Kahlschlag beim Erstsprachenunterricht : Eine unersetzliche Verbindung zur fremden Heimat

Nr. 18 –

Viele europäische Länder kämpfen gegen die Wirtschaftskrise – und streichen die Mittel für den Erstsprachenunterricht für MigrantInnenkinder in der Schweiz. Die Politik schaut vorderhand tatenlos zu. Dabei lägen die Vorteile für alle auf der Hand.

Liebe und Zärtlichkeit: Lúcia Sousa will ihren SchülerInnen Schönheit und Notwendigkeit der portugiesischen Muttersprache nahebringen.

Lúcia Sousa seufzt, als ihr Handy an diesem regnerischen Vormittag zum wiederholten Mal klingelt. «Wieder verzweifelte Eltern», sagt sie und legt das Handy auf den Tisch des Cafés im Zentrum von Uster. «Ich werde später zurückrufen.»

Lúcia Sousa unterrichtet im Zürcher Oberland seit sechs Jahren Kinder und Jugendliche mit portugiesischer Muttersprache in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK). Insgesamt 180 SchülerInnen von der zweiten bis zur neunten Klasse besuchen die freiwilligen HSK-Kurse von Sousa, die in Portugal Deutsch und Englisch studiert hat. Sie finden neben dem regulären Unterricht statt, vor allem nachmittags und abends.

Neben jenen in Portugiesisch gibt es in der Schweiz noch in über zwanzig weiteren Sprachen HSK-Kurse, darunter etwa Finnisch, Chinesisch oder Russisch. Organisiert und finanziert werden die Kurse von staatlichen und nichtstaatlichen Trägerschaften der jeweiligen Migrationsgemeinschaft: von Botschaften und Konsulaten, aber auch von Vereinen und Privatpersonen. Das Angebot ist vielfältig, was hingegen fehlt, sind klare Rahmenbedingungen.

Weniger Stellen, tiefere Löhne

Lúcia Sousas Arbeitgeber ist der portugiesische Staat. Dieser hat vor einem Jahr ein massives Sparpaket geschnürt. Wegen der Wirtschaftskrise. Davon blieb auch der Bildungsbereich nicht verschont. Ende November 2011 hat der portugiesische Staat zwanzig BerufskollegInnen von Sousa in der Schweiz entlassen. Mitten im Schuljahr haben auf einen Schlag etwa 3000 SchülerInnen die Möglichkeit verloren, portugiesische HSK-Kurse zu besuchen. Seither rufen immer wieder Eltern bei Lúcia Sousa an, die ihre Kinder zu ihr in den Unterricht schicken wollen. «Ich muss sie leider enttäuschen. Ab einer gewissen Klassengrösse ist die Qualität nicht mehr gewährleistet, zumal das Niveau der einzelnen Schüler sehr unterschiedlich ist. Ich arbeite jetzt schon am oberen Limit», sagt Sousa. Die HSK-Kurse seien für viele portugiesische Kinder und Jugendliche die einzige ausserfamiliäre Verbindung zu ihrem Heimatland, entsprechend hoch sei die Nachfrage.

Der Stellenabbau ist nicht die einzige Schwierigkeit, mit der sich die verbliebenen 130 portugiesischen HSK-LehrerInnen herumschlagen müssen. In den vergangenen vier Jahren ist ihr Lohn um fast vierzig Prozent gesunken – wegen Lohnkürzungen, aber auch wegen des Euro-Kurses. Sousa erhält momentan gerade einmal 3700 Franken im Monat.

Die WerbeträgerInnen Italiens

Stellenabbau und Lohnkürzungen betreffen längst nicht nur portugiesische HSK-Kurse. Francesco Margarone ist im Kanton Bern als italienischer HSK-Lehrer tätig. Wie die meisten seiner BerufskollegInnen ist er von einer privaten Trägerschaft im Stundenlohn angestellt. Nur etwa ein Drittel der italienischen HSK-LehrerInnen in der Schweiz ist vom Aussenministerium angestellt – zu weit besseren Konditionen und bei gleichem Leistungsauftrag. Bisher hat der italienische Staat die privaten Trägerschaften aber zumindest teilweise subventioniert. Doch mittlerweile sind die Beiträge so massiv gesunken, dass viele Trägerschaften Stellen streichen müssen.

