Schwarmintelligenz: Meist funktioniert der Vogelschwarm und erreicht sein Ziel, selten fällt ein Star vom Himmel. Die Menschenmasse funktioniert öfters nicht, wie man ihr Ziel auch definieren mag.

Nr. 44 –

Im Schwarm mehr erreichen – was Vögel oder Fische können, soll auch den Menschen möglich sein. Aber in der Hoffnung auf die Schwarmintelligenz steckt zugleich die Drohung, Massen steuern zu können.

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Irgendwo beginnt es, vereinzelte Vögel regen sich unruhig, vereinigen sich zu einem kleinen Schwarm, der grösser wird, und plötzlich weht etwas durch den Himmel, eine Welle, die hochsteigt, zurückfällt, wogend sich durchdringt, dicht, dunkel, und dann sich wieder in die Länge zieht, locker, ätherisch, bis der Schwarm wegzieht.

Irgendwo beginnt es, vereinzelte Menschen regen sich wissensdurstig, verbinden sich zu einer kleinen Gruppe, denken an einer Idee herum, teilen sie anderen mit, die sie verbessern, und plötzlich entsteht eine Bewegung, die sich verbreitert, global wird, im Austausch Ideen korrigiert, ergänzt, bis ein gemeinsames Produkt vorliegt.

So sieht die Schwarmintelligenz aus. Ohne FührerInnen, doch zielgerichtet wird eine Aufgabe erledigt, die die Möglichkeiten der einzelnen Mitglieder weit übersteigt. Der Begriff «Schwarmintelligenz» vereinigt zwei herkömmlich entgegengesetzte Vorstellungen: der Schwarm als anonyme Masse – und die Intelligenz, die auf individuellen Entscheiden beruht. In der Verbindung soll etwas Besonderes hervorgelockt werden, das mehr ist als die Summe der beiden Teile.

2004 ist ein Schwarm aus der Tiefe des Meeres aufgetaucht. In Frank Schätzings Ökothriller «Der Schwarm» greifen Schwärme von Meerestieren die Menschen an, vernetzt von einem Organismus im Ozean, der sich gegen die menschliche Verheerung der Umwelt zur Wehr setzt. Vom Buch, das naturwissenschaftliche Erkenntnisse populär aufbereiten will, sind bisher rund vier Millionen Exemplare verkauft worden.

Schwarmintelligenz wird seit einiger Zeit als gloriose Verheissung, aber auch als Gefahr gehandelt. Letzten Herbst ist dazu das erste Onlinemagazin, «Swarm Mind», erschienen. Es verspricht, Führung, Demokratie und Globalisierung – in dieser Reihenfolge – auf eine höhere Stufe zu führen. An der Technischen Universität Darmstadt wird ein Studien- und Masterkurs angeboten, neudeutsch zum Thema «The Wisdom of Crowds – Verwendung von Crowd Intelligence zur Vorhersage von zukünftigen Ereignissen und Entwicklungen», wozu auch die «Vorhersage von Aktienkursen» gehört. Na dann. Im Übrigen gibt es schon Aktienfonds, die entsprechend arbeiten. Kein Fondsmanager soll selbstherrlich die Entscheide treffen, sondern alle InvestorInnen geben ihre Meinung ab, welche Aktien gekauft werden sollen. Man könnte das auch einfach als kollektive Entscheidungsfindung bezeichnen, wobei im vorliegenden Fall allerdings das Ego der InvestorInnen der geballten Intelligenz in die Quere kommt – die Rendite der Fonds ist bislang unterdurchschnittlich, und profitiert haben erst diejenigen, die die Idee lancierten und anderen verkaufen konnten.

Umgekehrt diagnostiziert die Bildungstheoretikerin Eva Borst in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift «Widerspruch» (Nr. 63) die unter dem Begriff der Schwarmintelligenz gehandelte neue «Form des Umgangs mit Wissen». Sie laufe darauf hinaus, «ein Problem zum Erhalt des Schwarms zu lösen», und unterdrücke jegliche Selbstständigkeit und Kritikfähigkeit. Und der Publizist Arno Frank spricht in einem Pamphlet angesichts von Erscheinungen wie Shitstorms im Internet von der «Schwarmdummheit», die er polemisch charakterisiert: «Es ist eine rüpelhafte Gruppe, die bei ihrer Jagd auf abweichende Andersdenkende zumindest in ihrer verbalen Radikalität den maoistischen Roten Garden oder der nationalsozialistischen SA in nichts nachsteht.»

