Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer (26): Ideologie (geht mich nichts an)

Nr. 13 –

Alle wollen unideologisch sein, weil Ideologie einen üblen Beigeschmack hat. Dennoch sind wir durchtränkt davon.

PolitikerInnen betreiben «objektive Sachpolitik», der frisch gewählte Walliser Staatsrat Oskar Freysinger sagte im «Tages-Anzeiger»-Interview, «die Walliser SVP ist nicht so ideologisch», und auch «guter Journalismus soll nicht ideologisch sein», so Tamedia-Verleger Pietro Supino kürzlich im «Magazin».

Ideologie ist unerwünscht, und alle bemühen sich, unideologisch zu sein. Wenn PolitikerInnen behaupten, sie seien unideologisch, ist das zwar nachvollziehbar: Sie präsentieren sich gerne als VertreterInnen der Wahrheit. Doch gerade in der Politik bestimmen Ideen und Wertvorstellungen die Parteiinteressen und somit das politische Handeln. «Objektive Sachpolitik» zu betreiben, ist unmöglich. Natürlich liegt auch der Walliser Staatsrat Oskar Freysinger mit seiner Aussage falsch, dass die Walliser SVP nicht so ideologisch sei. Klar ist sie das! Sie ist es aber nicht weniger oder mehr als die Zürcher SP oder die Waadtländer CVP.

Dennoch behält Ideologie den üblen Beigeschmack. Dafür gibt es Gründe: Sehr oft wird der Ideologiebegriff im Zusammenhang mit Nationalsozialismus oder Stalinismus verwendet. Ideologie ist für viele der Inbegriff für totalitäre Systeme, für rassistische oder religionsfeindliche Regimes. Ideologie gehört demzufolge nur zu einer Diktatur.

Oder sie befestigt die Klassenherrschaft: Karl Marx zum Beispiel kritisierte, dass die herrschende Klasse ihre Interessen in die Form von angeblich allgemeingültigen Werten kleide. Die Bourgeoisie, schrieb er, nutze Ideologie, um ihre Macht über das Proletariat zu festigen. Somit wird die grosse Masse durch das Denken der Herrschenden manipuliert. Antonio Gramsci skizzierte mit seinem Hegemoniebegriff ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem die dominante Klasse eine Ideologie ausarbeitet, die der dominierten Klasse einen Lebensentwurf anbietet, den sie als ihren eigenen begreifen kann.

Man kann Ideologie aber auch breiter verstehen. Danach ist Ideologie die Lehre von Ideen; der Versuch, die unterschiedlichsten Vorstellungen über Sinn und Zweck des Lebens zu ordnen; unsere Bemühung, die Welt, in der wir leben, zu beschreiben. Ideologie ist demnach Weltanschauung, eine Art zu denken und zu werten.

Sie zeigt sich zum Beispiel in der Kommunikation. Denn wie soll Ideologie sich äussern, wenn nicht durch Sprache? In einem Gespräch versuchen wir fast täglich, die anderen von unserer Meinung zu überzeugen, unsere Idee darzulegen, unser Gegenüber zu etwas zu bewegen. Dabei ist uns oft gar nicht bewusst, dass wir ideologisch sind oder dass Ideologie eine Rolle spielt. Zudem entstehen in Gesprächen auch Machtbeziehungen zwischen den TeilnehmerInnen. In den meisten Fällen empfinden wir das auch als normal, denn es muss nicht bedeuten, dass das dominante Gegenüber mein gesamtes Leben und Denken manipulieren kann. Kommunikation ist also immer ideologisch.

Und im Journalismus? Auch dieser kann nicht «objektiv», also unideologisch sein. Allein die Entscheidung, was in einen Text hineinkommt und was weggelassen wird, unterliegt einer Wertung und muss demnach als ideologischer Akt gesehen werden. Selbst Nachrichtentexte, die nur «informativ» sein wollen, lassen Schlüsse auf die politische Haltung der Autorin oder des Autors zu. So macht es einen grossen Unterschied, ob jemand als «Widerstandskämpferin» oder als «Terrorist» bezeichnet wird, ob von einer «Regierung» oder einem «Regime» gesprochen wird.

Der Sprachgebrauch verändert die Bedeutung von Wörtern. Und das Verständnis, das wir von einem Begriff haben, ist nicht objektiv, sondern geprägt von der Ideologie derjenigen, die den Begriff verwenden. Zum Beispiel Freiheit: Bin ich frei, wenn ich mich in einem Zustand ohne jeglichen äusseren Zwang befinde oder wenn ich an der «freien Marktwirtschaft» teilnehmen «darf»?

Unsere PolitikerInnen sind also weit davon entfernt, frei von Ideologie zu sein, behaupten können sie das dennoch – als freie Menschen.