Britannien: Thatchers zweiter Enkel

Nr. 25 –

Ab nächster Woche soll alles besser werden. Gordon Brown wird Regierungschef und übernimmt den Vorsitz der Labour-Partei. Aber kann er die Handschellen abstreifen, die er sich selber verpasst hat?

Noch ist er nicht dort, wo er seit über einem Jahrzehnt hin will, und schon hageln von allen Seiten Forderungen auf ihn ein. Gordon Brown, der kommende Mann in Downing Street 10, müsse - so verlangte beispielsweise die mittlerweile grösste britische Gewerkschaft, Unite, an ihrem Kongress am Montag - bei einer Kabinettsumbildung die Gesundheitsministerin Patricia Hewitt feuern. Hewitt sei für das Desaster der Teilprivatisierung des staatlichen Gesundheitswesens verantwortlich, sagte Derek Simpson, Ko-Chef von Unite. Über 55 Milliarden Franken wolle sie in den nächsten Jahrzehnten «privaten Profiteuren» zukommen lassen, die im National Health Service eigentlich nichts verloren haben.

Alle reklamieren

Die britische Antikriegsbewegung ist ebenfalls längst vorstellig geworden: Brown solle den Zapatero machen und wie der spanische Ministerpräsident alle britischen Truppen aus dem Irak zurückziehen, fordert die Stop-War-Coalition - und hat zu einer Grossdemonstration in Manchester aufgerufen. Dort wird am Sonntag an einem ausserordentlichen Labour-Parteitag Brown zum neuen Chef gekürt.

Auch die wenigen, noch in den Wahlkreisen aktiven Labourmitglieder meldeten sich zu Wort. Sie erwarten von Brown einen Kurswechsel, mehr innerparteiliche Demokratie und die Anerkennung von Parteitagsbeschlüssen (die der bisherige Labour-Vorsitzende Tony Blair stets ignorierte). Eine Partei, die nur auf die Medien schiele, könne nicht überleben, sagen sie. Und verweisen darauf, dass Labour bei der englischen Kommunalwahl Anfang Mai in manchen Wahlkreisen nicht einmal mehr genug KandidatInnen gefunden habe, die ihren Kopf für Blairs Politik hinhalten wollten. Die Partei hat in den letzten Jahren weit über die Hälfte ihrer Mitglieder verloren.

Bürgerrechtsorganisationen reklamieren ebenfalls. Seit Labours Wahlsieg im Jahre 1997 seien die Menschen- und Bürgerrechte weitgehend ausgehöhlt worden: Asylsuchende würden systematisch drangsaliert, teilweise jahrelang eingesperrt und in Folterstaaten deportiert. Britannien sei mit über vier Millionen Videokameras im öffentlichen Raum zu einem gigantischen Überwachungsstaat verkommen, in dem die Unschuldsvermutung nicht mehr gelte und Verdächtige ohne Gerichtsurteil unbegrenzt festgehalten werden könnten. Das müsse aufhören.

Auch UmweltschützerInnen reden mit: Britannien sei trotz der Deindustrialisierung - die verarbeitende Industrie spielt kaum noch eine Rolle - weit davon entfernt, die bescheidenen Ziele des Kioto-Protokolls zu erfüllen. In fünf der letzten zehn Jahre seit Labours Regierungsantritt habe die Emission der Treibhausgase zugenommen - und noch immer weigere sich London, den CO2-Ausstoss des Flugverkehrs in seine Berechnungen einzubeziehen.

Die Erwartungen an den künftigen Premierminister, der am Mittwoch nächster Woche Tony Blair als Regierungschef ablöst, sind also gross. Aber will Gordon Brown sie erfüllen? Und kann er den «Kurswechsel», von dem er vor kurzem sprach, überhaupt vollziehen?

Labour-Stallgeruch

In den vergangenen Wochen ist viel über die Unterschiede zwischen ihm und seinem Vorgänger geschrieben worden. Hier der talentierte Kommunikator Blair, ein gewandter Redner von beachtlicher Überzeugungskraft - dort der eher dröge, manchmal arrogant wirkende, detailversessene und rechthaberische Brown (als wäre Blair, der ohne die Zustimmung des Parlaments britische Truppen in Kriege schickte, weniger autoritär gewesen). Hier der dynamische, modernisierungsbesessene, scheinbar undogmatische Blair, den man aus kontinentaleuropäischer Sicht eher mit stramm rechten Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder, besser aber noch mit ChristdemokratInnen wie Helmut Kohl, José María Aznar oder Angela Merkel vergleichen könnte. Und dort der Schotte Brown, dem der Labour-Stallgeruch anhaftet, weil er hin und wieder für mehr Investitionen im öffentlichen Bereich plädiert.

Manipulation der Öffentlichkeit

Aber stimmt diese Unterscheidung? Hatte nicht Brown als zweitwichtigster Mann im Kabinett in den letzten zehn Jahren alles mitgetragen, mitforciert oder zumindest durch sein Schweigen akzeptiert?