Die modische Konjunktur der Schwarmintelligenz speist sich aus drei Quellen. Da ist erstens die Soziobiologie mit ihrem Versuch, die biologische Verfassung der Menschen als Determinante gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung zu behaupten. Da ist zweitens das Interesse des industriellen Überwachungs- und Militärkomplexes, Steuerungsfunktionen nutzbar zu machen. Und drittens versuchen die ProphetInnen des Internets und der neuen sozialen Medien, ihre Infokanäle mit neuen Qualitäten zu veredeln.

Was heisst also von Schwärmen lernen? Ein Vogel orientiert sich an sieben anderen Vögeln um sich herum. So bilden acht Individuen eine Gruppe, die wiederum überlappend mit anderen Gruppen des Schwarms vernetzt ist. Dabei agieren sie nach drei Prinzipien: Kohäsion, Separation, Alignement oder Ausrichtung.

Kohäsion heisst: Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts derer, die du in deinem Umfeld siehst, und versuche, dort zu bleiben. Also, hin zu deinen Nachbarn.

Separation heisst: Halte einen Mindestabstand und bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt. Also, weg von deinem Nachbarn.

Alignement/Ausrichtung heisst: Bewege dich etwa in dieselbe Richtung und mit derselben Geschwindigkeit wie diejenigen in deiner Nähe. Also, parallel zu deinen Nachbarn.

So weit, so unspektakulär. Folgenreich wird das Zusammenspiel dieser Kriterien. Ein Vogel sieht, wie sein Nachbar sich zum Auffliegen bereit macht, und folgt dessen Bewegungen (Kohäsion), und wenn er ihm zu nahe kommt, näher als eine Flügelspannbreite, weicht er aus (Separation), orientiert sich an einem anderen Vogel und passt sich dessen Bewegung an (Ausrichtung). Da die drei rechts von ihm das auch machen und wieder andere um sich herum mitziehen, während die zwei links von ihm bei ihrem alten Mittelpunkt bleiben (und die oben und unten sich noch an einer anderen Gruppe orientieren), ändert sich die Richtung eines Teils des Schwarms. Und da alle sich separieren und zugleich zusammenbleiben, kann der Schwarm durch sich selbst hindurchfliegen, ohne dass es zu Zusammenstössen kommt.

Dabei kann jeder einzelne Vogel eine grössere Schwarmbewegung auslösen, sofern sich genügend andere anschliessen (denn ein wenig Entscheidungsfähigkeit soll den Vögeln bleiben). Beim Beobachten dieser in den Himmel geschriebenen Formen rührt einen deren ästhetischer Reiz ans Herz. Überwältigend schön ist das, zwecklos wie Kunst.

Letztlich aber versammeln sich die Schwärme zu einem speziellen Zweck, zum Flug in den Süden oder zumindest zu einem besseren Futterplatz. Die Masse gewährt auch Schutz und erschwert einen Angriff von aussen. Vogel- und Fischschwärme sollen sogar Räuber in ihrer Masse einschliessen und damit ganz physisch am mörderischen Zugriff hindern können; aber vielleicht ist das ein Mythos.

Ein Schwarm wird jeweils von einzelnen, sich abwechselnden Vögeln oder Fischen angeführt, aber die vermindern bloss den Luft- oder Wasserwiderstand für die ihnen folgenden und geben nicht die Richtung vor. Sie bestimmen auch nicht, wann sich ein Schwarm niederlässt – das ergibt sich aus der Intelligenz des ganzen Schwarms. Eben: geführt ohne FührerInnen.

Natürlich, es gibt auch die tierische Panik, die Stampede von Rindern in den Western oder wenn Schafe blind in den Abgrund stürzen. Oder dann den Massenselbstmord der Lemminge. Der ist aber weitgehend ein Mythos. Auf die Massenflucht machen sich die Lemminge nur, wenn die Nahrungsgrundlagen einer Kolonie akut gefährdet sind, und das als suizidal erscheinende individuelle Verhalten trägt Züge der Aufopferung für die Erhaltung der Kolonie. Im Übrigen: Die Herde ist kein Schwarm.

