Wirtschaftskrise: Ein Europa voller Gräben und Klüfte

Nr. 26 –

Wachsende Arbeitslosigkeit, sich ausweitende Armut, steigende Staatsschulden: Die Schadensbilanz fünf Jahre nach Ausbruch der ­Wirtschaftskrise in Europa.

In Griechenland und Spanien hat jedeR Vierte keine Arbeit: Ein Mann sucht in einem Müllcontainer vor einem Supermarkt in Bilbao (Baskenland) nach Essbarem

Etwas weniger sparen, ein Programm für jugendliche Arbeitslose, ein Kreditfonds für KMU in Südeuropa: Das sind die neuen Töne, die auch am EU-Gipfel, der dieser Tage über die Bühne geht, zu hören sind. Wo steht Europa nach fünf Jahren Krisenpolitik? Und findet der Kontinent mit diesen Rezepten wirklich aus der Krise?

Einzig die Arbeitslosigkeit wächst

Die Zahl der Menschen in Europa, die keine Arbeit haben, erreicht historische Rekordwerte. 2013 bis 2017 wird sie höher liegen «als je zuvor in einer Fünfjahresperiode der Nachkriegszeit», sagt die Prognose dreier führender Wirtschaftsinstitute aus Deutschland, Frankreich und Österreich voraus. In Portugal, Irland, Zypern und Slowenien ist jeder Sechste arbeitslos. Griechenland und Spanien trifft es sogar härter als jene Länder in der grossen Depression der dreissiger Jahre, die die höchsten Arbeitslosenraten auszuweisen hatten: Jede Vierte ist ohne Arbeit.

In absoluten Zahlen: Vor fünf Jahren waren im Euroraum rund elf Millionen Menschen arbeitslos. Mittlerweile sind es fast zwanzig Millionen.

Am schlimmsten trifft es die Jugendlichen, in Griechenland und Spanien jeden zweiten. Je länger sie arbeitslos sind, desto schwieriger wird es, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzufinden. Eine verlorene Generation wächst heran.

Armut und Not breiten sich aus

120 Millionen Menschen waren in der EU Ende 2011 von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Das ist fast ein Viertel der Bevölkerung – und fünf Millionen mehr als ein Jahr zuvor, stellt der EU-Sozialbericht fest. Im krisengeplagten Süden breitet sich die Not besonders stark aus, aber auch im Osten, in den neuen EU-Mitgliedstaaten. Die Staaten, die sich von der Marktwirtschaft «blühende Landschaften» erhofft hatten, versinken nach einem kurzzeitigen Boom nach der Jahrtausendwende in Armut und Schulden. Von Bulgarien über Rumänien bis Lettland, Litauen und Ungarn sind zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung arm und sozial ausgegrenzt.

In diesen Statistiken ist 2012, «ein weiteres miserables Jahr für Europa» (EU-Kommissar Laszlo Andor), noch gar nicht eingerechnet.

Gräben verlaufen nicht nur zwischen Süd und Nord sowie West und Ost – sie durchziehen auch die Staaten: Die Kluft zwischen Reich und Arm hat sich lange vor der Krise in den meisten Ländern vertieft. Der Trend hat sich in den Krisenstaaten seit 2007 noch verschärft. Die reichsten zehn Prozent sind bis 2010 ungeschoren davongekommen, wie die OECD kürzlich feststellte. Die ärmsten zehn Prozent hat es hingegen hart getroffen. Ihre Einkommen sind um fünf bis zehn Prozent gesunken.

Die sozialen Ungleichheiten bergen sozialen Sprengstoff. Gleichzeitig sind sie aber auch der Keim für weitere Krisen. Selbst der wirtschaftsliberale Internationale Währungsfonds (IWF) warnte unlängst, die wachsende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen mache die Wirtschaft krisenanfällig. Weil die Kaufkraft der breiten Schichten stagniert oder gar sinkt, wird nicht investiert. Stattdessen suchen die Reichen die schnelle Rendite – mal beim Gold, mal in den Immobilien. Neue Finanzblasen entstehen, die früher oder später platzen – mit unabsehbaren Folgen.

Über Sparen zu mehr Schulden

Als die Euroländer 2008 den grössten Wirtschaftseinbruch seit den dreissiger Jahren erlitten, hielten sie mit Konjunkturprogrammen dagegen. Sie retteten zudem Banken – und damit ihre Wirtschaft. Der Preis dafür waren hohe Defizite. In Irland schnellte das Defizit auf rekordhohe dreissig Prozent des nationalen Einkommens (BIP). Aus der Banken- und Finanzkrise wurde eine Staatsschuldenkrise. Darauf reagierten die Euroländer mit Sparen.

Sparen bedeutet jedoch nicht weniger Schulden. Im Gegenteil. Die Staatsschulden betrugen zu Krisenbeginn knapp siebzig Prozent des BIP, mittlerweile haben sie die 100-Prozent-Marke erreicht.

Das Ergebnis war voraussehbar. Wer spart, bremst die Wirtschaft, nimmt weniger Steuern ein, erhöht die Arbeitslosigkeit – die Kaufkraft sinkt, es wird weniger konsumiert. Dazu kam die chaotische Europolitik. Sie führte zur Panik auf den Finanzmärkten, die Zinsen für Griechenland, Portugal und später Spanien und Italien stiegen steil an. Darauf reagierten die Europolitiker ebenso panisch. Den Krisenländern wurden noch härtere Sparauflagen diktiert, was die Krise weiter verschärfte.

