Europas Wirtschaftsaufschwung: Pumpkapitalismus, bis es mal wieder knallt

Nr. 34 –

Seit 2008 steckt Europa in der Wirtschaftskrise, doch nun soll es aufwärtsgehen. Das Statistikamt der EU hat erste positive Wachstumssignale vermeldet, Medien rufen bereits die Wende aus. Doch kommt sie tatsächlich? Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte ab 1848 lässt daran zweifeln.

Der Geist, der Europa heute beherrscht, ist jener einer bestimmten Generation: der Babyboomer. Die Generation war das Resultat der Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie und ihre Kinder sitzen heute an den Hebeln der Macht. Und sie sind überzeugt: Der Pfad der Wirtschaft führt – von wiederkehrenden Konjunkturtiefs abgesehen – immer weiter nach oben.

Nach dem Bankenknall 2008 und der darauffolgenden Wirtschaftskrise soll es nun weiter aufwärtsgehen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist jüngst erstmals nach eineinhalb Jahren wieder gewachsen, vermeldet das EU-Statistikamt. Um 0,3 Prozent. WirtschaftsprognostikerInnen sehen sich bestätigt. «Die Zeit» titelte auf der Front: «Die Wende kommt».

Doch kommt sie wirklich?

Die Überzeugung nährt sich aus der eigenen Vergangenheit: einer Vergangenheit, an deren Anfang die «Trente Glorieuses» standen, die glorreichen dreissig Jahre, die auf den Krieg folgten und in denen der Aufschwung nie zu enden schien. Als die Babyboomer in den siebziger Jahren die Universitäten verliessen, standen die Firmenchefs mit den Arbeitsverträgen Schlange. Und auch unter den ArbeiterInnen und einfachen Angestellten herrschte annähernd Vollbeschäftigung.

Die Generation der Babyboomer machte sich entsprechend nicht sonderlich viel aus Ökonomie. Zwar lasen die StudentInnen Karl Marx. Jedoch weniger als Ökonomen denn als Soziologen, mit dessen Hilfe sie den bürgerlichen Staat filetierten. Materiell weich gebettet stiegen sie auf die Barrikaden: gegen den Imperialismus, den bürgerlichen Muff und für freie Liebe.

Jenseits der Erfahrung dieser Generation liegt jedoch eine weitaus turbulentere Geschichte. Und vor deren Hintergrund ist die Zukunft mehr als ungewiss.

Die Wiederkehr des 19. Jahrhunderts

Der letzte grosse Aufschwung hatte 1848, hundert Jahre zuvor, mit der industriellen Revolution begonnen. Es war die Blütezeit des Wirtschaftsliberalismus. Eric Hobsbawm, einer der grossen Historiker des 20. Jahrhunderts, sah darin einen zentralen Grund, weshalb nach der Niederknüppelung der bürgerlichen Aufstände von 1848, in denen der junge Karl Marx die Vorläufer der kommunistischen Revolution erblickte, Jahre der Ruhe einkehrten.

Im Mai 1873 kam es dann in Wien zum Börsenkrach, dem in Europa Dutzende weitere folgten und der die erste «grosse Depression» einleitete, die sich bis zum Ende des Jahrhunderts hinziehen sollte. In diesen Jahren fiel auch der Startschuss zum «Scramble for Africa», dem Beginn des imperialistischen Wettlaufs. Je stärker sich die Staaten konkurrenzierten, desto aggressiver wurde der Nationalismus, mit dem die Eliten im anbrechenden Zeitalter der Volkssouveränität die Massen hinter sich zu scharen verstanden.

1914 stürzte sich Europa in den Krieg, 1929 folgte der grosse Börsenkrach, der in die zweite grosse Depression, den Faschismus und schliesslich in den Zweiten Weltkrieg mündete.

Am Ende lag Europa in Trümmern.

Die politischen Architekten der Nachkriegszeit waren keine Linken. Jedoch allesamt Männer, die den Niedergang der liberalen Ära am eigenen Körper erfahren hatten: Der US-Präsident Franklin Roosevelt, geboren 1882, der bereits in den dreissiger Jahren den «New Deal» für sein Land proklamierte, Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (geb. 1897), der Deutschland in die «soziale Marktwirtschaft» führte, oder der Ökonom John Maynard Keynes (geb. 1883), dessen «General Theory» zur Referenz der Nachkriegsreformen wurde.