Ameisenstaaten und die Gefühle der Bienen

Die Übertragung biologischer Vorstellungen auf soziale Institutionen ist nicht neu. Seit dem 19. Jahrhundert werden immer wieder Ameisen als Beispiel für die menschliche Gesellschaft bemüht: der Ameisenstaat als funktionierendes Gebilde, in dem alle aufeinander angewiesen sind. Der Vergleich trägt konservative Züge: Der Staat ist hierarchisch strukturiert und dient vor allem der Erhaltung seiner Struktur. Ebenfalls auf der Grundlage seiner Arbeiten an Ameisen, aber mit einer anderen Blickrichtung, prägte der US-amerikanische Biologe William Morton Wheeler 1910 den Begriff «Superorganismus». Kleinere Organismen schliessen sich arbeitsteilig zu einem Gebilde zusammen, das eine eigene Identität und ein eigenes Leben bekommt. Der Superorganismus des Bienenvolks habe eigene Gefühle, sagt der Bienenforscher Randolf Menzel im Erfolgsfilm «More than Honey» von Markus Imhoof. Das ist eine Anteil nehmende Anthropomorphisierung. Indem Tieren menschliche Eigenschaften zugesprochen werden, werden umweltschützerische Impulse befeuert.

Problematisch wird das nur, wenn es in die andere Richtung, auf die Gesellschaft zielt. Genau das macht der renommierte Ameisenforscher und Soziobiologe Edward O. Wilson in seinem jüngsten Buch «Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen» (2013). Seiner These nach haben sich die Ameisen im Zusammenspiel zwischen individueller und Gruppenselektion entwickelt, und diese These wendet er dann auf die Menschen an: Die beiden Prinzipien bestimmen uns durch den «Kampf, der im Gehirn jedes Menschen tobt». So soll die biologische Verdrahtung auch die menschliche Gesellschaft jenseits jeder sozialen Dimension erklären. Die Ansicht einer parallelen Entwicklung zwischen Tier und Mensch tritt auch nostalgisch auf, als Sehnsucht nach einem früheren Zustand. Der Schweizer Fotograf Lukas Felzmann hat jahrelang Vögel beobachtet (vgl. Fotos zu diesem Artikel). Die Schwärme, die er beschreibt, bewegten sich synchron, in «hierarchieloser Kontrolle», ohne «Anführer»: «Etwas, das wir Menschen auch mal kannten, aber verloren haben» (siehe WOZ Nr. 37/13 ).

Drohnenschwärme

Eine Steuerung des Schwarms im Hinblick auf ein klar definiertes Ziel interessiert die Kybernetik, die sich als die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen, lebenden Organismen und sozialen Organisationen versteht. Wenn es mit der künstlichen Intelligenz noch nicht so ganz klappt, wie es die Science-Fiction seit Jahrzehnten verspricht, so soll doch zumindest von der kollektiven Intelligenz profitiert werden: Die Kooperation künstlicher Agenten kann dann höhere kognitive Leistungen simulieren.

Und wo es um Steuermechanismen geht, ist auch das Militär nicht weit. In den USA sind Low Cost Autonomous Attack Systems (LOCAAS) entwickelt worden: kleinere Drohnen oder «Mörderbienen», die nach einem Algorithmus funktionieren, der die drei Prinzipien des Vogelschwarms berücksichtigt – beisammenbleiben, Abstand halten, ähnlich fliegen. Von einem Bomber werden bis zu 192 dieser Drohnen abgeworfen, die als Schwarm ihren Zielort anfliegen und dann autonom unter sich aushandeln, welche einzelnen Zielobjekte sie angreifen und mit welchen Waffen. Kollateralschäden inbegriffen.

