Babylon: Ach, du Sündige

Nr. 1 –

Seit zwei Jahrtausenden dient Babylon als Projektionsfläche für Aufstieg und Fall eines Weltreichs. Mythos und Realität vermischen sich dabei bis heute.


2004 hat Patti Smith mit Oliver Ray den Song «Radio Baghdad» geschrieben. Er beschreibt Bagdad und Babylon als Zentrum der Welt, als Stadt der Gelehrsamkeit, des Lichts, in der die Null, die perfekte Zahl, erfunden wurde. Und dann fallen, wie einst bei Jimi Hendrix zu Zeiten des Vietnamkriegs, heulende Gitarren mit «shock and awe» ein, «run, children, run», schreit Smith und schüttelt die Fäuste: «Sie rauben die Wiege der Zivilisation aus.»

Der Song funktioniert als eindrückliches Antikriegslied - und geht darüber hinaus, indem er die Errungenschaften der mesopotamischen Zivilisation um Babylon mit dem westlichen Bild vom Orient konfrontiert. «Ihr möchtet glauben, dass wir nur eine mythische Erzählung sind, ein aufgeblähter Unterleib, der Sindbad und Scheherezade gebar», heisst es, und: «Wir haben die Null geschaffen, aber euch bedeuten wir nichts», wir sind «nur euer arabischer Albtraum».

Babylon bildete historisch den Höhe- und Endpunkt einer langen mesopotamischen Zivilisation von Sumerern, Assyrerinnen und Babyloniern zwischen Euphrat und Tigris, die im 3. Jahrtausend v. Chr. ihren Anfang genommen hatte. Der griechische Historiker Herodot beschrieb im 5. Jahrhundert v. Chr. die Eroberung Babylons durch die Perser 539 v. Chr. und vermerkte dann - womöglich aus eigener Anschauung - die riesige Ausdehnung der Stadt und ihre technischen Wunderwerke. Prägender für unsere heutige Wahrnehmung sind vier Motive aus der Bibel: der Turmbau zu Babel, die babylonische Gefangenschaft des jüdischen Volks, Belsazar und das flammende Menetekel an der Wand, die Hure Babylon als Sinnbild tiefster Gottlosigkeit und Verderbtheit.

Hybris und Verderbnis

Der Turmbau zu Babel wird in der Genesis in neun knappen Versen abgehandelt. Sie beschreiben die Hybris des Turmbaus und den Abfall von Gott. Das konnte immer aktuell ausgelegt werden. Pieter Breughel baut in seinem berühmten Gemälde von 1563 den babylonischen Turm nach dem Modell des Römer Kolosseums in die Höhe und siedelt ihn in seiner Heimatstadt Antwerpen an. 1693 rechnet Athanasius Kircher im Kompendium «Turris Babel» aus, dass der Turm nicht, wie in der Bibel beschrieben, bis zum Mond als der ersten Schale des Himmels reichen konnte, weil er sonst die Erde zum Kippen gebracht hätte. Die Rationalität technischer Berechnungen stösst da an die Bibeltreue und ans kopernikanische Weltbild.

Die Eroberung Jerusalems und die Gefangenschaft des jüdischen Volks in Babylon hatte eine weitere Warnung vor der Überhebung der Macht parat. «Die Mitternacht zog näher schon / in stummer Ruh lag Babylon», lernten wir bei Heinrich Heine, als man noch Balladen auswendig lernte. Belsazar lästert über Jehova, bis die Feuerschrift erscheint, die dem selbst ernannten König den Untergang prophezeit. Und tatsächlich: «Belsazar ward aber in selbiger Nacht / Von seinen Knechten umgebracht» - ein befriedigend schauerliches Resultat, ohne dass damit viel erklärt oder gar gelöst worden wäre.

