Lohnrunde 2008: «Was wir jetzt nicht holen ...»

Nr. 34 –

Daniel Lampart, Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, spricht über den Lohnherbst, die Teuerung und die AHV-Initiative. Und erklärt, was mit der Wirtschaft los ist.


WOZ: Eine Lohnerhöhung von 4,5 Prozent oder in fixen Frankenbeträgen von durchschnittlich 250 Franken - vor welchem Hintergrund stellen die Gewerkschaften ihre Forderungen?

Daniel Lampart: Im laufenden Jahr wird die Teuerung voraussichtlich 2,6 Prozent betragen. Die Hälfte davon geht aufs Konto des höheren Ölpreises. Diese Teuerung bedeutet einen Kaufkraftverlust für die Leute. Auf ein mittleres Einkommen von 70 000 Franken macht das über 1800 Franken aus oder 150 Franken im Monat. Dieser Verlust muss ausgeglichen werden. Zweitens gibt es seit 2004 einen Aufschwung, und nur in einem Jahr, nämlich 2007, hatten wir eine Reallohnerhöhung von gerade mal 0,9 Prozent. Das, obwohl die Produktivität stark gestiegen ist. Wir haben mehr als zwei Prozent Lohnrückstand, das sind 100 bis 150 Franken pro Monat. Macht zusammen 250 Franken mehr im Monat.

Teuerung greift die Reallöhne an. Insofern haben die Gewerkschaften mit der Inflation zwar ein einleuchtendes Argument. Es besteht aber die Gefahr, dass in Sachen echte Verbesserung weniger zu holen sein wird.

Ich würde nicht sagen, dass wir weniger zu holen haben. Der Aufschwung hat auf Kosten der Lohnabhängigen stattgefunden. Die Arbeitgeber, die Aktionäre wie auch das Topmanagement haben sich Gewinnanteile ausgeschüttet und überproportional profitiert. Wir verlangen, dass der gewachsene Kuchen gerecht, also zu gleichen Anteilen wie früher, verteilt wird.

Warum wollt ihr nicht sogar mehr vom Kuchen als früher?

Im Moment müssen wir lohnmässig die Produktivitätsgewinne aufholen. Wenn wir so weit sind, können wir analysieren, ob die Unternehmer überhöhte Gewinnmargen einfahren: etwa wenn ein Gewinn nicht neu investiert, sondern auf eine Weise ausgeschüttet wird, die arbeitsplatzmässig weniger bringt, als wenn er in die Löhne und damit in die Kaufkraft fliesst.

Kann eine Gewerkschaft für Gewinn- statt Lohnausschüttungen sein? Gibt es eine Verwendung von Gewinn, die volkswirtschaftlich mehr bringt als seine Ausschüttung als Lohn?

Mit einem Gewinn tätigt ein Unternehmen Investitionen und zahlt Steuern. So sichert es Arbeitsplätze in der Schweiz. Investitionen sind in weitem Sinne zu verstehen: Nicht nur der Kauf von Maschinen, sondern auch Forschung und Entwicklung oder die Weiterbildung der Belegschaft. Ein Unternehmen soll Gewinn machen, um ihn produktiv zu reinvestieren.

Doch seit den siebziger Jahren hat eine gigantische Verlagerung stattgefunden: Die Löhne der Mehrheit der Lohnabhängigen stiegen real kaum, die Einkommen der Reichen und die Unternehmensgewinne hingegen massiv.

Gemäss unserer Analyse erzielten die Topmanager in den letzten Jahrzehnten enorme Steigerungen der Einkommen - Lohn kann man das ja nicht mehr nennen. Eine Ursache dafür war, dass sie ihr Honorar vor allem in Form von Optionen oder Aktien erhielten. Das öffnete Tür und Tor für eine beispiellose Selbstbedienungsmentalität. Abgesehen von diesem obersten Segment hat sich die Lohnschere nicht einfach geöffnet, denn wir Gewerkschaften setzten uns für einen Anstieg der unteren Löhne ein. Unsere Mindestlohnkampagne «Keine Löhne unter 3000 Franken» war sehr erfolgreich. Im Gastgewerbe haben wir beispielsweise den tiefsten Mindestlohn innerhalb von zehn Jahren von 2340 auf 3300 Franken angehoben, also um etwa vierzig Prozent. Es stellen sich aber Probleme bei den tatsächlich verfügbaren Einkommen. Es gibt eine Verlagerung weg von direkten Steuern hin zu mehr indirekten Steuern und Gebühren, was bei tiefen Einkommen viel stärker zu Buche schlägt als bei den höheren. In der Lohnfrage, wo die Gewerkschaften unmittelbar aktiv sind, konnten wir erfolgreich Gegensteuer geben. Die bürgerlichen Mehrheiten in den Parlamenten betreiben dann aber in der Steuerpolitik eine Umverteilung von unten nach oben.

