Andricgrad: Die Fantasiestadt, dort, wo einst das Lager stand

Nr. 33 –

Der bosnisch-serbische Erfolgsregisseur Emir Kusturica baut in Bosnien eine Stadt zu Ehren von Ivo Andric, dem nobelpreisgekrönten Autor von «Die Brücke über die Drina». Von Verdunkelung der Kriegsgräuel, Kitsch und Landraub sprechen KritikerInnen.

«Mischung aus mangelnder Fantasie und oberflächlichen Kenntnissen der Vergangenheit»: Kunst- und Architekturdozentin Ljiljana Sevo hat wenig für Kusturicas Retortenstadt übrig.

Die Stadt sieht perfekt aus: An einer Flussmündung, umgeben von grünen Hügeln, tritt man durch ein malerisches Stadttor. Rote Dächer zieren Hausfassaden aus unterschiedlichen Zeitepochen, herausgeputzte Gassen führen zu einem zentralen Platz, alles ist aus Stein. Als ob das Städtchen darauf warten würde, ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen zu werden. Doch Andricgrad ist keine restaurierte historische Stadt, sondern die Fantasie von Emir Kusturica, dem wohl bekanntesten Filmemacher aus dem südosteuropäischen Raum («Underground», «Chat noir, chat blanc»). Zu Ehren seines Vorbilds, des nobelpreisgekrönten jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andric (1892–1975), baut er am Ufer der Drina in Visegrad, nahe der berühmten Brücke über die Drina, eine ganze Ministadt mit Kino, Theater und Hotels. Vergangenen Herbst wurde sie teileröffnet.

«Andricgrad entsteht als eine Stadt der Kreativität, der Kunst und der Versöhnung», sagte Kusturica bei der Eröffnung. In einem Interview mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin «Profil» ergänzt er: «Der Schriftsteller Andric dachte weltoffen und völkerverbindend, und in genau dieser Tradition soll auch Andricgrad stehen. Es soll eine multikulturelle Stadt sein. Ein Treffpunkt und ein Leuchtfeuer für alle Menschen dieser Region.» Doch diese Meinung teilen nicht alle. Während viele die Kunststadt als Kitsch bezeichnen, ist der Bauherr auch der Kritik ausgesetzt, Andricgrad sei ein serbisch-nationalistisches Projekt.

Kritik von Kriegsopfern

Visegrad ist nicht nur Schauplatz von Ivo Andrics berühmtem Roman, es ist auch die Stadt seiner Kindheit. Als Sohn eines bosnisch-kroatischen Ehepaars in Zentralbosnien geboren, wuchs er nach dem Tod seines Vaters bei einer Tante in Visegrad auf. Nach dem Studium in Sarajevo und einer Diplomatenkarriere im Ausland lebte und arbeitete er als Schriftsteller in Belgrad. «Die Brücke über die Drina» erzählt vom Leben der Menschen in Visegrad, von der Erbauung der Brücke im 16. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, inmitten der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den osmanischen und habsburgischen Besatzungsmächten. Die von den Osmanen errichtete Brücke war jahrhundertelang ein Tor zwischen Ost und West, denn Visegrad liegt auf der direkten Linie zwischen Sarajevo und Istanbul. Die Stadt war seit jeher ein Schmelztiegel der Kulturen – bis sie im Bosnienkrieg (1992 bis 1995) als eine der ersten Städte ethnisch gesäubert wurde. Bis dahin waren rund zwei Drittel der Bevölkerung MuslimInnen, im Krieg wurden sie zu Tausenden vertrieben, zu Hunderten getötet und in die Drina geworfen. Nur wenige sind zurückgekehrt. Heute gehört Visegrad zur serbischen Teilrepublik Bosniens.

Über die jüngsten geschichtlichen Ereignisse in Visegrad erzählt Kusturicas Fantasiestadt nichts. Im Gegenteil, der Bauherr verdunkle sie, kritisieren die Kriegsopfer: Am Ort, wo die Stadt entsteht, stand vorher ein Sportzentrum, das im Krieg als Internierungslager genutzt wurde. Dass Andricgrad ausgerechnet an dem Ort gebaut wird, an dem viele Gräueltaten gegenüber bosnischen MuslimInnen verübt wurden, brüskiere die Familien der Opfer, sagte Bakira Hasecic gegenüber der Onlinezeitung «Balkan Insight». Sie setzt sich für die Rechte vertriebener bosnischer MuslimInnen ein. Viele der Vertriebenen sehen in Andricgrad eine Provokation Kusturicas, der für seine proserbische Haltung bekannt ist. Kusturicas Reaktion auf solche Vorwürfe: «Ich baue dort ein Kino, ein Theater, ein Hotel, ein Einkaufszentrum. Was ist daran nationalistisch?»