Auch die Menschen orientieren sich bei ihrem Massenverhalten an den drei Kriterien der Kohäsion, Separation und Ausrichtung. Doch die Übertragung hat ihre Gefahren. Der Vogelschwarm funktioniert meist und erreicht sein Ziel; selten fällt ein Star vom Himmel. Die Menschenmasse funktioniert öfters nicht, wie man ihr Ziel auch definieren mag. Was zuweilen als Vorteil gegenüber einem strikt funktionalistischen Verständnis gelten mag, was aber auch zu Katastrophen führt.

Menschen tendieren dazu, einen Ort auf dieselbe Weise zu verlassen, wie sie ihn betreten haben. Bei der Love Parade 2010 in Duisburg benutzten jene, die das Gelände verlassen wollten, dieselbe Unterführung, durch die sie gekommen waren und durch die weitere BesucherInnen hineinströmten. Im Zusammenprall starben 21 Menschen. Auch die Katastrophen in Fussballstadien wie in Brüssel 1985 oder Hillsborough 1989, Massenpaniken bei Pilgerfahrten in Mekka oder bei hinduistischen Festen weisen darauf hin, dass die Flexibilität der Menschen in der Menge kleiner ist.

Ein Vogelschwarm wird angesichts eines Hindernisses schneller umkehren, oder zumindest wird ein Teil davon umkehren und so den anderen Teil mitziehen. Alfred Hitchcock musste für «Die Vögel» (1963) Vogelschwärme in Luftkanäle zwingen, um sie nahe an Tippi Hedren heranzubringen. Trotz der auch bei Menschen vorhandenen Tendenz, einen gewissen Abstand zu halten, scheint bei ihnen die Kohäsion grösser als die Separation; eine Ansammlung von sieben Menschen pro Quadratmeter würde es, proportional gesehen, bei Tierschwärmen nicht geben. Man kann darin auch die gattungsgeschichtliche Entwicklung und die soziale Ausstattung als Kulturleistung sehen.

Daraus können praktische Konsequenzen gezogen werden, etwa die, dass bei Fussballstadien möglichst viele Ein- und Ausgänge gebaut werden sollten. Oder dass Durchgänge eine Minimalbreite nicht unterschreiten sollten und Teiler vor dem Durchgang den Menschenfluss verbessern. Andererseits haben bei menschlichen Katastrophen Behörden, Polizei oder Veranstalter meist die Möglichkeit, anders und besser zu handeln. Um den menschlichen Schwarm erstreckt sich eine vom Menschen beeinflusste Umwelt.

Anders als der Begriff «Ameisenstaat» erhebt die Schwarmintelligenz scheinbar einen geringeren Anspruch: Nicht die Struktur einer ganzen Gesellschaft wird erklärt, es werden nur bestimmte tierische Verhaltens- und Denkprozesse auf die Menschen übertragen. Das häufig herumgereichte Beispiel für die Intelligenz der Masse ist der Publikumsjoker bei Günter Jauchs Fernsehquiz «Wer wird Millionär?». Wenn QuizteilnehmerInnen eine Frage nicht beantworten können und sie ans Publikum weiterreichen, sind die Erfolgsquoten überdurchschnittlich. Mit kollektiver Intelligenz hat das freilich nichts zu tun, sondern mit dem Gesetz der grossen Zahl: Unter vielen Mitwirkenden gleicht sich das Durchschnittswissen aus.

Seit das Internet unseren Alltag durchtränkt, kann es nicht nur kulturpessimistisch abgewertet, sondern muss mit positiven Vorstellungen verknüpft werden. Deshalb werden Beispiele der Schwarmintelligenz vorwiegend aus diesem Bereich angeboten. Manche dieser Beispiele bedienen sich allerdings bloss des Begriffs «Crowd», um sich ein bisschen Zeitgeist ans Revers zu heften.

Etwa das Crowdsourcing. Dabei wird eine Aufgabe an eine Masse von Freiwilligen ausgelagert; etwa um die Verbesserung eines Produkts zu erreichen. In Hollywood ermitteln seit längerem Testpanels den erfolgversprechendsten Schluss eines Films. Die Resultate tendieren zum Durchschnitt und zur Konformität. Dabei zieht der deutsche Schwarmintelligenzprophet Klaus Pampuch in «Swarm Mind» in einem «Einmaleins der kollektiven Intelligenz» eine bemerkenswerte Schlussfolgerung: «Es darf nur die Paarbeziehung zwischen dem Individuum und der Frage geben. Diskutieren die Menschen miteinander, oder ergreift ein Meinungsbildner das Wort, wird das Ergebnis schlechter.» Kurz und knapp: «Diskussion als Feind der kollektiven Intelligenz? Ja, tatsächlich.»