Eindringlicher noch die neutestamentarische Offenbarung des Johannes: die Hure Babylon auf einem scharlachroten Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern; Frohlocken im Himmel über den Fall Babylons und das verheissene neue Jerusalem. Womit die Überlagerungen und Projektionen beginnen. Schon Johannes meinte mit diesem Babylon die zeitgenössische Weltmacht Rom, und die Reformatoren belegten damit gelegentlich die Papstkirche. Beim radikalen englischen Maler und Dichter William Blake konnte die Hure Babylon verderbte weltliche wie kirchliche Macht bedeuten. Das gilt auch für die Rastafari, wenn sie im Reggaetakt den Untergang des «Babylon-Systems» beschwören.

250 Kisten Ziegelsteine

Jahrhundertelang war das historische Babylon fürs westliche Bewusstsein nicht einmal verortet. Erst 1899 begannen, achtzig Kilometer südlich von Bagdad im heutigen Irak, systematische archäologische Ausgrabungen durch die Deutsche Orient-Gesellschaft unter Robert Koldewey. In der imperialistischen Konkurrenz mit England und Frankreich, die längst ausgedehnte Sammlungen ins British Museum und in den Louvre verschleppt hatten, suchte auch Deutschland seine Beute. Kaiser Wilhelm II. war ein Mäzen der Orient-Gesellschaft, die zeitweise mit antisemitischen Motiven die neu dokumentierte babylonische Zivilisation gegen das angeblich minderwertige Judentum ausspielte.

Dass Babylon später als andere Hochkulturen erforscht wurde, hat mit der vorherrschenden Lehmbauweise zu tun, die nicht so dauerhaft ist wie etwa ägyptische oder griechische Steinmonumente. Immerhin entdeckte Koldewey neben ausgedehnten Fundamenten zahlreiche glasierte Ziegelsteine, die dann in 250 Kisten abtransportiert wurden. Im Vorderasiatischen Museum in Berlin kann man durch die ursprünglich 180 Meter lange Prozessionsstrasse und das neun Meter hohe Ishtar-Tor schreiten, flankiert von majestätischen Löwen, Drachen und Stieren.

Gelegentlich bleibt das überlieferte Wort der letzte Zeuge. Etwa für die hängenden Gärten der Semiramis. Als einziges der sieben Weltwunder der Antike sind sie organisch, kein gebautes Monument; als einziges unter den Weltwundern laut Überlieferung von einer Frau in Auftrag gegeben; und das einzige, dessen realer Ort bis heute nicht überzeugend rekonstruiert worden ist. Es gibt Beschreibungen und Hinweise - etwa eine Keilschriftliste mit Pflanzen -, die von identifizierbaren Zwiebeln und Melonen bis zu wörtlich übersetzten Exotika wie Jagdhundzungenpflanze oder Sklavinnengesässpflanze reichen.

Die babylonische Königin Semiramis selber ist ein faszinierender Mythos. Vermutlich basiert die Figur der Semiramis auf der assyrischen Königin Sammuramat aus dem 9. Jahrhundert v. Chr., die sich als Heerführerin und in der Wahl ihrer Bettpartner männliche Vorrechte aneignete beziehungsweise alte matriarchale Vorrechte verteidigte. Dem westlichen Orientalismus diente sie als hervorragendes Bild einer wollüstigen, männertötenden Despotin. Andererseits werden Sammuramat nicht nur die hängenden Gärten, sondern viele andere babylonische Bauwerke sowie soziale Reformen zugeschrieben, die ihr geradezu einen aufklärerischen Zug verleihen. Eine aufgeklärte Königin im 9. Jahrhundert v. Chr.? Anachronismen lauern in jeder historischen Rekonstruktion.

Menschenrechte und Stundentakt

Das gilt auch für eines der berühmtesten babylonischen Artefakte, den sogenannten Kyros-Zylinder. 1879 gefunden, 1884 entziffert, beschreibt die 23 Zentimeter lange Tonrolle in Keilschrift die Eroberung Babylons durch Kyros II. im Jahre 539 v. Chr. Der Text preist die Wiederherstellung von Frieden und gerechter Herrschaft, die Milde des neuen Herrschers, die erneute Zulassung unterdrückter Götterkulte und die Rückkehr verschleppter Völker in ihre Heimat. Die Bibel hat daraus vor allem die Rückkehr der Juden nach Jerusalem übernommen.