«Viele von uns werden ab August 2012 möglicherweise keine Stelle mehr haben», sagt Margarone und kritisiert die staatlichen Kürzungen: «Angesichts der Leistungen, welche die rund vier Millionen Auslanditaliener in der ganzen Welt als Werbeträger Italiens erbracht haben und immer noch erbringen, ist das finanzielle Nichtengagement des italienischen Staats völlig unangebracht und kaum nachvollziehbar – auch unter Berücksichtigung der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Italien aktuell durchlebt.»

Die Folgen der staatlichen Sparmassnahmen tragen zunehmend auch die Eltern der rund 13 000 Kinder und Jugendlichen, die im laufenden Schuljahr italienische HSK-Kurse besuchen. Im Kanton Bern beträgt der Elternbeitrag pro Schulkind aktuell 200 Franken. Und neuerdings will auch der portugiesische Staat eine Gebühr von 120 Euro erheben.

Prekär ist die Situation auch bei den griechischen HSK-Kursen. Waren im Kanton Zürich vor einem Jahr noch neun HSK-LehrerInnen tätig, sind es nun noch drei. Und momentan ist unklar, ob es nach den Sommerferien überhaupt noch griechische HSK-Kurse geben wird.

Es gibt Gründe, weshalb das Schweizer Bildungssystem alarmiert sein sollte, wenn immer mehr HSK-Kurse verschwinden. Noch immer gewährt das Schweizer Bildungssystem Migrantenkindern keine Chancengleichheit. Das zeigt sich etwa dadurch, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund in höher qualifizierenden Schulen unterrepräsentiert, in niedrig qualifizierenden dagegen überrepräsentiert sind.

Vor diesem Hintergrund hat die Linguistin Edina Caprez-Krompak eine Nationalfondsstudie verfasst. Sie ging der Frage nach, wie sich der HSK-Unterricht auf die Sprachkompetenzen in der Erst- und Zweitsprache auswirkt. Das Ergebnis: Auf die Muttersprache – und damit auch auf die allgemeine Sprachkompetenz – ist der Einfluss nachweislich positiv.

Gewerkschaften engagieren sich

Die Leistungen in der Zweitsprache können dagegen «nicht mit dem Effekt des HSK-Unterrichts erklärt werden». Das Fazit der Studie ist dennoch eindeutig: Die Förderung der Erstsprache ist sinnvoll – aus «linguistischen, erziehungswissenschaftlichen, ökonomischen und auch rechtlichen Gründen». Caprez-Krompak fordert deshalb einen Perspektivenwechsel: Die Sprachen der Kinder mit Migrationshintergrund sollen «als integrativer Bestandteil der Mehrsprachigkeitsdidaktik betrachtet sowie differenziert wahrgenommen und gefördert werden».

Die Gewerkschaften unterstützen das Anliegen politisch. Anfang April verschickten sie einen Brief an die zuständige Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK). Darin forderten sie, «die HSK-Kurse für alle bedeutenden Gruppen von Migrantenkindern mittelfristig in die Regelstrukturen zu integrieren». Anders als die Gewerkschaften sieht der EDK-Vorstand offenbar keinen dringenden Handlungsbedarf. Die Antwort auf den Brief lautete, man werde das Thema im Herbst traktandieren.

Johannes Gruber, bei der Gewerkschaft VPOD für Bildungspolitik verantwortlich, weiss, wie schwierig eine realpolitische Umsetzung ist: «Es sind die Kantone, die in der Bildungspolitik den Ton angeben, nicht der Bund. In jedem der 26 Kantone existiert ein anderes Bildungssystem. Manche Kantone – etwa Zürich oder Basel-Stadt – sind fortschrittlich eingestellt und befassen sich mit dem Thema HSK-Kurse. Obwohl sie durchaus wichtige organisatorische Unterstützung leisten, wurde bisher noch nirgends eine Übernahme der Finanzierung der Kurse durch die Kantone erreicht.» Immerhin sei es in den letzten Jahren gelungen, eine Lobby aufzubauen, die das Thema immer wieder auf den Tisch bringt.

