Leukämie und AKW: «Kein höheres Krebsrisiko» – stimmt das wirklich?

Nr. 28 –

Diese Woche wurde die Canupis-Studie publiziert. Sie wollte erforschen, ob Kinder in der Umgebung von AKWs häufiger an Leukämie erkranken. Methodisch ist die Studie sauber – doch sie berücksichtigt zu wenige Daten.


Der Saal war voll. Das Fernsehen war da und viele JournalistInnen. Es sollte am Dienstag an der Universität Bern eine brisante Frage beantwortet werden: Erkranken Kinder, die in der Nähe eines Atomkraftwerks leben, häufiger an Leukämie?

Noch am selben Tag hiess es im Radio: «Entwarnung – kein Hinweis auf höheres Krebsrisiko um AKWs».

Tatsächlich hat die sogenannte Canupis-Studie kein überraschendes Ergebnis geliefert. Canupis steht für Childhood Cancer and Nuclear Power Plants in Switzerland, Kinderkrebs und AKWs in der Schweiz. Das Berner Universitätsinstitut für Sozial- und Präventivmedizin (ISP) hat die Studie verfasst und die Leukämiefälle der letzten 25 Jahre akribisch untersucht.

Wenn man das Resultat knackig zusammenfassen möchte, kann man sagen: Bei kleinen Kindern, die im Umkreis von fünf Kilometern um die Atomanlagen leben, ist das Leukämierisiko um zwanzig Prozent erhöht.

Schaut man aber die konkreten Zahlen an, wird deutlich, was das Problem der Studie ist: In dem untersuchten Vierteljahrhundert hätten in diesen Wohngebieten – in denen ein Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt – theoretisch 6,8 Kinder an Leukämie erkranken sollen, real waren dann aber 8 Kinder erkrankt. Es geht also um ganz wenige Fälle, da Leukämie zum Glück doch relativ selten auftritt.

2007 sorgte die deutsche Studie «Kinderkrebs um Kernkraftwerke» (KiKK) für Aufruhr: Sie stellte fest, dass Kinder unter fünf Jahren, die im Umkreis von fünf Kilometern eines der sechzehn deutschen Atomkraftwerke leben, ein doppelt so hohes Risiko wie andere Kinder haben, an Leukämie zu erkranken – ihr Leukämierisiko war also um über hundert Prozent erhöht, was statistisch sehr signifikant ist.

Die Studie war breit abgestützt und umfasste einen Zeitraum von 24 Jahren. Doch war die Interpretation der Ergebnisse von Anfang an umstritten, weil die AutorInnen der Studie bei der Publikation verlauten liessen: «Nach dem heutigen Wissensstand kommt Strahlung, die von Kernkraftwerken im Normalbetrieb ausgeht, als Ursache für die beobachtete Risikoerhöhung nicht in Betracht.» Während des Normalbetriebs würde zu wenig Strahlung abgeben, um Leukämie auslösen zu können.

Für AKW-KritikerInnen war dies eine unqualifizierte Interpretation, da die ForscherInnen eigentlich nur feststellen konnten, dass sie nicht wissen, wie die Leukämiehäufung zu erklären ist. Die AKWs vorsorglich von jeder Schuld freizusprechen, war hingegen unwissenschaftlich und politisch begründet.

Zu wenige Fälle

Als Reaktion auf die deutsche KiKK-Studie initiierte die Krebsliga zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) vor drei Jahren die Canupis-Studie. Die AKW-Betreiber Axpo und BKW beteiligten sich mit 200 000 Franken an den Kosten (wobei das Geld ans BAG floss und nicht ans Institut).

Claudio Knüsli, Basler Onkologe und Präsident der atomkritischen ÄrztInnenorganisation IPPNW Schweiz, hatte schon im Dezember 2009 in der WOZ gewarnt, die «Power», also die «statistische Nachweiskraft» der Studie, sei zu gering, weil die Schweiz zu klein sei und es deshalb zu wenig Krankheitsfälle gebe. «Man könnte ebenso gut eine Münze aufwerfen und müsste keine aufwendige Studie machen, die dazu missbraucht werden kann, zu behaupten, es gebe keinen Zusammenhang zwischen Leukämie und Atomkraftwerken», sagte Knüsli damals. Er fürchtete, die Atomlobby werde die Studie ausschlachten, obwohl sie gar nichts aussage.