1971 überreichte der persische Schah Reza Pahlevi eine Kopie des Zylinders der Uno, als Dokument der humanen Gesinnung der persischen Dynastie. Die Uno hat sie am Hauptsitz in New York ausgestellt und gelegentlich als erste Charta der Menschenrechte bezeichnet. So wurde die Rechtfertigungsschrift für einen Eroberer zum zweiten Mal politisch instrumentalisiert. Natürlich spricht der Kyros-Zylinder nicht von Menschenrechten, sondern dokumentiert eine pragmatische Machtpolitik, die zuweilen Zugeständnisse zur Herrschaftssicherung einsetzte.

Umgekehrt ist auch die Verdammung Babylons nicht immer widerspruchsfrei. Als sich die afrokaribische Bewegung der Rastafari mit der babylonischen Gefangenschaft des jüdischen Volks identifizierte, hatte das einen sozialen und politischen Sinn. Wenn Bob Marley sang, «Babylon must fall», war die Bedeutung eine emanzipatorische. Auch der zapatistische Subcomandante Marcos hat 2003 nach dem Angriff auf den Irak vom neuen neoliberalen Turm zu Babel gesprochen, der zum Einsturz gebracht werden müsse.

Gelegentlich aber ist das «Babylon-System» bei den Rastafari zum zivilisationskritischen Klischee geworden, steht für seelenlose Grossstädte und mechanische Rationalität. Bei Reggaenachfahren wie den Söhnen Mannheims ist das zum billigen Aufguss verdünnt: «Ich bin sicher wir werden sehen / wie sich die Dinge für immer drehn / Denn die Tage sind gezählt / dann stirbt das Babylon-System.» Gefühlsreligion wird zur Gefühlspolitik. Das trifft sich mit konservativen evangelikalen Strömungen, die gegen Babylon apokalyptisch auf Armageddon und Zion setzen.

Patti Smith hat übrigens unrecht. Die Babylonier kannten die Null nur als einfache Zahl und nicht als Platzhalter im Dezimalsystem. So gebrauchten sie erst die Inder. Andere babylonische Erfindungen begleiten uns dagegen weiterhin, etwa die astrologischen Sternzeichen oder die Unterteilung der Stunde in sechzig Minuten. Auch die Vorstellung vom Sündenbabel schwankt weiter zwischen politischer Imperialismuskritik und moralistischer Verdammung.


Die Ausstellung

«Babylon - Mythos und Realität» ist eine Ausstellung, die das Vorderasiatische Museum Berlin, der Louvre in Paris und das British Museum in London gemeinsam konzipiert haben - mit jeweils eigenen Schwerpunkten. Sie begann im März 2008 in Paris, zog im Sommer nach Berlin und ist jetzt, bis zum 15. März 2009, in London zu sehen.

Iraks Diktator Saddam Hussein hatte sich einst in der Propaganda als Nachfolger der grossen babylonischen Herrscher inszeniert und in der Nähe des antiken Babylon einen Palast gebaut. Nach seinem Sturz errichteten die USA, zum Teil auf den antiken Grabungsstätten, einen Militärstützpunkt mit 2000 Soldaten.

Die Ausstellung im British Museum wagt sich zum Schluss so weit vor, wie es für ein Land möglich ist, das den US-Kriegszug gegen den Irak mitgemacht hat. Bereits 2004 hatte der Direktor des British Museum vor unwiderruflichen Zerstörungen durch die amerikanischen Besatzer gewarnt - seine Kritik wird in einer Videoschau bekräftigt. Und im englischen Katalog heisst es: «Was mit dem historischen Babylon während der Herrschaft von Saddam Hussein geschah, war schlimm, aber was danach passierte, ist unentschuldbar.»