Der Strahlenbund: Ein Fünkchen Unruhe

Nr. 42 –

Mit Garetten, Kuhknochen und Liedern gegen Atommüll: Vier junge Weinländer stossen Kunst und Politik nach Bern.

Ganz kurz vor dem Ziel geht es beinahe schief. Wo ist das Zentrum Paul Klee? Auf dem alten Stadtplan von Bern, den Beat Wipf dabeihat, ist es noch nicht eingezeichnet. Der Strahlenbund und seine SympathisantInnen steigen in der Abendsonne auf den letzten Hügel und erreichen den Rand von Ostermundigen. Dort erklärt ihnen eine Frau den Weg. Noch zwanzig Minuten. Die Wandernden atmen auf.

Es ist Sonntagabend. Vor fünf Tagen ist der Strahlenbund aufgebrochen, in Benken im Zürcher Weinland. Dort, wo dereinst der Atommüll der Schweiz endgelagert werden soll, im Opalinuston, der laut der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) die geeignetste geologische Schicht dafür ist. Singend sind sie losgezogen, in die Nacht hinein, mit Garetten, aus denen Kuhknochen ragen. Das Ziel ist die internationale Endlagerungskonferenz im Zentrum Paul Klee. «Und da wollen wir unsere Verantwortung abholen. Die Verantwortung, von der die Atompolitiker so gerne sprechen und die sie nicht wahrnehmen. Wir holen unsere Verantwortung mit den Garetten nun zurück und nehmen sie in Zukunft lieber selbst wahr», schreibt der Strahlenbund in seinem Flugblatt. Neben Beat Wipf gehören Vincent Hofmann, Hansueli Nägeli und Luca Fasnacht zur Gruppe. Alle sind in Benken und Umgebung aufgewachsen.

Fragen Sie nicht

Es begann mit Beat und Vincent. Beide studierten Kunst und arbeiteten oft zusammen. Gemeinsam besuchten sie in Marthalen eine Veranstaltung der Nagra zum geplanten Endlager. Und wurden dort ziemlich wütend: «Wir durften nicht einmal Fragen stellen», erzählt Beat. «Sie gaben uns einfach das Mikrofon nicht.» Wenig später standen seltsame Vogelscheuchen an der Weinlandautobahn. Das meterhohe, hölzerne «trojanische Nagra-Ross» zog durch die Dörfer. Und am Rudolfinger Kürbisfest tauchte eine riesige, kunstvolle Laterne auf, die der Gegend verseuchten Wein prophezeite.

Kunst soll eingreifen, ist Vincent Hofmanns Überzeugung. Die «Kunst in einem geschützten Raum», die er während des Studiums in Zürich erlebte, entspricht ihm nicht. «Mir ist es wichtig, unsere Aktionen künstlerisch weiterzuentwickeln. Ich bin nicht mit allem zufrieden, was wir gemacht haben. Das Trojanische Pferd war ein zu abgelutschtes Symbol, das kurze Zeit später auch die SVP verwendet hat ...»

In der Dämmerung erreicht der Strahlenbund das Zentrum Paul Klee. Der Apéro zur Konferenz, die offiziell International Conference on Geological Repositories (ICGR) heisst, ist bereits im Gang. Als Hansueli auf einen Baum steigt, um die Kuhknochen von den Ästen baumeln zu lassen, wird der Sicherheitsmann hinter der Scheibe unruhig. Bald kommt Markus Fritschi von der Nagra heraus, begleitet von zwei Herren, überfreundlich, er hat bereits mit dem Strahlenbund telefoniert und einen Gratiseintritt für zwei Strahlenbündler angeboten.

Der Kürbis strahlt

Später wird der Strahlenbund seine Zelte aufschlagen vor dem Klee-Glashaus, direkt neben der Autobahn. Vorher singen sie noch «Lustig ist es endzulagern» - «und bei der letzten Strophe», sagt Hansueli, der den Text geschrieben hat, «werden die Weinländer immer ganz aufmerksam.» Dort geht es um mutierte Kühe und verstrahlten Kürbis: «Bauern brauchen wir sowieso nicht, steht alles im Migros als Fertiggericht.»

Die fruchtbare Gegend zwischen Winterthur und Schaffhausen ist eine SVP-Hochburg. Doch hier lebt auch eine aktive Minderheit: gegen Gentechnik engagierte BiobäuerInnen, alternative Jugendliche und EndlagergegnerInnen. Diese haben sich zur Gruppe «klar!» Schweiz zusammengeschlossen. «Klar!»-Kopräsident ist Lucas Vater Jean-Jacques Fasnacht, der frühere «Radioarzt» von DRS 1, der letztes Jahr wegen genau dieses politischen Engagements seine Sendung verlor.