Die Lehre, die sie aus ihrer Erfahrung zogen: Auf freier Wildbahn zerstört der Kapitalismus die Gesellschaft. Und am Ende sich selbst. Deshalb muss er an die Leine. Umso mehr, als die zu Beginn wirtschaftlich florierende Sowjetunion zum Konkurrenzmodell zu werden drohte.

Keynes hatte die beispiellose Ungleichheit, die in der Zwischenkriegszeit herrschte, als wichtige Ursache für die Wirtschaftskrise identifiziert. Sie hatte die wirtschaftliche Nachfrage breiter Schichten zum Erlahmen gebracht. Der Kapitalismus wurde unter die Obhut des Staates gestellt: Betriebe wurden verstaatlicht, Kapital- und Arbeitsmärkte reguliert und neue Sozialsysteme errichtet, um die Menschen vor den Launen der Märkte zu schützen.

Das war das Fundament des langen Aufschwungs, in den die Babyboomer hineingeboren wurden.

Als nach der Ölkrise 1973 Europas Regierungen sich auf einmal einer explodierenden Inflation gegenübersahen, stand eine Gruppe von ÖkonomInnen rund um Friedrich Hayek bereit, die mit ihrem Projekt, den Laissez-faire-Liberalismus wiederzuerwecken, in der Nachkriegszeit unterlegen waren. Ihre Forderung: Mehr Freiheit dem Kapital! Es sollte vom Staat und dessen Steuern befreit werden, frei sein, sich über Staatsgrenzen hinweg zu bewegen und Arbeitskräfte nach eigenem Gutdünken einzustellen. Damit sollte der Aufschwung ins 21. Jahrhundert gerettet werden.

Das Projekt wurde von einer neuen Generation aufgenommen, die den Niedergang des 19. Jahrhunderts nicht miterlebt hatten und zu deren Ikone die britische Premierministerin Margaret Thatcher (geb. 1925) wurde. In diesen Jahren strömten auch die Babyboomer aus den Universitäten, die unabhängig von ihrer Parteifarbe das Projekt übernahmen und nach dem Kollaps der Sowjetunion 1989 mit aller Härte zu Ende führten: der britische Premier Tony Blair, Bundeskanzler Gerhard Schröder – beides Sozialdemokraten. Mit Hayek teilten sie die Abneigung gegenüber dem Staat.

Nach drei wirtschaftlich turbulenten Jahrzehnten und der Bankenkrise 2008 steckt der Kontinent zum dritten Mal in einer grossen Depression. Die Wirtschaft stagniert, die Arbeitslosigkeit liegt in Griechenland und Spanien bei 25, unter den Jugendlichen dieser Länder gar bei rund 50 Prozent.

Und nun soll es weiter aufwärtsgehen?

Die ökonomische Schuld

Der Pfad nach oben liegt seit den siebziger Jahren auf einem wachsenden Berg aus Schulden. In einigen Ländern war es vor allem der Staat, der zu den Schulden griff. In Italien stiegen sie zwischen 1980 und der Bankenkrise von 56 auf 103 Prozent des BIP – die Schuld der privaten Haushalte war dagegen lediglich auf 49 Prozent gestiegen. In Spanien hingegen stieg die Staatsschuld bis zur Krise auf lediglich 36 Prozent, während die privaten Haushaltsschulden von 24 auf 88 Prozent explodierten. In Frankreich stieg die Gesamtschuld von 48 auf 127 Prozent, in Deutschland von 90 auf 129 Prozent. Der Soziologe Ralf Dahrendorf sprach in einem Essay kurz vor seinem Tod 2009 von einem «Pumpkapitalismus».

Irgendwann konnten die Haushalte ihre Schulden gegenüber den Banken nicht mehr tragen. Der Startschuss für die Finanzkrise 2008 war gegeben. Um die Banken zu retten, luden sich die Staaten einen Teil der privaten Schulden auf die eigenen Schultern; als einige unter ihnen selbst zu kollabieren drohten, sprangen schliesslich die Nachbarstaaten für sie ein. Damit wurde der Schuldenberg fürs Erste stabilisiert.