In letzter Zeit warnten verschiedene Ökonomen vor einer Lohn-Preis-Spirale, also davor, dass Lohnerhöhungen erhöhte Preise nach sich ziehen würden. Ein Schreckgespenst?

Auf jeden Fall ein Schreckgespenst. Wie gesagt sind die durch Produktivitätszunahme entstandenen Gewinne nicht an die Lohnabhängigen verteilt worden. Die Unternehmen haben ihre Margen stark ausgeweitet und können selbst eine starke Lohnerhöhung schlucken. Zudem produzieren die Schweizer Firmen in der Regel qualitativ hochstehende Produkte und Dienstleistungen. Sie konkurrieren nicht über die Kosten wie die Hersteller von Massenprodukten. Ihre Preise hängen daher kurzfristig nicht von den Kosten, sondern davon ab, wie gross die - meist internationale - Produktnachfrage ist. Und schliesslich profitieren viele Schweizer Unternehmen stark vom höheren Ölpreis. Dieser belastet die Privathaushalte und kaum die Unternehmen, denn Letztere verbrauchen vor allem Strom.

Wer verdient denn am Öl?

Ein Drittel des weltweiten Rohölhandels geht über Genf. Da entstehen riesige Einnahmen: 2007 waren es rund fünf Milliarden, das ist ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Weiter gibt es Industriebetriebe, die vom hohen Ölpreis profitieren - Winterthur ist eine Ölstadt.

Winterthur eine Ölstadt?

Sulzer oder Burkhardt Compression produzieren Pumpen für Ölförderer, ihre Auftragsbestände sind angestiegen. Generell sind die Exporte in die Öl fördernden Länder von 2004 bis 2007 um etwa fünfzig Prozent gewachsen, die Gesamtexporte nur rund dreissig Prozent. Die Uhrenbranche kann mehr Luxusuhren in diese Länder absetzen. Die Baufirmen in der Schweiz profitieren von einer zunehmenden Nachfrage nach Gebäudeisolation. Es werden mehr Wärmepumpen produziert und eingebaut, der öffentliche Verkehr wird vermehrt profitieren.

Hochproduktive Sektoren sind aber stark von der Weltkonjunktur abhängig. Und dort sieht es schlecht aus. In den USA hat die Finanzkrise die Realwirtschaft erreicht.

In den USA hatten viele Leute mit Unterstützung der Regierung ein Haus auf Pump gekauft, in der Hoffnung auf steigende Preise. Nun müssen sie zu tieferen Preisen verkaufen und werden weniger konsumieren. Zudem sind die Banken zurückhaltender in der Kreditvergabe, was sich auf Investitionen und Konsum auswirkt. Entsprechend werden die USA weniger aus der Schweiz importieren, was sich teilweise bereits bemerkbar macht. Die Entwicklung in Europa ist unsicher: Länder, in denen Immobilienspekulation herrschte, wie England und Spanien, haben ein Konjunkturproblem. Deutschland dagegen wird meiner Meinung nach schlechtgeredet. Die von den Unternehmern geäusserten schlechteren Erwartungen waren noch nie ein realistischer Indikator. Wer die aktuelle Geschäftslage betrachtet, sieht, dass es den Unternehmen immer noch gut bis sehr gut geht. Aber auch dort verlangsamt sich das Wachstum. Sowohl Deutschland wie die Schweiz haben Unterbeschäftigung, es gibt kaum eine Überhitzung. In diesen Ländern wird keine Rezession eintreten, weil sich Sektoren verspekuliert hätten. Die negativen Konjunktureinflüsse kommen vielmehr aus dem Ausland.