¤ Brown hätte durch ein öffentlich geäussertes Veto Blairs Beschluss für die britische Beteiligung am Irakkrieg blockieren können. Er will auch jetzt die Truppen nicht abziehen. Scheut er die Konfrontation mit Washington? Hofft er immer noch, dass Britannien die Kontrolle über irakische Ölfelder gewinnt? Oder verfolgt er geostrategische Ziele, um Britanniens Rolle im Kreis der mächtigsten Staaten zu sichern und den Interessen globaler Konzerne zu dienen? 2003 hatte er die Chance gehabt, den Krieg zu verhindern - und nicht genutzt.

¤ Für die Annahme, dass Brown um Britanniens imperiale Rolle bangt und sich den Interessen grosser Rüstungskonzerne nicht widersetzt, spricht auch die Entschlossenheit, mit der er sich für die Modernisierung für die britische Atom-U-Boot-Flotte einsetzt. Sie kostet den Staat in den nächsten 25 Jahren rund sechzig Milliarden Franken.

¤ Brown ist seit zehn Jahren für die Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständig. Er hat unter anderem dafür gesorgt, dass Britannien nicht der Eurozone beitrat (mit dem Argument, dass die britische Währung unabhängig bleiben müsse). Andererseits hat er, und das war 1997 seine erste Amtshandlung gewesen, die Kontrolle über die Währungspolitik der Bank of England, also einer Marktinstanz, übergeben. Die Folge: Der Finanzkapitalismus bekam freie Hand, einen industriellen Sektor gibt es fast nicht mehr.

¤ Brown singt wie Blair seit Jahren das Lied von der freien Marktwirtschaft, die alles regelt, aber dann doch nicht so frei sein darf. So hat er beispielsweise stets die strikten Antigewerkschaftsgesetze verteidigt, die einst Margaret Thatcher den Trade Unions verpasste. Nirgendwo sonst in Westeuropa sind die Gewerkschaften in ein so enges Korsett gepresst und so rechtlos wie im Vereinigten Königreich. Nur in einer Hinsicht ist das Duo Blair-Brown den Organisationen der Beschäftigten entgegengekommen: Es führte den gesetzlichen Mindestlohn ein.

¤ Auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen sind sich Blair und Brown - trotz ihrer Rivalität - weitgehend einig. Beide vertreten die Auffassung, dass nur eine Politik zugunsten der eher konservativen Mittelschicht Labour eine parlamentarische Mehrheit sichern kann. Ausserdem halten sie an einer strikten Kontrolle über Labour fest, in der Meinung, nur so die Rückkehr der einst basisorientierten Partei zu den alten Werten der ArbeiterInnenbewegung verhindern zu können. Zudem ist ihnen die Manipulation der Öffentlichkeit über sogenannte Spin Doctors, die alle Nachrichten in ihrem Sinn drehen, wichtiger als jede öffentliche Debatte, die man vielleicht nicht gar so einfach kontrollieren kann.

¤ So nahm Brown auch hin, dass Blair im letzten Sommer nach Kalifornien flog, um dort den News-ManagerInnen des Medienmagnaten Rupert Murdoch seine Referenz zu erweisen. Murdochs britische Boulevardblätter «Sun» und «News of the World» (aber auch dessen eher seriöse Zeitungen «Times», «Sunday Times» und Murdochs Satelliten-TV Sky) haben die Labour-Politik der letzten zehn Jahre mehr beeinflusst als sämtliche Gewerkschaftskongresse, Antikriegskundgebungen und Demonstrationen der durch die Terrorismushysterie marginalisierten muslimischen Bevölkerung zusammen genommen. Die Themensetzung von Murdochs gnadenlosen Law-and-Order-Medien lässt sich auch an den völlig überfüllten Gefängnissen ablesen, in denen derzeit über 80 000 Häftlinge sitzen - unter Labour werden prozentual weit mehr Menschen weggesperrt als sonst irgendwo in Westeuropa, und das, obwohl die Zahl der Delikte seit Jahren abnimmt.

Die Verantwortung für all diese Zustände und Entwicklungen wollte Brown in den letzten Wochen hinter sich lassen, als er auf einer «Listen and learn»-Tournee durch Britannien zog: Er werde künftig mehr zuhören und dazulernen, versicherte er landauf, landab, die Ansichten der Labour-Basis stärker berücksichtigen und etwa mehr Meinungsumfragen veranstalten. Doch so recht will ihm das Bild vom neuen Gordon Brown nicht gelingen. Denn er hält weiterhin an seinen politischen und ideologischen Grundsätzen fest.