Matthias Egger, der Leiter des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin, ging an der Pressekonferenz explizit auf Knüslis Kritik der fehlenden Power ein. Egger sagte, sie hätten die statistische Nachweiskraft verbessern können, weil sie auch noch die Kinder aus den Jahren 2008 und 2009 in die Studie einbezogen hätten. Er betonte aber auch mehrmals, die «Beobachtung an kleinen Zahlen führe zu einer grossen statistischen Unsicherheit».

Claudio Knüsli attestiert heute der Canupis-Studie, sie sei methodisch sauber gemacht, sie widerspreche aber auch nicht den Resultaten der deutschen Kinderkrebsstudie. Die «statistische Nachweiskraft» stellt Knüsli jedoch weiterhin infrage: «Es sind eben zu wenig Fälle – nur wenn das Risiko deutlich erhöht wäre, also sich zum Beispiel verdreifacht, lässt sich bei so wenigen Fällen eine statistisch klare Aussage machen. Ein erhöhtes Risiko von fünfzig Prozent liesse sich hingegen nur noch nachweisen, wenn man eine viel grössere Population untersuchen könnte.»

Mehr Fallzahlen hätte es gegeben, wenn man auch den süddeutschen Raum einbezogen hätte. Doch das wurde nicht getan, obwohl gleich an der Grenze zu Deutschland drei Atomkraftwerke stehen – der nördliche Bereich im Fünfkilometerradius ist deutsches Gebiet (Beznau I/II und Leibstadt). Claudia Kuehni, die an der Canupis-Studie mitarbeitete, sagt, sie hätten Süddeutschland gerne berücksichtigt, doch sei es nicht möglich gewesen, ausreichend gute Daten zu bekommen.

Rita Schwarzelühr-Sutter ist verärgert und überzeugt, man hätte die Daten sehr wohl bekommen, wenn man wirklich gewollt hätte. Schwarzelühr-Sutter lebt im Landkreis Waldshut, sitzt für die SPD im Bundestag und beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Leukämiefrage. Als die Canupis-Studie initiiert wurde, hatte sie sich dafür eingesetzt, dass auch Süddeutschland einbezogen wird: «Ich bedaure es sehr, dass man jetzt doch nicht den Mut hatte, grenzüberschreitend zu arbeiten. Nun fehlt bei drei wichtigen Schweizer AKWs der ganze nördliche Halbkreis, und zwar genau in Windrichtung, was das Resultat der Studie doch infrage stellt.»

Gefahr bei Revision

Claudio Knüsli weist auf ein weiteres Problem hin: Canupis erfasst die Kinder erst ab der Geburt. «Man weiss», sagt er, «dass der Embryo respektive das ungeborene Kind extrem empfindlich ist für radioaktive Strahlung.» Bei einem Kind, das an Krebs erkrankt ist, sei eine der zentralen Fragen deshalb die nach dem Wohnort der Mutter während der Schwangerschaft. Dies wurde aber in der Studie nicht berücksichtigt.

Die ARD-Fernsehsendung «Plusminus» brachte im Juni unter dem Titel «Atomkraftwerke: Gefahr bei der Revision» einen Beitrag, der Knüslis Ansatz stützt. Um die Brennelemente auszutauschen, muss der Reaktor einmal im Jahr geöffnet werden. In dieser Zeit entweichen radioaktives Jod, Kohlenstoff-14 oder Tritium, die nicht zurückgehalten werden können. Die ARD erhielt vom Betreiber des AKWs Gundremmingen die Daten, die während der Revision real gemessen wurden – publiziert werden im Normalfall nur tiefere, gemittelte Werte.

Der deutsche Physiker und Atomspezialist Alfred Körblein hat die Daten analysiert und kommt zum Schluss: Die Abgabe von Edelgasen schnellt innerhalb eines Tages um das 160-Fache in die Höhe. Innerhalb weniger Tage entweicht fast ein Drittel des gesamten Jahresausstosses für Edelgase, bei Jod soll es sogar fast die Hälfte sein. Körbleins Kommentar: «Die Emissionen konzentrieren sich jetzt auf ein kurzes Zeitintervall innerhalb des Brennelementewechsels. Und das war der Nachweis, den ich gebraucht habe, um meine These zu belegen, dass es eben die Emissionsspitzen sind, die den Effekt machen, und nicht die mittlere Belastung über das Jahr.»

Hält sich nun eine Schwangere genau in dieser Zeit in der Nähe des AKWs auf, könnte dies die Leukämie beim Embryo auslösen, da dieser eben fünf- bis zehnmal strahlensensibler ist als ein Erwachsener.