In einigen Branchen hat uns die Abkühlung der Konjunktur bereits erreicht. Setzt sich dies weiter fort, kann die Arbeitslosigkeit weiter steigen - von den etwa 2,5 Prozent in diesem Jahr auf über 3 Prozent im kommenden. Ein halbes Prozent mehr Arbeitslosigkeit bedeutet etwa 20 000 zusätzliche Menschen ohne Erwerb, also insgesamt etwa 120 000 registrierte Arbeitslose.

Müssen die Lohnforderungen nun zügig durchgesetzt werden, weil zu einem späteren Zeitpunkt die Verhandlungsposition durch eine erhöhte Arbeitslosigkeit geschwächt wird?

Ausschlaggebend für die Lohnforderungen ist die Geschäftslage in den Branchen und in den Unternehmen. Wir sehen, dass es ihnen nach wie vor gut bis sehr gut geht, auf dieser Grundlage wird verhandelt. Bis die Arbeitslosigkeit sich in den Lohnverhandlungen auswirkt und die Unternehmer merken, dass sie wieder einfacher Arbeitskräfte finden, dauert es eine Weile. Aber es ist klar, dass dieses Jahr für die Lohnverhandlungen wichtig ist. Was wir heuer nicht holen, wird nächstes Jahr umso schwieriger zu holen sein.

Wichtig ist, dass die Binnenkonjunktur gestärkt wird. Der private Konsum ist gerade für die personalintensiven Branchen entscheidend, wie etwa fürs Gastgewerbe. Wenn wir jetzt gute Lohnerhöhungen haben, können die Leute mehr kaufen. Das wird der Konjunktur helfen. Die Schweiz ist strukturell in hervorragender Verfassung. Verschlechtert sich die Wirtschaftslage, muss mit einer intervenierenden Geld- und Finanzpolitik gegengesteuert werden - das heisst, Bund und Kantone müssen einspringen oder auch die öffentlichen Betriebe. So wie die SBB, die neues Rollmaterial kaufen, mit dem positiven Nebeneffekt, dass der ökologische Umbau beschleunigt wird.

Apropos ausgleichender Staat: Darum geht es auch bei der AHV-Initiative, die der SGB mit lanciert hat. Wo ist die ökonomisch zu situieren?

Für Personen mit tiefen und mittleren Einkommen ist die AHV eine absolute Discountaltersvorsorge. Die Rente ist begrenzt, im Moment auf etwa 26 500 Franken jährlich, und die Beiträge müssen auf allen Lohneinkommen, egal wie hoch, bezahlt werden. Normale Einkommen erreichen also günstig eine vergleichsweise gute Rente - und zwar viel günstiger als bei einem Privatversicherer. Ich habe mal eine Rechnung angestellt: Wer eine Lehre macht, müsste sein ganzes Erwerbsleben lang jedes Jahr rund 1000 Franken mehr einzahlen, um bei einem Privatversicherer dieselbe Rente zu erzielen. Nun gibt es in den Banken und Versicherungen viele Frühpensionierungen. Diese Gutverdienenden haben hohe Guthaben bei ihrer Pensionskasse und können deshalb früher gehen. Bei vielen anderen reicht es nicht dazu. Die AHV-Initiative ist die Antwort auf diese Ungerechtigkeit: Sie sorgt dafür, dass mehr Leute, die nicht mehr arbeiten können, ein erschwingliches Alterseinkommen erhalten.

Dass die AHV kaum mehr finanzierbar sei, ist ein Lieblingsthema der Bürgerlichen.

Der Bundesrat prognostiziert in Sachen AHV miserabel. Das scheint System zu haben. Jahr für Jahr wurden Milliardendefizite angegeben, während die AHV in Wirklichkeit Überschüsse erzielt hat. Die AHV ist wohl jene Institution, die am meisten umverteilt. Da hat der Bundesrat das Interesse, permanenten finanziellen Druck aufzubauen.

Wir haben ein anderes AHV-Modell erstellt: Selbst mit den gleichen demografischen Vorgaben lässt sich die AHV bis 2030 mit etwas mehr als einem zusätzlichen Beitragsprozent finanzieren. Die Initiative für ein flexibles Rentenalter ab 62 kostet etwa noch 0,3 Mehrwertsteuer- oder Lohnprozente zusätzlich. Wenn man bedenkt, welche Verbesserung das vielen Leuten bringen würde, ist das eine sehr kostengünstige Lösung.