Und doch hängt an der Stadtmauer die bosnisch-serbische Fahne. Und doch ist sein wichtigster Geschäftspartner Milorad Dodik, Präsident der bosnisch-serbischen Republik, einer der zwei Teilrepubliken Bosnien-Herzegowinas. Seine Regierung investiert Millionen in das Projekt. Milorad Dodik und seine Hintermänner leugnen, dass Visegrad heute eine ethnisch gesäuberte Stadt ist, und mit seiner Politik zur Abspaltung des serbisch-bosnischen Teilstaats ist er wohl der grösste Feind eines multiethnischen Bosniens.

Bereits vor einigen Jahren hat Kusturica mit einem aussergewöhnlichen Bauprojekt auf sich aufmerksam gemacht. In Mokra Gora, in den serbischen Bergen, nur dreissig Kilometer von Visegrad entfernt, baute er sich sein eigenes serbisches Dorf.

Küstendorf, wie er es nannte, diente als Kulisse für seinen Film «Das Leben ist ein Wunder» (2004). Heute ist es Touristenattraktion, Austragungsort von Kusturicas persönlichem Filmfestival und sein Wohnort. Auch Andricgrad soll zur Filmkulisse werden, Kusturica will «Die Brücke über die Drina» verfilmen. Dafür will er eine Stadt schaffen, die so ist, wie Ivo Andric sie einst in seinem Roman beschrieben hat. Auch eine Opernadaption wird es geben, Verträge mit dem Teatro La Fenice, dem bekannten Opernhaus in Venedig, bestehen bereits.

Doch Andricgrad will mehr sein als eine Kulisse. Das wird deutlich beim Rundgang mit einem Mitarbeiter des kürzlich eröffneten Multiplexkinos. Er zeigt die unterschiedlichen Häuser, die in Anlehnung an die byzantinische, renaissancistische und osmanische Architektur neu entworfen wurden. Neben dem Kino sind darin noch ein Souvenirladen, eine Cafébar, ein Bücherladen, eine Bank und eine Kunstgalerie schon in Betrieb. Hinter dem noch leer stehenden neuen Rathaus graben die Bagger unüberhörbar weitere Löcher in den Boden, insgesamt sollen es fünfzig Gebäude werden. Ein Theater, ein Konzertsaal, ein Andric-Institut, diverse Unterkünfte und Restaurants sowie eine orthodoxe Kirche ergänzen bis 2014 das Angebot, zählt der Mitarbeiter auf. Für ihn ist Andricgrad das Beste, was Visegrad passieren konnte. «Die Stadt war eingeschlafen, endlich läuft etwas.» Plötzlich steht der Bauherr persönlich da. «Für wen fotografierst du?», fragt er die Schreibende streng, schüttelt ihre Hand und verschwindet auch schon wieder in Richtung Pivnica (Bierhalle). Reden will Kusturica nicht. Denn Kritik hagelte es schon vor Baubeginn im Juni 2011.

Pseudorenaissancistische Architektur

Zu den KritikerInnen gehört Ljiljana Sevo, Dozentin für Kunst und Architektur an der Universität Banja Luka, Hauptstadt der serbischen Republik in Bosnien. Sie schaudere es bei der Vorstellung, dass sich bald auf 17 000 Quadratmetern pseudorenaissancistische, quasibyzantinische und neoosmanische Architektur aus dem 21. Jahrhundert kreuzten, schrieb sie in einem Artikel im unabhängigen Online-magazin «Buka» in Banja Luka. «Orte, die die kulturellen Errungenschaften dieser Zeiten kombinieren, sind von grossem historischem und künstlerischem Wert und Zeugnisse von Begegnungen und gegenseitiger Befruchtung. Natürlich vorausgesetzt, sie sind real.» Beispiele dafür gäbe es in Bosnien-Herzegowina viele, selbst in Visegrad: Neben dem Meisterwerk des osmanischen Brückenbaus stehen als Zeugnis der reichen Vergangenheit die schöne orthodoxe Kirche aus dem 19. Jahrhundert und das bescheidene, aber charmante Neorenaissance-Gemeindehaus. Kusturicas Stadt bezeichnet sie hingegen als eine «Mischung aus mangelnder Fantasie und oberflächlichen Kenntnissen der Vergangenheit, die unvermeidbar in der Manipulation von kulturellen Werten oder kurz – in Kitsch endet.» Inzwischen möchte die Autorin nicht mehr zum Projekt Stellung nehmen, es stehe alles im Artikel, sagte sie auf Anfrage.