Jetzt dämmert es in Brüssel. Die EU-Kommission schwächt die Sparauflagen etwas ab. Doch der Schaden ist angerichtet.

Schuldner kontra Kreditgeber

Schuld an der Krise sind die Länder Südeuropas. Sie haben über ihre Verhältnisse gelebt und büssen nun dafür. So die gängige Kritik.

Sie greift jedoch zu kurz. Es waren die Banken, die die Eurokrise ausgelöst haben. Das belegt der deutsche Ökonom Fabian Lindner von der Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Studie: Noch bis 2006 haben die Banken ihre Kredite und Anleihen für die südeuropäischen Länder massiv ausgeweitet. 2008 war plötzlich Schluss. Seither haben sie ihre Forderungen gegenüber den Krisenländern fast halbiert. Vor allem deutsche und französische Banken zogen in grossem Umfang Gelder ab. Sie hielten sich schadlos, verursachten damit aber massive Zahlungsbilanzprobleme in den Krisenländern.

Wie immer, wenn der Kredithahn plötzlich zugedreht wird, bricht die Wirtschaft ein. Das passierte in Lateinamerika in den achtziger Jahren, in Asien Ende der neunziger Jahre. Nun wiederholt es sich in den Eurokrisenstaaten. Und weil diese dazu noch ihre Banken stützen müssen, blieb es nicht nur bei einer Rezession. Die Staatsbudgets wurden arg belastet. Die Staatsschulden haben sich in kurzer Zeit massiv erhöht.

Die Schwäche der Schuldner macht die Gläubigerstaaten stark. Das internationale Kapital fliesst nun ihnen zu. Sie erhalten es praktisch zum Nulltarif und profitieren so von der Krise der andern. Dieses Modell ist allerdings nicht lange zu halten. Denn kommt es im Süden zum Kollaps, werden die verbliebenen Gläubiger mit in den Abgrund gezogen.

Der Eurosüden wie Deutschland?

Die Krisenländer sollen sich Deutschland zum Vorbild nehmen, heisst das gängige Rezept. Das bedeutet: Löhne kürzen, damit die Länder kostengünstiger produzieren und so wettbewerbsfähiger werden.

Das Exportwunder Deutschland hat es vorgemacht. Es exportiert regelmässig viel mehr, als es importiert und erzielt damit grosse Überschüsse. Die SüdeuropäerInnen kaufen umgekehrt mehr im Ausland ein, als sie dort Waren und Dienstleistungen absetzen. Jetzt sollen sie «deutscher» werden. Der Experte Raphael Auer von der Schweizerischen Nationalbank zeigt sich beeindruckt, wie schnell Griechenland, Italien, Spanien und Portugal ihre Leistungsbilanzen fast ausgleichen konnten.

Ist die Trendwende also geschafft? Die Löhne sind tatsächlich gesunken. In Griechenland zuletzt im Jahresrhythmus von zehn Prozent. Die anderen Krisenstaaten seien noch nicht so weit, bedauern zwei Experten der EU-Kommission. Doch sie sind überzeugt, dass sie bald nachziehen werden.

Billiger produzieren wäre also möglich. Nur: Oft geschieht dies nicht. Die tieferen Löhne führen – «unglücklicherweise» (EU-Kommission) – nicht zu entsprechenden Preissenkungen. Stattdessen erhöhen die Unternehmen ihre Gewinnmargen. Zudem widerspiegeln die ausgeglichenen Leistungsbilanzen weniger die neu gewonnene Wettbewerbsfähigkeit als vielmehr die Rezession. Nicht die Exporte nehmen zu, sondern die Importe schrumpfen.

Die Krise im Süden wirkt zurück auf den Norden. Frankreich, die Niederlande und auch Deutschland können weniger verkaufen. Deshalb brechen die Investitionen ein. Die Stagnation breitet sich aus über den ganzen Euroraum.

(K)ein Ausweg

Massenarbeitslosigkeit, Stagnation und noch viel höhere Schulden als vor der Krise: «Europa treibt auf die Katastrophe zu», beschied die wirtschaftsnahe britische Zeitschrift «Economist» kürzlich. Nur, warum tut die Politik den europäischen Menschen das an – gegen die Warnungen, die bereits früh geäussert wurden?

Für den US-amerikanischen Nobelpreisträger Paul Krugman war das Jahr 2010 entscheidend, wie er in seinem neusten Essay schreibt. Zwei Expertentandems der Prestigeuniversität Harvard sind die geistigen Paten der europäischen Austerität: Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff wollten empirisch nachweisen, dass bei einem Schuldenstand von über neunzig Prozent des BIPs eine Volkswirtschaft kaum mehr wächst. Alberto Alesina und Silvia Ardagna priesen Ausgabenkürzungen als Rezept für Wachstum. Diese förderten das Vertrauen – und das sei wichtiger als alles andere.

Inzwischen weiss man es: Das RR-Tandem hat statistisch getrickst, und das vom AA-Tandem versprochene Vertrauen ist dahin. Die EU-Skepsis war in Europa nie grösser als heute.

Wenig Gehör fand die Harvard-Prominenz in den USA. Dort hält man sich an IWF-Chefökonom Olivier Blanchard: «Less now, more later» – jetzt weniger sparen, dafür später mehr. Das verspricht mehr Erfolg und ist erst noch weniger schmerzhaft. Um die USA steht es zumindest besser. Bis 2010 stieg die Arbeitslosigkeit beidseits des Atlantiks an. In den USA nimmt sie seither ab, in Europa hingegen weiter zu. Bald wird sie dort doppelt so hoch sein.