Mit der Knute gegen Wurstigkeit

Dazu gehört beispielsweise die Auffassung, dass die Privatwirtschaft in jeder Hinsicht effizienter sei als der Staat. Mit dieser von Margaret Thatcher verkörperten Ideologie im Kopf haben Blair und Brown öffentliche Einrichtungen privatisiert, an die sich selbst die konservative Premierministerin in den achtziger Jahren nicht gewagt hätte. Ausschlaggebend dafür sind nicht nur wahltaktische Überlegungen (Einbindung der Mittelschicht in das Projekt New Labour), sondern auch ein grosses Misstrauen den Menschen gegenüber. Wie Thatcher sind auch Blair und Brown und ihre in Führungspositionen gehievten AnhängerInnen fest davon überzeugt, dass niemand gerne arbeitet. Dass selbst in Sozialbereichen wie dem Gesundheitswesen, dem Fürsorgedienst, dem Bildungssystem - die eine hohe Identifikation erfordern - auf die Beschäftigten so lange kein Verlass ist, wie sie im Sold des Service public stehen. Dass alle nur miserable Leistungen liefern und ihre Arbeitszeit am liebsten im nächsten Pub verbringen würden. Dass angesichts dieser angeblichen Trägheit und Wurstigkeit des Menschen die Knute einer Marktwirtschaft her müsse, die Löhne kürzt, Unbotmässigkeiten sofort bestraft und keinen Kündigungsschutz kennt.

Nur dieser Ansatz erklärt, weshalb Brown bis heute sein vielfach gescheitertes Konzept der Privaten Finanzierungsinitiative (PFI) verteidigt und fortsetzen will. Brown hatte gleich zu Beginn seiner Amtszeit als Schatzkanzler begeistert diese Idee aufgegriffen, die von den Konservativen unter Thatcher und John Major entwickelt worden war: Der Staat überlässt grosse Bauprojekte (Krankenhäuser, Gefängnisse, Schulen, Strassen, Brücken, Bahnlinien) Finanzinvestoren, die auf eigene Rechnung das Projekt realisieren, unterhalten und warten und dafür vom Staat über eine vertraglich festgelegte Frist (meist dreissig Jahre) Miete kassieren. Das entlastet kurzfristig den Staatshaushalt - die Investitionskosten trägt ja das private Kapital.

Langfristig aber kommt dieses, mittlerweile in Europa vielfach kopierte Verfahren, die SteuerzahlerInnen teuer zu stehen. Der vereinbarte Mietzins übersteigt in der Regel um ein Mehrfaches die Investitions- und Wartungskosten. Und nicht nur das. Das «effiziente» Privatkapital lieferte schludrig hingestellte Bauten, sparte bei Spitälern Betten, Operationssäle und Leichenkammern ein, vergass in Schulen Klassenzimmer und senkte überall die Löhne und das Qualifikationsniveau der Beschäftigten. So gibt es in Britannien kaum noch ein Krankenhaus, dessen Röntgenabteilung, Reinigungsequipen und Fahrdienste nach allgemein anerkannten, öffentlichen Standards operieren.

Alle nur noch Kunden

Um diese absehbaren Defizite auszubügeln, lancierten Blair und Brown einen allgemeinen Wettbewerb zwischen den öffentlichen Institutionen. Die «Kunden», wie die BürgerInnen seit einiger Zeit genannt werden, sollen zwischen Kindergärten, Schulen und Spitälern wählen dürfen, die «leistungsschwachen» Einrichtungen werden geschlossen. Mit diesem Marktprinzip in eigentlich marktuntauglichen Bereichen rechtfertigt die Labourspitze einen fulminanten Abbau des Sozialstaats, gegen den Gewerkschaften, Fachverbände, PatientInnenorganisationen und Elternvereinigungen seit Jahren Sturm laufen.

Für all das ist Brown verantwortlich. Seine PFI-Strategie hat mittlerweile ein Gesamtvolumen von umgerechnet rund 300 Milliarden Franken erreicht. Er - und nicht Blair - hat gegen den heftigen Widerstand der Bevölkerung und des Bürgermeisters Ken Livingstone die Privatisierung der Londoner U-Bahn durchgesetzt. Auf seine Kappe geht auch, dass Beraterfirmen vor der Unterhauswahl 2005 alle Banker, Rechtsanwältinnen und IT-Unternehmen aufriefen, für Labour zu stimmen. Ihr Argument: Die Konservativen würden nur privatisieren, also für einen einmaligen Geldregen sorgen. Unter Labour aber flössen über Jahrzehnte hinweg weitaus mehr öffentliche Gelder in private Kassen.

Am Tag nach Blairs und Browns grossem Wahlsieg 1997 atmete die Finanzwelt tief durch: Labour hätte auch mit einem «weitaus antikapitalistischeren Programm gewonnen», schrieb damals der Chefkommentator der «Financial Times», die britische Öffentlichkeit sei auch nach sechzehn Jahren Thatcherismus «in ihrer Haltung hoffnungslos kollektivistisch». Das gilt in vielen Bereichen der britischen Gesellschaft noch heute - auch nach 27 Jahren Thatcherismus. Denn unter Blair und Brown (da sind alle seriösen SozialexpertInnen einer Meinung) wurde die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den Working Poor und den wohlhabenderen Schichten, zwischen den über drei Millionen Arbeitslosen und den Finanzgesellschaften auf der Suche nach dem schnellen Geld immer grösser. Und das nicht trotz, sondern wegen Gordon Brown.