Gar nicht geheuer

«Bei der Nagra heisst es immer, im Weinland sei eine Mehrheit für das Endlager», sagt Beat. «Wer mit den Leuten spricht, merkt aber, dass es auch den Befürwortern unwohl ist. Das lässt sich nicht mit einer Statistik ausdrücken.» Der Strahlenbund will die Fotos und Statements von tausend WeinländerInnen festhalten. Ein aufwendiges Projekt. «Viele haben ein grosses Bedürfnis, über das Thema zu reden», sagt Vincent. Die ersten hundert Bilder und Texte hat die Gruppe schon gesammelt. Und es stimmt: Richtig geheuer scheint das Endlager fast niemandem. Der Bauer mit der Katze auf dem Arm meint, man solle den Atommüll doch besser in Militärbunkern lagern. Die alternative Mutter mit den Windelkindern hat Angst, der Lehrling vor dem Volg macht sich Sorgen um die Landwirtschaft. Nur ganz wenige sagen, sie vertrauten «der Wissenschaft».

Künstlerisch und politisch arbeitet der Strahlenbund mit dem Vorhandenen. Mit den Orten, Menschen und Gegenständen des Weinlandes. Mit einem alten, geflochtenen Umhängekorb, wie er bei der Obsternte verwendet wird. Mit den Kuhknochen, den Dorffesten und der Autobahn. Und mit Emotionen: «Wir nehmen diese Angst auf, die wir bei den Leuten spüren», sagt Beat. «Es sollen sich nicht nur jene zum Endlager äussern dürfen, die Physik studiert haben.» Auffallend ist die Sorgfalt der vier Aktivisten. Sorgfältig bereiten sie ihre Aktionen vor, sorgfältig diskutieren sie miteinander. Auch scheinbaren Details schenken sie Beachtung. Sie sind nicht fixiert auf ein Ziel; sie schauen sehr sorgfältig auf den Weg.

Am Montagmorgen stehen die Strahlenbündler nicht wie geplant vor dem Eingang des Glashauses. Sondern bei der Busendstation, die nach Paul Klee «Undo-Endo-Platz» heisst. Beim Aufstehen seien sie von PolizistInnen mit Schildern und Gummischrotgewehren umstellt und vom Gelände verwiesen worden, erzählen sie. Kein Fünkchen Unruhe zulassen ist offenbar nach den «Krawallen von Bern» die Devise. Markus Fritschi von der Nagra ist das etwas peinlich. Dafür verschafft er zwei Strahlenbündlern ein Privatgespräch mit dem am Kongress anwesenden Moritz Leuenberger. Dabei habe ihnen ein Sicherheitsmann die Anweisung gegeben, die Arme vom Körper wegzuhalten, die Hände gespreizt - und ja nicht in den Hosentaschen!, erzählen Luca und Vincent später.

Die Reste verbrennen

Später kommt Fritschi wieder, schaut enthusiastisch auf die Protestliedblätter, als wolle er gleich mitsingen, beteuert immer wieder, wie toll er den Protest des Strahlenbundes finde - «es ist doch schön, wenn es ein bisschen bunt ist» -, und setzt dann zu einer langen Rede an über Endlagerung als gesellschaftliche Aufgabe. «Zuerst aussteigen aus der Atomenergie, dann können wir wieder über Entsorgung reden», sagt Luca, aber Fritschi betont, man müsse es getrennt anschauen. Das sagt die Nagra, das sagt auch Leuenberger in seiner Eröffnungsrede. Es ist ein seltsames Bild, der Nagra-Funktionär mit seinem schwarzen Anzug und den polierten Schuhen neben den weit Gewanderten mit ihren Faserpelzen, Wanderschuhen und Wollmützen. Sie kommen nicht an gegen seine geschliffene Rhetorik. Dafür sehen sie ziemlich hartnäckig aus. Als könnten sie noch sehr weit gehen. Zu Fuss.

Der Strahlenbund sammelt keine Erinnerungsstücke: Vor dem Planen einer neuen Aktion wird das Material der alten zerstört. Die prächtige Laterne vom Kürbisfest landete im Feuer, Kopf und Schwanz des Trojanischen Pferdes ebenfalls. «Immer, wenn wir etwas verbrennen, entsteht etwas Neues», sagt Vincent. Zuerst wollten sie das Pferd den Rhein hinunterlassen. In Eglisau, wo das nächste Wehr ist, hätte es sicher für Verwunderung gesorgt. Und die Garetten? Die Räder abmontieren, mit Kerzen füllen und auch den Rhein hinunter, war einmal eine Idee. Vielleicht werden sie sie auch an GärtnerInnen verschenken.

Die Knochen wurden bereits beschlagnahmt.