Nicht einfach hinnehmen

Lúcia Sousa weiss momentan nicht, ob sie im neuen Schuljahr noch als HSK-Lehrerin arbeiten kann. Der portugiesische Staat hat weitere Entlassungen angekündigt. Bereits nach der ersten Entlassungswelle hat Sousa beschlossen, die Entwicklungen nicht tatenlos hinzunehmen. Sie hat sich einer zivilgesellschaftlichen Bewegung angeschlossen, die sich für den Erhalt der portugiesischen HSK-Kurse in der Schweiz einsetzt. Mitte März hat sie zu einer Demonstration in Bern aufgerufen, um gegen das portugiesische Sparprogramm und dessen Folgen zu protestieren. Mehrere Hundert Menschen folgten dem Aufruf. «Ich habe mir mehr erhofft», sagt Lúcia Sousa. «In der Schweiz leben rund 225 000 Portugiesen, darunter etwa 30 000 schulpflichtige Kinder und Jugendliche. Insofern ist die Unterstützung noch nicht sehr breit. Das ändert sich hoffentlich.»

Angst davor, dass sie wegen ihres Engagements ihren Job verlieren könnte, hat sie nicht. «Die Tendenz ist klar: Der Staat will noch mehr Stellen abbauen. Und ich will mir nicht selbst vorwerfen, nichts dagegen unternommen zu haben.» Sollte sie im August trotz allem ihren Job verlieren, dann will Lúcia Sousa in der Schweiz bleiben. Sie fühlt sich mittlerweile hier zu Hause, ist gut vernetzt und hat einen grossen Freundeskreis aufgebaut. Sie ist zuversichtlich, dass sie im Bildungsbereich eine Arbeit finden würde. Aber noch hofft sie, dass es gar nicht so weit kommen wird. Nicht für sie und auch nicht für ihre 130 BerufskollegInnen.

Das Beispiel Österreich : «In jeder Hinsicht von Vorteil»

In Österreich ist der «muttersprachliche Unterricht» bereits seit 1992 im Regelschulwesen integriert. Das heisst, die Lehrkräfte – momentan sind es über 400 – werden von den österreichischen Schulbehörden ausgewählt, angestellt und bezahlt. Ausserdem gibt es verbindliche Lehrpläne, die Qualitätsstandards definieren.

Rund 32 000 Kinder und Jugendliche besuchen in Österreich gegenwärtig den freiwilligen Erstsprachenunterricht. Das Angebot umfasst insgesamt 23 Sprachen. Türkisch, Bosnisch, Kroatisch und Serbisch decken ungefähr drei Viertel davon ab. Im Unterschied zur Schweiz ist dabei der Anteil an südeuropäischen Sprachen wesentlich geringer. Auch gibt es in Österreich keine bedeutende tamilische Diaspora. In der Schweiz leben hingegen über 40 000 Menschen sri-lankischer Herkunft, mehr als neunzig Prozent davon sind TamilInnen.

In Österreich hat sich gemäss einem Bericht von Elfie Fleck vom Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur allmählich die Einsicht durchgesetzt, dass die Förderung «in jeder Hinsicht – für das Individuum wie auch für die Gesellschaft – von Vorteil ist». Allerdings sei noch immer bei vielen Schulleiterinnen und Lehrern die Auffassung verbreitet, dass Erstsprachenunterricht den raschen Deutscherwerb behindere. Diese Vorbehalte existieren auch in der Schweiz. Die Nationalfondsstudie von Edina Caprez-Krompak (vgl. Haupttext) kommt auch in dieser Hinsicht zu einem eindeutigen Schluss: «Die institutionalisierte Förderung der Erstsprache beeinträchtigt die Entwicklung der Zweitsprache nicht.»

Für die Schweizer Gewerkschaften ist das österreichische Modell ein Vorbild, da es einerseits verbindliche Qualitätsstandards für den Unterricht garantiere und andererseits für angemessene Anstellungsbedingungen sorge.