Dem widerspricht verdankenswerterweise ein Beispiel, in dem gerade die Diskussion eine besondere Qualität darstellt: Wikipedia. Die Internetenzyklopädie baut auf die individuelle Intelligenz, stellt aber einen Kommunikationskanal und eine Koordination zur Verfügung. Was nicht wenig ist. Auch eine klassische Enzyklopädie trägt das Wissen verschiedener Fachleute zusammen. Aber bei Wikipedia gehen die Möglichkeiten der Diskussion und der Rückkoppelungen weiter. Hier wird das Internet mit seinen Milliarden von grösstenteils zusammenhanglosen, statischen Dokumenten zusammengebracht und im dynamischen Fluss gehalten. Tausende von Zutragenden erschaffen ohne zentrale Steuerung ein Gesamtkunstwerk, das weit über die Summe aller Einzelteile hinausreicht. Zwar geht es nicht ohne ModeratorInnen, und deren Auswahl ist zuweilen obskur. Dennoch schlägt die Quantität in eine neue Qualität um. Wikipedia ist zweifellos ein Triumph einer kollektiven Intelligenz.

Noch höher zielt die «Liquid Democracy»: die ständige, interaktive Demokratiediskussion via Internet. Liquid Democracy versucht einen fliessenden Übergang zwischen direkter und indirekter Demokratie. Dabei wird der Ausgangspunkt der Schwarmintelligenz, der jeden als Initiator freisetzt, aufgegriffen und das Verfahren als neuer Steuerungsmechanismus verstanden. Jede Teilnehmerin kann selbst entscheiden, wie weit sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen will oder wie weit sie sich von anderen vertreten lassen möchte. So entsteht ein ständig kommunizierendes Röhrensystem von Delegationen.

Doch die Erfahrungen sind enttäuschend. Die Delegierung führt zu Priorisierungen und informellen Hierarchien. Die Internetdemokratie verschärft durch die ihr zur Verfügung stehende Geschwindigkeit die Probleme herkömmlicher Diskussionen: Am aktivsten sind diejenigen, die am meisten Zeit und Beharrlichkeit besitzen. Warum soll derjenige, der am meisten Sitzleder und am meisten Mitteilungsbedürfnis hat, am schlausten sein? Liquid Democracy ist honorabel, aber vorläufig illusionär; so wie auch die Piratenparteien schon beinahe untergegangen sind.

Massen im Magnetfeld

Hinter dem Schwarm guckt die Masse hervor. Menschenmassen sind von den Herrschenden immer mit Verachtung oder Misstrauen abgewehrt worden, als Plebs und Pöbel und Meute und Horde. Zum geflügelten Wort geworden ist das Buch des konservativen spanischen Philosophen José Ortega de Gasset «Der Aufstand der Massen» (1930). Das Referenzwerk ist immer noch Elias Canettis «Masse und Macht» (1960), sowohl im Material und dessen Durchdringung wie auch letztlich in der abwehrenden Haltung. Canetti zeigt und analysiert die verschiedenen Formen von Massen und Meuten – Hetzmassen, Fluchtmassen, Jagdmeuten, Klagemeuten und viele Unterarten; er zeigt ihr Verhältnis zur Religion, zum Befehl, zur Bewegung und Verwandlung, zur Paranoia. Das ist scharfsinnig, aber letztlich ahistorisch: Die menschliche Masse verhält sich bei Canetti seit dem Holozän immer gleich. In der eisigen Analyse drückt sich zugleich die elitäre Haltung aus.

Im Massenzeitalter des 20. Jahrhunderts sind zum Umgang mit den Massen drei Formen eingesetzt worden. Sie konnten entweder repressiv unterdrückt und eingedämmt werden; in eine von oben gesteuerte Massenbewegung wie den Faschismus inkorporiert werden; oder mithilfe der fordistischen Massenproduktion durch den Massenkonsum befriedet werden – wobei Letzteres unbestritten mit einer materiellen Verbesserung einherging.

