China: Die laufenden Geschäfte des Herrn Xiao

Nr. 12 –

Manchmal haben afrikanische Läufer, die in China zu Langstreckenrennen antreten, Glück. Sie landen auf vorderen Plätzen und bekommen ein Preisgeld. Aber sie müssen auch höllisch aufpassen.

«Warum fahren wir nicht ab?», fragt Lezan Kipkosgei Kimutai. Aus der Stimme des kenianischen Läufers ist kein Ärger herauszuhören. Er stellt nur eine sachliche Frage. «Wir warten noch auf zwei Teilnehmer», wird ihm übersetzt. «Auf Afrikaner?», will Kimutai wissen. Auf einmal klingt seine Stimme nicht mehr sachlich, sondern alarmiert. Denn die weite Anreise zum Hundertkilometerlauf der Leigong Mountain Ultra Trail Challenge in Südchina hat Kimutai aus der eigenen Tasche bezahlt: fünf Stunden Bus von Eldoret nach Nairobi, sechs Stunden Flug nach Abu Dhabi, acht Stunden Flug nach Beijing, drei Stunden Flug nach Guiyang. Gesamtkosten: 1800 US-Dollar. Wenn er dabei nicht mindestens den siebten Platz erreicht, muss er sich mit einem Verlust auf die Rückreise machen.

Überall auf der Welt zahlen die Laufveranstalter höchstens den allerbesten LäuferInnen eine Startprämie. Reisekosten werden schon eher übernommen, aber auch nicht immer. Kimutai ist 2004 den Dubliner Marathon in 2 Stunden, 13 Minuten und 8 Sekunden gelaufen, aber jetzt ist er 41 und muss seine Flugtickets – und Laufschuhe – selbst bezahlen.

«Wir sind alle gute Freunde», sagt er, «wir trainieren zusammen.» Aber das heisst natürlich nicht, dass er sich freut, wenn er in der Schlange vor dem Konsularschalter einer Botschaft einen gleich starken Läufer sieht. Und das heisst schon gar nicht, dass es ihm recht wäre, wenn jetzt – es sitzen schon vier Kenianer im Bus – auch noch zwei Äthiopier auftauchen würden.

Andererseits fällt auf, dass die Profiläufer überhaupt nicht jammern. Nicht über die dreissigstündige Anreise. Nicht über das südchinesische Wetter – es fällt ein kalter Nieselregen. Nicht über das chinesische Essen – sie wollen nur bei allen Fleischgerichten wissen, von welchem Tier das stammt. Nicht über die Getränkeauswahl – sie möchten nur etwas Zucker in ihren grünen Tee. Nicht über die lange Warterei im Bus. Und dann später, während der Fahrt, nicht über die extrem nationalistischen Lieder: Die Texte können sie zwar nicht verstehen, aber bei der Lautstärke kann kein Mensch schlafen. Und im Hotel angekommen, beklagen sie sich auch nicht darüber, dass sie sich Doppelzimmer teilen müssen.

Nach dem ersten Lauf

«Tri oh nain!», sagt Tony Kippkoech Sigei und zeigt auf seine Uhr. Auf Deutsch: 3:09. Sein bester Kilometer beim ersten Lauf des dreitägigen Leigong Ultramarathons. Er lag vorne, bis ihm bei Kilometer 27 eine Muskelfaser riss. Normalerweise wäre damit das Rennen für ihn zu Ende gewesen. Aber «heute bin ich ins Ziel gehumpelt», sagt Sigei (mit einer Gesamtzeit von 2:40:39 für die 42 Kilometer des ersten Tags). «Ich bete, dass es mir morgen wieder besser geht. Ich muss weiter teilnehmen.» Er blickt durch die beschlagenen Busfenster in den dichten Nebel.

«Meine Schwester ist krank. Sie braucht eine Operation», sagt Sigei auf der Weiterfahrt. «Und einem meiner Cousins habe ich versprochen, etwas für sein Schulgeld beizusteuern. Als ich hörte, dass ich nach China fahren kann, habe ich gesagt: Von dort bringe ich euch Geld mit.» Was arbeitet denn deine Schwester? «Welche? Die, die krank ist?», fragt Sigei zurück. Hat er denn zwei? «Ich habe zehn Geschwister», sagt Sigei lachend.