Für die Schulden gibt es eine ökonomische Erklärung. Zunächst gilt: Die Schulden der einen sind die Ersparnisse anderer. Eigentlich sollten die Ersparnisse als Kredite an Firmen gehen, die damit Güter produzieren, mit deren Verkauf sie den Kredit zurückbezahlen. Mit der Rückkehr des Wirtschaftsliberalismus ist jedoch auch die Ungleichheit zurückgekehrt. Resultat: Je mehr sich die Ersparnisse oben konzentrieren, desto stärker schwinden deren Investitionsmöglichkeiten, weil die Nachfrage nach den Konsumgütern schwindet, da unten das Geld fehlt.

Entsprechend sind die Zinsen, der Preis für die Ausleihe von Ersparnissen, seit Anfang der achtziger Jahre Schritt für Schritt gefallen.

Schliesslich haben die Staaten die Steuern für Reiche und Grossunternehmen gesenkt und die zunehmende Ungleichheit statt durch Steuereinnahmen durch die Aufnahme billiger Kredite bekämpft, auch wenn es kaum einem Land gelang, das wachsende Gefälle auszugleichen. Das Übrige taten die privaten Haushalte, die sich verschuldeten.

Mit dem wachsenden Schuldenberg wurde die Nachfrage befeuert. Und der Aufschwung der Nachkriegszeit damit am Leben erhalten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Europas Regierungschefs sehen die Ursache des Schuldenbergs in mangelnder Moral: Gierige Banker hätten verschwenderischen Haushalten und PolitikerInnen, die sich durch Geschenke ihre Wiederwahl sichern wollten, Geld nachgeworfen. Nun solle Europa seine Schuld durch Enthaltsamkeit abbezahlen.

Damit bricht jedoch die von Schulden getriebene Nachfrage weg. Die Austeritätspolitik hat Europa noch tiefer in die Rezession gedrückt. Darüber hinaus haben die Rezession und die hohen Arbeitslosenzahlen wiederum zu sinkenden Staatseinnahmen und steigenden Sozialausgaben geführt. Der Schuldenberg ist weitergewachsen.

Fetisch Export

Eine zweite Erklärung, eine ökonomische, der man in Brüssel folgt: Seit der Einführung des Euro um die Jahrtausendwende hatten wirtschaftlich schwache Länder Mühe, mit Deutschland mitzuhalten, da sie ihre Schwäche nicht mehr mit einer billigen Währung wettmachen konnten. Entsprechend importierten Länder wie Spanien kontinuierlich mehr aus Deutschland, als sie exportierten – mit Geld, das sie sich von dort liehen. Die Lehre daraus: Deren Löhne seien zu senken, damit auch sie in die Welt exportieren können.

Ein anderer Kontinent soll sich also verschulden, um Europas Exportüberschüsse zu kaufen. Die unbeantwortete Frage lautet: Welcher soll das sein? Die USA stecken selbst in den Schulden, während Länder wie China auf Exporte setzen. In der Zwischenzeit verschärfen die Lohnsenkungen in den Krisenländern die Ungleichheit. Die Nachfrage bricht weiter ein, die Krise spitzt sich zu.

Es gibt nur einen Weg aus der Krise: Der Schuldenberg muss vernichtet werden – womit gleichzeitig die entsprechenden Ersparnisse vernichtet würden. Damit wäre ein erster Schritt hin zu mehr Gleichheit getan. Vorher wird Europa keinen Ausweg finden.

Doch woher dann der Silberstreif am Horizont? Zum einen stützen sich die neusten Wachstumszahlen auf Frankreich und Deutschland, während viele Staaten in der Rezession verharren. Zum anderen hat Brüssel unter anderem Frankreich gegenüber die Sparvorschriften vorübergehend gelockert. Doch ohnehin steigen die Schulden, trotz Spardiktat, überall weiter an. Ermöglicht hat dies die Europäische Zentralbank (EZB), indem sie die Zinsen auf nahezu null gesenkt hat. Sich zu verschulden, ist heute beinahe gratis.

Das Geld, das die EZB seit Monaten in die Banken pumpt, führt auf den Immobilienmärkten und an den Börsen bereits zu neuen Blasen. Der Pumpkapitalismus nimmt seinen weiteren Lauf.

Irgendwann knallt es wieder.