Hoffnung auf Arbeitsplätze

Die lokalen PolitikerInnen stehen trotz Kritik voll hinter dem Projekt: Schon 200 Arbeitsplätze habe es geschaffen, sagt der Gemeindesprecher von Visegrad, Zdravko Zuza. Das erklärt, warum die Gemeinde selber in das zehn bis zwölf Millionen Euro teure Projekt investiert. Zusammen mit der Regierung der serbischen Republik Bosniens ist sie mit 49 Prozent am Projekt beteiligt, die restlichen 51 Prozent besitzt Kusturica.

Das Stadtparlament hat das Projekt einstimmig bewilligt, man hofft, Andricgrad werde das Rückgrat eines neu aufblühenden Tourismus in Visegrad. Schon heute kämen Tausende im Monat, manchmal sogar am Tag, sagt Zuza. Touristinnen und Einheimische sollen also die neuen Einrichtungen von Andricgrad nutzen und Geld in die Kassen spülen. Ob die Rechnung aufgeht, wird sich zeigen. Die Bevölkerungszahl von Visegrad ist rückläufig, die Jungen ziehen mangels Perspektiven weg, die Arbeitslosenquote liegt bei vierzig Prozent. Ob die lokalen Geschäfte durch Andricgrad gewinnen oder verlieren, hängt vom Publikumsstrom ab. Bleiben die TouristInnen aus, ist Andricgrad wohl eher eine Konkurrenz für sie.

Unmittelbar neben Andricgrad liegt das bescheidene Zentrum von Visegrad, trotzdem wirkt der neue Stadtteil mit seinem grossen Parkplatz und der Stadtmauer davon isoliert. Nur wenige hundert Meter flussaufwärts spannen sich die elf Bogen der fast 500-jährigen imposanten Steinbrücke über die Drina, die Ivo Andric mit seinem Roman berühmt gemacht hat. 2004 wurde die Mehmed-Pasa-Sokolovic-Brücke, wie sie offiziell heisst, ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Dass nun ein paar hundert Meter davon entfernt eine Fantasiestadt als neue Touristenattraktion dienen soll, beunruhigt auch den Denkmalschutz. Andricgrad liege zwar ausserhalb der Schutzzone der Brücke, erklärt die bosnische Kommission zum Schutz von nationalen Denkmälern, doch dürfe es trotzdem «weder die optische Integrität noch die funktionelle und symbolische Bedeutung der Brücke in der historisch-urbanen Landschaft von Visegrad gefährden». Konsultiert wurde die Behörde nicht, man habe vom Baubeginn aus der Zeitung erfahren.

Andricgrad will auch ein Ort für Kultur sein. Neben Lesungen finden Konzerte statt, neben dem Hollywood-Kinoprogramm werden Dokumentarfilme gezeigt. Kusturica will gar eine Kunstakademie schaffen, an der junge Menschen aus der Region Film, Theater und weitere Künste studieren können. Vielleicht findet darin Andricgrad einmal seine Bestimmung. Bis dahin ist Andricgrad Filmkulisse, pseudohistorische Fantasiestadt, Provokation, Hoffnungsträger und ein überdimensioniertes Denkmal, das für viel Unruhe sorgt.

Kläger aus der Schweiz

Eine bosnisch-muslimische Familie will gegen die Stadt Visegrad und die bosnisch-serbische Republik wegen Landraub Anklage erheben. Das Land sei ihnen für den Bau von Andricgrad unrechtmässig weggenommen worden. Es handelt sich um die ErbInnen eines ehemaligen Landbesitzers, einer von ihnen ist Muhamed Prses, der seit über 25 Jahren mit seiner Familie in der Schweiz lebt. «Wir haben Dokumente, die eindeutig beweisen, dass dieses Land uns gehört. Die Behörden aber haben es auf dem Grundbuchamt einfach der Stadt übertragen und für Andricgrad freigegeben.»

Bereits seit 2004 kämpft Prses zusammen mit sechzehn weiteren ErbInnen um das Land der Familie. Dabei gehe es ihnen nicht um Geld, sie wollten den Bau von Andricgrad stoppen: «Ich gäbe mein Land gerne für ein gutes Projekt, eines, das der Vielfalt der Region Rechnung tragen würde.»

Zdravko Zuza, Gemeindesprecher von Visegrad, reagiert gelassen. Das Land sei schon vor langer Zeit der Gemeinde zugesprochen und die ehemaligen BesitzerInnen dafür entschädigt worden, sagt er.