An welchen Ökonominnen und Ökonomen orientiert sich eigentlich der höchste Ökonom der organisierten Lohnabhängigen im Land? Wen lesen Sie mit Interesse?

Schwierig, Ökonomie ist eine stark spezialisierte Wissenschaft. Ich lese zu konkreten Einzelfragen ganz verschiedene Autoren, es sind weniger Bücher als vor allem Artikel. Es lohnt sich auf jeden Fall, den US-Ökonomen Paul Krugman zu lesen. Ebenfalls interessant ist der Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen, der einen hervorragenden Überblick über die Währungssysteme des 20. Jahrhunderts verfasst hat: «Vom Goldstandard zum Euro».

Zum Schluss zurück zu den Lohnverhandlungen. In welchen Branchen sehen Sie die grössten Chancen für die Durchsetzung Ihrer Forderungen?

Der Industrie geht es gut bis sehr gut. Telekommunikation ist eine weitere Branche mit hohen Erträgen. Die haben viel zu verteilen, das sind sicher die Zugpferde in den Verhandlungsrunden.

Kämpferisch hingegen war der Bau.

Der Bau ist auch wichtig. Nur sind dort die Expansionskräfte etwas erlahmt. Wir hatten harte Auseinandersetzungen im Bauhauptgewerbe. Wegen der gestiegenen Teuerung wird es aber zu Nachverhandlungen kommen. Damit ist die Ausgangslage auf dem Bau eine andere. In der Industrie und der Telekommunikation gibt es mehr zu verteilen. Das wird Signalcharakter haben.



«Alles andere ist Lohnsenkung»

Angriffige Worte, stichhaltige Argumente - am Dienstag luden die Gewerkschaften ins Hotel Bern, um die Lohnrunde 2008 zu lancieren. «Es gibt einen grossen Unterschied zu den letzten Jahren», eröffnete Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB: «Die Teuerung hat ein deutlich höheres Ausmass erreicht.» Und schon würden gewisse Arbeitgebervertreter und einige Professoren «vom Hochsitz ihrer fürstlich bezahlten Stellung herab» den Teuerungsausgleich infrage stellen. Rechsteiner: «Der volle Teuerungsausgleich ist die unabdingbare Basis jeder Lohnrunde, die diesen Namen verdient.» Alles andere sei eine Politik der Lohnsenkung.

Andreas Rieger, Ko-Präsident der Unia, kritisierte namentlich Rudolf Stämpfli, den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes. Es sei ein Affront, dass dieser den Teuerungsindex als «willkürlich definierte Grösse» bezeichne. «Dieses Instrument, vergleichbar mit einem Fiebermesser, wurde von den Sozialpartnern gemeinsam ausgehandelt», so Rieger.

Von der Teuerung speziell betroffen seien die unteren und mittleren Einkommen, führte SGB-Chefökonom Daniel Lampart aus. Deshalb fordern die Gewerkschaften nicht nur mehr Lohn in Prozenten - sondern auch in fixen Frankenbeträgen. Diese nützen speziell den tiefen Einkommen - und den Frauen. «Die Frauen haben immer noch über vierzig Prozent weniger Lohneinkommen zur Verfügung als die Männer», so Christine Michel von der Unia.

Neben dem Teuerungsausgleich fordern die Gewerkschaften auch eine Beteiligung an den Produktivitätsfortschritten (vgl. Interview). Die Lohnrunde sei ausschlaggebend für die Konjunktur, sagte Rechsteiner zum Schluss. Der Binnenkonsum spiele in der kommenden Zeit eine Schlüsselrolle. Deshalb: «Steigende Reallöhne nicht für wenige, sondern in der Breite.»

Daniel Lampart

Seit 2007 Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) und Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank sowie der Wettbewerbskommission des Bundes. Seine Dissertation befasste sich mit der Wirtschaftskrise in der Schweiz der neunziger Jahre. Bevor Lampart in das SGB-Sekretariat eintrat, arbeitete er an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich.