Städte Zürich und Basel zusammen. Das sind viele, aber nichts im Vergleich zu den zahlreichen Flüchtlingen, die einzelne Länder im Weltsüden aufnehmen – vor allem Staaten, in denen die Infrastruktur äusserst dürftig ist und sogar die eigene Bevölkerung hungert.

Der Tschad ist solch ein Land, in das sich Hunderttausende Flüchtlinge vor allem aus dem Sudan und der Zentralafrikanischen Republik (ZAR) gerettet haben. An eine Flucht ins ferne Europa denkt so gut wie niemand: Der nördliche Kontinent ist für die Flüchtlinge geografisch und finanziell unerreichbar weit weg.

Rund 150 000 Menschen flohen allein letztes Jahr vor der ausufernden Gewalt in der ZAR in den Tschad. Der 25-jährige Abdoulaye Moussa ist einer von ihnen. Mehrere Tage hatte er am Flughafen der Hauptstadt Bangui campiert, das ganze Chaos, das Elend, die brutalen Vergeltungsmorde der christlichen Milizen erlebt, hatte mit ansehen müssen, wie Menschen vor seinen Augen abgeschlachtet wurden. Damals lebten fast 80 000 Menschen auf dem Flugfeld – ohne Wasserversorgung, ohne Latrinen, ohne alles. Nur die Präsenz der Uno hielt sie dort in der vermeintlichen Sicherheit. Und noch immer leben rund 20 000 intern Vertriebene in diesem provisorischen Camp.

Abdoulaye Moussa ist Muslim, seine Frau Christin. Seine Frau und der gemeinsame Sohn sind noch in Bangui. Ich treffe Moussa in Dosseye, einem von mehreren Flüchtlingscamps in der Region Goré. Wer die «Kleinstadt» mit fast 30 000 EinwohnerInnen auf einer Landkarte sucht, tut dies vergeblich. Sie befindet sich irgendwo dreissig Kilometer von der Grenze zur ZAR entfernt im Südwesten des Tschad. Moussa erzählt, dass nachts viele Menschen im Lager durch die Dunkelheit wandern, sie können wegen ihrer Albträume nicht schlafen. Im Gespräch wird deutlich, dass er einer von ihnen ist.

Moussas Geschichte ist keine Ausnahme. In Gesprächen mit Flüchtlingen in Dosseye und im Lager Danamadja südlich von Goré höre ich Berichte von unbeschreiblicher Gewalt. Viele der traumatisierten Menschen, die es über die Grenze in den Tschad schafften, verloren ihre ganze Familie. Die siebzehnjährige Awa Mamua wurde von tschadischen Truppen in Sicherheit gebracht – als einzige Überlebende ihrer Familie. Sie will hier bleiben, sich zur Krankenschwester ausbilden lassen. In Bangui wartet niemand mehr auf sie.

Umzingelt von gefährlichen Nachbarn

Fast alle Grenzen zu den Nachbarländern des Tschad sind geschlossen, wie der Schweizer Thomas Gurtner erklärt, Leiter der UN-Mission im Land: «Der Tschad beherbergt heute über 250 000 sudanesische Flüchtlinge. Im Norden liegt das zerrüttete Libyen, im Westen der Niger mit einer 5000 Kilometer langen, kaum kontrollierbaren Grenze, die mitten im Schmuggelring und im Gebiet der maghrebinischen al-Kaida liegt. Im Südwesten grenzt Nigeria an den Tschad, wo in den letzten Monaten viele Menschen vor Boko Haram geflüchtet sind. Und auch Kamerun, südöstlich des Tschad gelegen, leidet unter dem Druck der islamistischen Terrormiliz. Und schliesslich liegt südlich des Tschad die Zentralafrikanische Republik, woher die meisten Flüchtlinge stammen.» Insgesamt hat der Tschad in den letzten Jahren fast eine halbe Million Menschen aufgenommen. Damit liegt das Land weltweit an siebter Stelle der Gastländer.

Dabei ist die Situation alles andere als rosig. Staatspräsident Idriss Deby regiert den Tschad seit 25 Jahren mit eiserner Hand. Eine politische Opposition gibt es nicht, Menschenrechte werden systematisch verletzt, nach Pressefreiheit sucht man vergebens, die Korruption floriert. Deby und seine Familie leben gut in einem Land, in dessen Hauptstadt Kinder unterernährt verhungern, in dem es so gut wie keine Infrastruktur und Rechtsstaatlichkeit gibt, 85 Prozent der Mädchen Analphabetinnen sind, die Kindersterblichkeit bei fast zwanzig Prozent liegt, es einen Arzt auf 23 600 Menschen gibt und die Müttersterblichkeitsrate mit über einem Prozent aller Geburten eine der höchsten der Welt ist. Und doch, so Thomas Gurtner, sei der Tschad eine «Garantie für Sicherheit und Stabilität im Sahel und dadurch auch eine Garantie für Sicherheit und Stabilität in Europa». Denn, trotz eines im Mai 2013 vereitelten Putschversuchs, der vermutlich von Teilen des tschadischen Militärs ausging, herrscht nach vierzig Jahren blutigem Bürgerkrieg seit 2010 ein einigermassen stabiler Frieden.

Religionskonflikt nicht importiert

Obwohl die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen sind, hat die Regierung in N’Djamena der Uno zugesichert, sogenannte humanitäre Korridore offen zu halten, durch die nach wie vor Flüchtlinge kommen können. Das Deby-Regime verlässt sich dabei auch auf die finanziellen Zusagen der Uno, denn alleine könnte es die Krise nicht stemmen. Und so werden die Flüchtlinge noch immer bereitwillig aufgenommen, obschon die meisten aus der ZAR MuslimInnen sind, im Süden des Tschad jedoch vor allem ChristInnen leben. Der blutige Religionskonflikt im südlichen Nachbarland übertrug sich bislang nicht auf den Tschad. In der vergangenen Woche jedoch gab es einen ersten Angriff der Boko-Haram-Milizen auf ein Dorf am Tschadsee – als Antwort auf die Einsätze des tschadischen Militärs gegen die Terrorgruppe im Osten Kameruns und Nigerias.

Die Mehrheit der Geflohenen aus der ZAR sind sogenannte Heimkehrende – Menschen, deren Eltern oder Grosseltern ursprünglich aus dem Tschad stammten und die vom Tschad als BürgerInnen angesehen werden. Eigentlich plante die Regierung in N’Djamena, die «Heimkehrenden» wieder in ihren ursprünglichen Dörfern anzusiedeln. Doch der Versuch scheiterte, weil es in den ländlichen Gebieten so gut wie keine Unterstützung für die Flüchtlinge gibt. In den Lagern entlang der Grenze helfen zumindest ein paar internationale Hilfsorganisationen wie Care oder Ärzte ohne Grenzen. Und so bleiben die «Heimkehrenden» in den Lagern.

Wie es mit den Hunderttausenden Flüchtlingen weitergehen wird, weiss derzeit niemand. Sie leben in einem Land, in dem zehn Prozent der Bevölkerung Hunger leiden, die Anbauflächen durch die Ausweitung der Sahara kleiner werden, die Wasserknappheit steigt, der wichtige Tschadsee immer mehr austrocknet. Dazu kommt, dass sich die Uno und die internationalen Hilfsorganisationen langsam aus dem Land zurückziehen, weil die Geberländer nicht mehr genügend Geld aufbringen. So konnte etwa letztes Jahr nur die akute Hilfe finanziert werden. Der Tschad wird mit seiner Bereitschaft, all diese Flüchtlinge aus den Kriegs- und Terrorgebieten in den Nachbarländern zu versorgen, zunehmend alleingelassen. Die nächste «akute» Krise ist damit schon programmiert.

Aufnahmeländer

Laut UN-Flüchtlingshilfswerk befanden sich Ende 2013 weltweit 51,2 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 86 Prozent in Entwicklungsländern. 16,7 Millionen gelten nach völkerrechtlicher Definition als Flüchtlinge, weil sie in anderen Ländern Zuflucht suchen.

Die meisten Flüchtlinge nimmt Pakistan auf (1,6 Millionen), gefolgt vom Iran und vom Libanon (je 857 000), von Jordanien (842 000), der Türkei (610 000), Kenia (535 000), dem Tschad (435 000) und Äthiopien (434 000).