Soziale Bewegungen sind auf Massen angewiesen. Doch wie halten sie es mit den Individuen innerhalb der Masse? Strukturell steht das Führerprinzip gegen eine demokratische Verfassung. Dem entspricht das Verhalten der Individuen: bewusstlos folgen versus selbstbewusst mitbestimmen.

Die Masse braucht einen Führer, heisst es zustimmend drohend von rechts. Der konservative Instinkt gegen die Masse nimmt das ernst und macht daraus abwehrend den Rädelsführer: Eine Masse kann nur unter Führung überhaupt agieren. So wird nach dem Rädelsführer gefahndet, um die Bewegung zu enthaupten.

Aber auch die selbstbewusste Mitbestimmung gerät unter Gruppendruck. In seinem Stück «Dantons Tod» (1835) über die Französische Revolution beschreibt Georg Büchner – als Revolutionstheoretiker – eine Szene, in der ein Volkshaufen den gefangenen Danton befreit und Robespierre beschuldigt, um nach einem kurzen Wortwechsel Danton zu  verdammen und Robespierre zu feiern. Dahinter stehen materielle Interessen und nachvollziehbare Urteile: Die dem Genuss nicht abgeneigten Dantonisten haben die soziale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft nicht behoben, was der tugendhafte Robespierre weiter verspricht. Aber die Schnelligkeit, mit der das Volk umkippt, schrammt doch am Erschreckenden vorbei.

Robert Musil hat in seinem Roman «Der Mann ohne Eigenschaften» (1930) – als Kulturtheoretiker – die Beziehung vom Individuum her beschrieben. Musil, der ausgebildeter Ingenieur war, schildert eine Demonstration und das Verhalten der Massen darin, wie wenn sie ins Anziehungsfeld wechselnder Magnetpole gerieten. Der naturwissenschaftliche Vergleich ist eine eher hilflose Beschreibung. Sie setzt eine Kraft von aussen voraus, doch wer wären die Magnetpole, und wie geriete die Masse wieder aus deren Anziehungskraft?

Gegen solche Bilder wird die demokratische Hoffnung ins Feld geführt. Sie muss mit dem Ende jener Massenbewegung klarkommen, die einst eine globale Umwälzung der Verhältnisse versprach: der Arbeiterbewegung. Mit deren historischer Niederlage ist, global wie national, jede zentralisierte Bewegung zersplittert. Aus dieser Not wird versucht eine Tugend zu machen. Michael Hardt und Antonio Negri haben dafür den Begriff der «Multitude» geschaffen: Jede lokale Empörung in der Welt trägt zu einer Gesamtbewegung der Empörung bei, die, führerlos, sich in gemeinsamen Interessen findet. Die widerständig Bewegten «schwärmen wie die Insekten», versprechen sie in ihrem jüngsten Buch zur Demokratie, und tatsächlich ist ihre Multitude wie ein Schwarm gedacht, zerstreut, führerlos, und letztlich als Bewegung im Recht.

Die biologisch geerdete Vorstellung von der Schwarmintelligenz ist teleologisch: Sie glaubt daran, dass das, was sich vollzieht, das Richtige ist. Das System hat immer recht. So dient sie der Systemstabilisierung. Spiegelbildlich heisst das dann bei Michael Hardt und Antonio Negri: Die Multitude hat immer recht, auch wenn sie erfolglos ist.

In der Diskussion um die Schwarmintelligenz geht es ums Aushandeln eines Bildes vom Menschen, von dessen Verfügbarkeit und Steuerbarkeit. Es geht, wie schon Elias Canetti festgehalten hat, um Macht. Das wiederum verweist gegenwärtig auf die aktuelle Krise der Demokratie. Die Schwärme reichen zu deren Bewältigung nicht aus. Aber vielleicht die demokratischen Massen.

Die Fotos zu diesem Artikel stammen alle aus dem Buch 
«Swarm» von Lukas Felzmann, das 2011 im Zürcher Verlag 
Lars Müller Publishers erschienen ist.