Mindestens sechs Wochen müssen sich die Kenianer auf einen Wettkampf vorbereiten. Und wo läuft zum Beispiel Erickiprono Kimaiyo als Nächstes? «Weiss ich noch nicht», sagt er und reibt sich die Schienbeine. «Man muss sich ausruhen. Vielleicht zwei Monate, vielleicht drei.» Keiner von ihnen könne mehr als vier Rennen im Jahr laufen, erläutert er. «Manchmal gewinnst du nichts, manchmal den Jackpot.»

«Warum haben die meinen Pass behalten?», fragt Lezan Kipkosgei Kimutai. Er lässt sich auf einen Sitz des Busses fallen, der die Läufer zurück nach Guiyang bringen soll. Gestern Nacht, auf der Preisverleihungsgala, war er der strahlende Gesamtsieger. In der einen Hand einen Blumenstrauss, in der andern eine Papptafel mit der Aufschrift «20 000 $», stand er ganz oben auf dem Podest.

Kurze Gala

«Aber wir haben die Gala nicht zu Ende angesehen und sind nach der Preisverleihung gleich zurück ins Hotel», sagt er. «Xiao Yun von der Agentur, die uns das Einladungsschreiben fürs Visum geschickt hat, wollte, dass wir sofort in den Bus steigen. Er hat gesagt, er würde uns das Preisgeld überweisen.» Kimutai schüttelt den Kopf. «Dabei haben wir ihm gesagt, dass wir das Geld sofort haben wollen.» Denn Kimutai hat schlechte Erfahrungen gemacht: In Israel wollte ihn eine Agentur einmal um 40 000  US-Dollar prellen, und in Brasilien hat ihn eine Agentur sechs Monate auf das Preisgeld warten lassen – bis er den kenianischen Athletenverband einschaltete und der brasilianische Veranstalter der Agentur drohte, sie in Zukunft auszuschliessen.

Mit den Veranstaltern selbst – in diesem Fall dem staatlichen Sportbüro – gibt es dagegen nie Probleme. Angestellte der Lokalregierung hätten noch abends im Hotel das Preisgeld überreicht, erzählt Kimutai. Doch dann habe Xiao die Pässe der Läufer eingesammelt. Weil er die alten Flugtickets zurückgeben und neue buchen müsse. Aber Xiao mit seinem blauen Trainingsanzug, zu dem er einen teuren Hermes-Gürtel trägt, steht draussen und raucht. Der Bus rollt langsam über den Vorplatz des Hotels.

«Was ist mit unseren Pässen?», fragt Kimutai. You Wentao, der auch für die Agentur arbeitet und hinten im Bus sitzt, versichert, die Kenianer sollten sich keine Sorgen machen: Die Pässe würden noch gebraucht und dann separat zum Flughafen gebracht. Aber am Flughafen geht You immer langsamer, um die Kenianer von den ebenfalls zurückreisenden FreizeitläuferInnen zu trennen. Diese weist er darauf hin, dass es hier um Geschäftsgeheimnisse ginge und er sie deswegen bitten müsse, sich zu entfernen. «Was denn für Geschäftsgeheimnisse?», regt sich Kimutai auf, als er das übersetzt bekommt. «Wir haben Xiao doch gestern Abend im Hotel schon seine zwanzig Prozent gegeben.»

Zwanzig Prozent seien zwar viel, aber nicht ungewöhnlich hoch, sagt Kimutai. «Ohne die Agenturen geht es nicht. Welches Land gibt Kenianern ohne Einladungsschreiben und Garantieerklärung ein Visum?», fragt er. «Die fürchten doch alle, dass wir bleiben könnten.»

Es ist nicht so, dass afrikanische LäuferInnen nicht dazu in der Lage wären, sich selbst zu Wettkämpfen anzumelden. Aber staatliche Visabestimmungen zu erfüllen, ist nicht so einfach. Und das nutzen viele private Agenturen, um ihren Gewinnanteil zu erhöhen.

Am Flughafen

Die Pässe sind nicht da. «Das läuft jetzt so», sagt Xiao am Telefon: «In China gibt es eine Einkommenssteuer. Zwanzig Prozent. Die verlangt der Veranstalter nun von uns! Wenn ihr die an mich bezahlt habt, bekommt ihr die Pässe zurück.» Damit hätte er seine Provision glatt verdoppelt.

«Ich habe mir schon gestern gedacht, dass da was nicht stimmt», schimpft Kimutai. Auch You hat inzwischen einen Anruf von Xiao bekommen. Er soll das Geld nehmen, dann kurz wegfahren und mit den Pässen zurückkommen. «Ich lasse meine Tasche mit meinem Personalausweis hier, da werde ich doch nicht wegrennen», versichert er den Kenianern. Warum er aber nicht dazu bereit ist, einen von ihnen mitzunehmen, wenn er sowieso vom Flughafen ein Taxi nehmen muss, das weiss er selbst nicht.

«Lass uns zur Polizei gehen. Jetzt!», sagt Kimutei. Als Xiao erfährt, dass die Kenianer schon am Eingang der kleinen Flughafen-Polizeistation stehen, bekommt You einen zweiten Anruf, läuft nach draussen und kommt kurz darauf mit den Pässen der drei Kenianer zurück.

«Und was ist mit den 150 Dollar, die ich Xiao gestern für das Umbuchen der Flüge gegeben habe», fragt Kimaiyo. «Was geht mich das an? Was geht mich das an? Ich habe kein Geld!», ruft You, schnappt sich seinen Rucksack, dreht sich um und ist verschwunden.

«150 Dollar», sagt Kimaiyo, der 1997 in Berlin 2:07:43 gelaufen ist und hier für seinen vierten Platz nur 5000 US-Dollar bekommen hat (abzüglich 1800 für den Flug, abzüglich 1000 für Xiaos Agentur), und zuckt mit den Achseln. Er macht eine Handbewegung, als werfe er Geldscheine in den Wind.

In Beijing müssen Kimutai und Kimaiyo ihre Flüge selbst umbuchen. Nur Johnstone Kemboi Chebii, der Älteste von ihnen, der am schlechtesten Englisch spricht und der trotz seines zweiten Platzes (10 000 US-Dollar Prämie) noch nicht einmal zu Hause anrufen wollte, weil das «bestimmt sehr teuer ist» – der hat ein E-Ticket, das er nicht umbuchen kann. Er wird die Nacht am Beijinger Flughafen verbringen und am nächsten Morgen versuchen, mit seinem Gewinn irgendwie nach Hause zu kommen.

Langstreckenlaufen in China : Schlechtere Durchschnittszeiten

Jede Menge Freiwillige, die am Gate des Guiyanger Flughafens den anreisenden LäuferInnen das Gepäck abnehmen; Übernachtung in luxuriösen Hotelzimmern; fünf Tage erstklassige Verpflegung: Kein Wunder, gewinnt der dreitägige Lauf der Leigong Mountain 100 Kilometer Ultra Trail Challenge in der südchinesischen Provinz Guizhou immer mehr TeilnehmerInnen. Beim Lauf Ende 2012 waren laut Ergebnisliste 97 Männer und 59 Frauen am Start. Die meisten kamen aus China, es beteiligten sich jedoch auch LäuferInnen aus Kenia, Russland und Westeuropa.

Der erste Lauf (42 Kilometer) führt zuerst lange an dreissigstöckigen Hochhäusern vorbei, deren oberste Stockwerke in den tiefen Regenwolken nicht mehr zu sehen sind. Dann aus der Stadt heraus, vorbei an karstigen Bergkuppen, deren Kalkstein gerade zerkleinert wird, um Platz für den Bau neuer dreissigstöckiger Hochhäuser zu schaffen, und schliesslich durch ein enges Flusstal bergauf. Den zweiten Lauf (38 Kilometer) durch die Dörfer der Miao begleiten zum Teil begeistert jubelnde Schulkinder. Die Hänge links und rechts der Strasse sind fast so steil wie die senkrecht stehenden Propagandatafeln der Regierung. Der dritte Lauf (22 Kilometer) beginnt und endet in Zhenyuan. Hinter dem Ziel bitten viele MittelschülerInnen alle ausländischen LäuferInnen um gemeinsame Fotos und Autogramme.

Langstreckenläufe erfreuen sich in China wachsender Beliebtheit, treffen aber nicht nur auf Zustimmung. Nachdem beim ersten Guangzhou-Marathon im September 2012 zwei Läufer tot zusammenbrachen und weil die Durchschnittszeiten der jungen ChinesInnen schlechter werden, erreichten Eingaben den Nationalen Volkskongress: Man solle Langstreckenläufe entweder ganz streichen oder verstärkt an den Schulen trainieren. Allerdings haben viele Schulen inzwischen ihre Sportplätze in Parkplätze für die LehrerInnen umgewidmet – oder etwa an die BetreiberInnen von Badmintonhallen verkauft.

Unter den LäuferInnen der Leigong Challenge war auch unser Korrespondent Wolf Kantelhardt. Er bewältigte die Strecke in einer Gesamtzeit 
von 9 Stunden, 28 Minuten, 48 Sekunden und landete auf Platz 49.